Der Lebenswecker mit einem Ersatz-Nadelkopf
Der deutsche Lehrer, Erfinder, Mechaniker und Medizingeräte-Hersteller Carl Baunscheidt erfand im 19. Jahrhundert ein mechanisches Nadelungsgerät. Der sogenannte Lebenswecker wurde zu einem Verkaufsschlager. Denn medizinische Laien nutzten es gemeinsam mit einem hautreizenden Öl zur erfolgreichen Selbstbehandlung verschiedener Erkrankungen. Das Baunscheidt-Verfahren wurde später die “Deutsche Akupunktur” genannt. Es hat heute als Selbstbehandlungs-Verfahren keine Bedeutung mehr – was sich in Zeiten knapper werdender Ressourcen im Gesundheitswesen jedoch wieder ändern könnte.
Zwei der größten Studien, die je zur Wirksamkeit der Akupunktur durchgeführt worden sind (ART=Acupuncture Randomized Trials, GERAC=German Acupuncture trials, jeweils Deutschland) zeigen, dass “Akupunktur frei von spezifischen Effekten ist”, wie einer der renommiertesten Komplementärmedizin-Forscher Europas, Prof. Dr. Dr. Edzard Ernst, Exeter/Großbritannien, kritisch zusammenfasst [1]. Viel erstaunlicher aber: Beide Studien zeigen, dass eine unspezifische Nadelung der Haut (also nicht in spezifische Akupunkturpunkte hinein) genauso gut Rückenschmerzen oder Migräne lindern kann wie punktspezifische Akupunktur. Wichtig: Beide Nadelungen haben bessere Effekte als die jeweilige fachärztliche Standardtherapie. Vor der intellektuellen Herausforderung dieser Forschungsergebnisse haben die im deutschen “Gemeinsamen Bundesausschuss” in Berlin über Wirksamkeit und Erstattungsfähigkeit beratenden Experten beindruckende Kapriolen geschlagen: Deutsche Krankenkassen müssen jetzt unlogischerweise die Akupunktur bei Rückenschmerzen bezahlen, nicht aber bei Migräne. Und dies auch nur dann, wenn ein Behandler nachweislich Akupunktur anwendet (Zusatzqualifikation Akupunktur kann in wenigen (Wochenend-)Kursen erworben werden). Eine unspezifische Nadelung – die sich ja wissenschaftlich ebenfalls als wirksam herausgestellt hat – wird weder bei Migräne noch bei Rückenschmerzen bezahlt.
Behandlung über Hautreizung
Carl Baunscheidt (1809–1873) dem Erfinder des Verfahrens, hätte das Ergebnis der ART- und GERAC-Studien sicherlich gefallen. Schließlich bestätigen sie wissenschaftlich, was viele begeisterte Anhänger seines Verfahrens seit dem 19. Jahrhundert an praktischen Therapie-Erfahrungen zusammengetragen haben: Durch Nadelung von Hautarealen – auch und vor allem in der Selbstbehandlung – und dem anschließenden Auftragen eines stark hautreizenden Öls kann eine Vielzahl von Erkrankungs-Beschwerden verbessert werden. Mit der Erfindung und Anwendung seines mechanischen Nadelungsgeräts stand er in einer langen therapeutischen Tradition. So versuchten schon sibirische Schamanen, afrikanische Heilkundige oder südamerikanische Indianer seit langem Krankheiten über Reizung der Haut zu behandeln. Bekannte Beispiele sind das Setzen von Schröpfköpfen, das Einritzen der Haut oder Setzen von Brandmalen (Narbensetzung = “Scarifizierung”), die Hitzeanwendungen (z. B. die Moxibustion) oder letztlich auch Akupunktur und Akupressur.
Heilkundige vergangener Zeiten behandelten ihre Patienten mit überlieferten Verfahren, die bis ins Mittelalter hinein, vornehmlich auf Erfahrung, Beobachtung und in Europa vor allem auf den philosophischen und Heil-Traditionen des klassischen Griechenlands beruhten. Erst in der Neuzeit kam es bei uns durch technologische Entwicklungen, das Eröffnen und Untersuchen menschlicher Körper (bis zur Renaissance aus religiösen Gründen verboten) oder – grundsätzlich – durch ein, die modernen Wissenschaften begründendes Widerspruchs- und Neugierverhalten zu neuartigen Erkenntnissen über Organe und ihre möglichen Funktionen.
