Orphanisierung oder der große Reibach der Pharmaindustrie

Vie­le gesetz­li­che Anstren­gun­gen sol­len die Kos­ten­ex­plo­si­on bei Medi­ka­men­ten stop­pen. Die­se Hoff­nung ist aber – beson­ders bei den super­teu­ren, neu­en Medi­ka­men­ten – nicht in Erfül­lung gegan­gen. Bei die­sen wer­den heu­te schnell mal jähr­li­che Behand­lungs­kos­ten von 100.000 Euro pro Pati­ent erreicht und überschritten.

Ein Grund ist die soge­nann­te „Orpha­ni­sie­rung“. Das eng­li­sche Wort „orphan“ bezeich­net ein Wai­sen­kind, „Orphan-Arz­nei­mit­tel“ sind eigent­lich Arz­nei­mit­tel für sel­te­ne Krank­hei­ten (-> Wiki­pe­dia). Sol­che Arz­nei­mit­tel genie­ßen beson­de­re finan­zi­el­le För­de­rung durch den Staat, kön­nen ver­ein­facht oder ver­bil­ligt zuge­las­sen wer­den und erfah­ren beson­de­ren Ver­mark­tungs­schutz. Klar, sonst wür­den sofort Nach­ah­mer kom­men und ohne Eigen­be­tei­li­gung mit­kas­sie­ren. Und: Ohne die­se beson­de­ren staat­li­chen Zuwen­dun­gen wür­de kein Unter­neh­men über­haupt noch Arz­nei­mit­tel für klei­ne Pati­en­ten­grup­pen mit viel­leicht nur ein paar hun­dert Pati­en­ten welt­weit ent­wi­ckeln und ver­mark­ten – es lohnt sich für die Aktio­nä­re ein­fach nicht!

Das Mau­se­loch der orphan-Arz­nei­mit­tel-Zulas­sung haben jetzt die gro­ßen Che­mie- und Phar­ma­gi­gan­ten für sich ent­deckt, vor allem bei neu­en Krebs­mit­teln. Die­se wer­den seit weni­gen Jah­ren auf immer klei­ne­re Pati­en­ten­grup­pen zuge­schnit­ten („Stra­ti­fi­zie­rung“), bekom­men dann den begehr­ten orphan-Arz­nei­mit­tel-Sta­tus mit Schnell­zu­las­sung und Bestand­schutz und sind zudem von den seit 2011 gel­ten­den stren­gen Preis­fest­le­gungs-Ver­fah­ren für patent­ge­schütz­te Arz­nei­mit­tel aus­ge­nom­men („frü­he Nut­zen­be­wer­tung“). Mit staat­li­cher Hil­fe von allen preis­re­gu­lie­ren­den Mecha­nis­men aus­ge­nom­men, läuft jetzt die Geld­druck­ma­schi­ne bei Pfi­zer, Roche, Merck, Sano­fi, Nov­ar­tis und ande­ren heiß. In vie­len Fäl­len wird dann nach eini­gen Jah­ren der Anwen­dungs­be­reich auf ande­re Erkran­kun­gen mit vie­len Pati­en­ten erwei­tert und das Mega-Geschäft geht weiter.

Das erklärt den Widerstand gegen die Komplementär- und Alternativmedizin

Bedenkt man im Ver­gleich dazu den Preis einer Packung eines ein­zi­gen JSO-Bicom­plex-Arz­nei­mit­tels, zum Bei­spiel JSO Bicom­plex Nr. 16 (→ Magen­mit­tel 1, unter 10 Euro), und des­sen Tages­the­ra­pie­kos­ten (Cent-Beträ­ge) ver­steht man, war­um Alter­na­tiv- und Kom­ple­men­tär­me­di­zin soviel Ableh­nung und Ver­fol­gung bestimm­ter Krei­se erfährt. Nicht weil sie nicht funk­tio­niert (das kön­nen die Anwen­de­rIn­nen ja wohl selbst ent­schei­den) oder weil das Kon­zept dahin­ter so unwis­sen­schaft­lich ist (zum Bei­spiel Ayurveda)!

Nein, ein­fach nur des­we­gen, weil sie so bil­lig ist. Und damit das Modell maxi­ma­ler Wert­schöp­fung um jeden Preis im Phar­ma­markt grund­sätz­lich in Fra­ge stellt. Denn die­se Fra­ge tut wirk­lich weh: Brau­chen wir eine der­ar­tig teu­re Medi­zin wirk­lich, um gesund und glück­lich zu leben? Was ist, wenn wie sie nicht bräuch­ten (wor­auf immer häu­fi­ger wis­sen­schaft­li­che Stu­di­en zum tat­säch­li­chen Pati­en­ten-Nut­zen von High­tech-Medi­zin hin­wei­sen)? Was ist, wenn Gesund­heit vor allem durch gesun­de Lebens­ver­hält­nis­se, eine men­schen­ge­rech­te Welt, eine gesun­de Ernäh­rung oder einen lie­be­vol­le­ren Umgang der Men­schen mit­ein­an­der ent­steht. Und nicht als mil­li­ar­den­schwe­res „Pro­dukt“ eines vor allem pro­fit­ori­en­tier­ten Gesund­heits-Indus­trie-Kom­ple­xes („Ware Gesund­heit“)? Mythos Orphanisierung

Autor
• Rai­ner H. Buben­zer, Gesund­heits­be­ra­ter, Ber­lin, Mai 2015.