Headsche Zonen
Mit dem wachsenden Wissen über Anatomie, Physiologie oder Krankheitslehre konnten immer wieder auch Erfahrungen traditioneller Medizinschulen bestätigt werden. So beobachtete der englische Neurologe Sir Henry Head (1861–1949), wie sich Schmerzzustände von inneren Organen auf genau abgrenzbare Hautareale übertrugen und sich dort als schmerzhafte Bereiche widerspiegelten. Head vermutete bestehende Nerven-Verbindungen, die reflektorisch eine Funktionsstörung anzeigen könnten. Seine Vermutungen bestätigten sich zunehmend. Zahlreiche der damals (wieder) entdeckten reflektorischen Hautareale wurden ihm zu Ehren “Headsche Zonen” genannt. Auch moderne Ärzte kennen noch einige wenige dieser Zonen und überprüfen ihre Schmerzhaftigkeit bei zur Diagnostik bestimmter Akut-Erkrankungen: Am bekanntesten ist der “McBurney-Punkt”, der – etwa in der Mitte der Linie von Bauchnabel und rechtem vorderen Darmbeinstachel gelegen -, einen entzündeten Blinddarm-Fortsatz anzeigen kann.
Besonders im deutschen Sprachraum erweckten diese meist über das zentrale Nervensystem erfolgenden “Verschaltungen” von Haut und inneren Organen besonderes Interesse. Zunächst wurde von Praktikern mit sensibilisiertem ärztlichen Blick “die Körperdecke als Ort der Diagnostik und Therapie innerer Krankheiten” (z. B. Harald Mozer, Brennpunkte der Krankheiten, 1954) beschrieben. Dann übernahm eine Reihe ausgezeichneter deutschsprachiger Forscher etwa in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts (Karl Hansen, Hans Schliack, H. von Staa) die Forschungen zu den reflektorischen, oft auch als “algetisch” (also schmerzend) bezeichneten Hautzonen. Diesen Forschern ist es zu verdanken, dass seither nicht nur ein fundiertes Wissen über die diagnostische Nutzung dieser reflektorischen Areale besteht, sondern auch über die therapeutischen Beeinflussungs-Möglichkeiten vieler innerer Krankheiten von der Haut aus. Damit bestätigen sich ältere Therapiekonzepte, die äußere, auf die Haut einwirkende Reize wie Wärme, Kälte, Hautquaddelung, Moxibustion oder Narben-Setzung zur reflektorischen Reiztherapie innerer Organe einsetzen. Tragisch ist nur, dass dieser, trotz seiner guten wissenschaftlicher Fundierung ganzheitliche Ansatz nach seiner Erforschung kaum noch zur praktischen Anwendung kam: Eine überbordende Medizintechnik machte Individualdiagnostik auf Grundlage eigener Beobachtung immer überflüssiger. Zudem beherrschte der maoistische Exportschlager Akupunktur zunehmend das Denken an ganzheitlicher Medizin interessierter Ärzte und Heilpraktiker in Europa.
Bestechend wie die Mücke
“Lebenswecker-Punkte”
Auch der erfahrene Medizintechniker Baunscheidt konnte bei der Entwicklung seines Lebensweckers schon auf eine Reihe moderner Einsichten der naturwissenschaftlichen Medizin zurückgreifen. Und kannte ebenso die damaligen, wenn auch noch spärlichen Berichte über chinesische Akupunktur. Der von ihm selbst gepflegten Legendenbildung bezüglich der Lebenswecker-Erfindung folgend war jedoch eine eigene Gichterkrankung Ausgangspunkt der Entwicklung. Nicht zuletzt, weil er durch die allmählich einsetzende, gichtbedingte Versteifung seiner Gelenke in seiner beruflichen Tätigkeit als Ingenieur und Metallbauer zunehmend manuell behindert wurde. In seinem Werk “Baunscheidtismus” beschrieb er, wie es zur Erfindung des Lebensweckers kam. Er sei zuvor gerade von Mücken gestochen worden, als er bemerkte “wie eine fast plötzliche Veränderung mit der kranken Hand vor sich ging. Mit den Mücken war der Schmerz fast weggeflogen und dem aufmerksamen Beobachter der Natur konnte nicht lange zweifelhaft bleiben, was diese Veränderung zuwege gebracht hatte. Die Mücke lehrte ihn das Geheimnis: wie auf einfache und natürliche Weise die eingefangen Krankheitsstoffe ohne allen Blutverlust aus dem leidenden Theile des Körpers herausgezogen und abgeleitet werden könnten [2].”
Der Lebenswecker
Der Erfinder nahm die Mücke also im übertragenen Sinn zum Vorbild, um ein Nadelungsgerät zu Heilzwecken zu entwickeln. Erst später nannte er seine Erfindung “Lebenswecker”. Dieses Nadelungsgerät kommt heutigen Menschen beim ersten Anblick vielleicht martialisch vor: Es besteht aus einem dünnen Rohr, dass am oberen Ende eine Federeinrichtung hat, die unter Zug gesetzt werden kann. Am anderen Ende des Rohres ist ein beweglicher Metallkopf angebracht, auf der viele feine Metallnadeln gelötet sind. Wird die Zugfeder angezogen und losgelassen, schnellt der mit Nadeln besetzte Kopf in Richtung Haut. Konstruktionsbedingt können sich die Nadeln weniger als einen bis mehrere Millimeter tief in die Haut einbohren. Über einen Regulierungsring wird die Tiefe der Nadel-Einstiche bestimmt. Alternativ werden bis heute auch mit Nadeln versehene Rollen angeboten, die das Nadeln größerer Hautflächen erleichtern. Um die als heilungsfördernd eingeschätzten Sekrete der Stechmücken nachzubilden, entwickelte Baunscheidt ein Öl, dass er “Oleum Baunscheidtii” nannte. Es hatte stark reizende Wirkungen, so dass nicht selten eitrige Hautausschläge auftraten, mehrere Tage bis zum Abheilen benötigten. Das originale Öl wurde wegen potenziell krebserregender Inhaltsstoffe (Öl aus Croton tiglium L.) durch harmlose Variante ersetzt, die zwar kurzanhaltende histaminbedingte Hautquaddeln wie nach Mückenstichen weitaus besser nachahmt, aber keine anhaltenden Hautinfektionen mehr auslöst.
Klassisches Baunscheidt-Öl – Verkauf verboten
Die genaue Zusammensetzung des klassischen, von Baunscheidt selbst vertriebenen Öls ist bis heute unbekannt. Klar ist nur, dass es Crotonöl enthalten hat. Crotonöl wird aus den Samen von Croton tiglium L., einem südostasiatischen Baum oder Busch aus der Familie der Wolfsmilchgewächse, hergestellt. Es wirkt stark haut- und schleimhautreizend. Neben Triglycerinestern der Laurin‑, Myristicin‑, Palmitin‑, Stearin- und Tiglinsäure enthält Crotonöl mehrere Phorbolester, darunter das tumorpromovierende 12-Tetradecanoyl-phorbol-13-acetat. Früher wurde es nicht nur bei der Baunscheidttherapie verwendet, sondern auch als starkes Abführmittel (“Drastikum”) genutzt. Beim Auftragen auf die Haut genügen bereits kleine Mengen, um eine starke örtliche Entzündung mit Pusteln und Infektionsgefahr auszulösen. Crotonölhaltige Rezepturen sind – auch wegen möglicher Krebsgefährdung – als bedenklich eingestuft und werden seit etlichen Jahren nicht mehr von Apotheken abgegeben. Kritiker halten diesem Verbot entgegen, dass das potentielle Krebsrisiko einer äußerlichen Crotonöl-Anwendung durch den therapeutischen Nutzen der erwünschten, begrenzten, mehrere Tage anhaltenden Hautinfektion – bei der Behandlung schwerer Erkrankungen – mehr als aufgewogen wird. Und: Die angeblich tumorfördernden Eigenschaften sind in den 60er Jahren durch einen einzigen Forscher in Zellversuchen “belegt” worden und werden seither unhinterfragt zitiert. Aus ärztlicher Sicht ist durch das Crotonöl-Verbot erfolgte Beschneidung der Baunscheidt-Therapie natürlich sinnvoll und wünschenswert: “Laien sollten am besten niemals”, so kritisierte auch schon Baunscheidt, “ein wirksames Verfahren zur Selbstbehandlung in die Hände bekommen”. Hinweis: Croton tiglium ist ein auch heute noch etablierter Bestandteil der chinesischen Heilpflanzentherapie (“Badou”).
Erfolgreiches Vermarktungskonzept
Das für Laien überaus einfach nachvollziehbare Selbstbehandlungskonzept – bestehend aus Lebenswecker, Baunscheidt-Öl, “Fach”-Literatur und Fortbildungs-Veranstaltungen – machte Baunscheidt und einige seiner Schüler im 19. Jahrhundert zu Multimillionären. Dass er sich zudem der zeitgenössischen Medizin äußerst kritisch entgegenstellte und damit Millionen interessierte medizinische Laien ansprach, weist ihn nicht nur als intelligenten Medizintechniker aus, sondern auch als überragenden Verkäufer. Sein Konzept ist bis heute Vorbild für so manchen “echten” Medizin-Guru, aber auch für viele der unerträglichen Medizin-Scharlatane. So wurde die Mücke zu seinem Markenzeichen, mit der er sich, den Lebenswecker und das Öl erfolgreich verkaufte. Außerdem kreirte er eine neue Heilslehre, die er “Baunscheidtismus” nannte. Zudem verlegte er die Zeitschrift “Die Mücke”, um seine Ideen zu verbreiten und begeisterten Anwendern ein Forum zu bieten. Käufer des Lebensweckers erhielten außerdem eine Gebrauchsbroschüre, die zu Beginn (1851) nur 20 Seiten zählte. Daraus wurde später ein dickes Buch in dem Baunscheidt positive Presseberichte, eintreffende Dankschreiben oder Berichte von Heilerfolgen veröffentlichte [3].
Lebenswecker – Nomen est omen
Längst ins Dunkel der Vergangenheit ist gerückt, dass eine der größten Ängste der Menschen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Angst vor dem lebendig begraben werden gewesen ist. Eines der ersten Patente des 1877 gegründeten deutschen Reichspatentamtes war eine Gerätschaft, die einem lebendig begrabenenen Menschen Atemluft ins Grab zuführte und es ermöglichte, andere Menschen zu benachrichtigen. Eine der Indikationen des Baunscheidtschen Nadelgerätes war, so berichtet der Erfinder selbst, die Anwendung im Herzbereich eines Verstorbenen. Reagierte dieser hierauf nicht, konnte er beruhigt beerdigt werden. Wachte er hingegen auf, machte das Nadelgerät seinem neuen Name – Lebenswecker – alle Ehre. Nach Baunscheidt verfügte eine Anzahl von Beerdigungsunternehmen über Lebenswecker, nicht zuletzt weil die Kunden dank wirksamer Werbung danach verlangten. Die Geschichte mag lächerlich klingen – die anhaltende Diskussion über die Fragwürdigkeit der elektrischen Hirntod-Feststellung ist jedoch nicht weniger lächerlich. Baunscheidt war sich immerhin sicher: Hat die Lebenskraft den Menschen verlassen, nützt der Lebenswecker nichts mehr und der Tod ist endgültig eingetreten.
Durch ein Rädchen lässt sich das Eindringen der Nadeln regulieren. Hier 0,5 Millimeter
Tatsächlich war der Lebenswecker im 19. und auch noch im beginnenden 20. Jahrhundert ein Verkaufsschlager, der nicht nur in vielen Haushalten zu finden war. Auch die gesamte deutsche Handelsflotte, Militärärzte und zahlreiche andere medizinische Institutionen hielten den Lebenswecker vor. Die große überzeugte Anhängerschar verwendete ihn bei verschiedensten Erkrankungen und Befindlichkeitsstörungen. Über Jahrzehnte hinweg etablierte sich das Baunscheidt-Verfahren zu einem anerkannten naturheilkundlichen Verfahren. Es wurde seither auch unter dem Begriff “deutsche Akupunktur” bekannt und wird auch heute noch von naturheilkundlichen Ärzten und vor allem Heilpraktikern angewandt. Bei medizinischen Laien ist das Verfahren zugunsten billiger Medikamente und vor dem Hintergrund der gesundheitlichen Totalabsicherung eher in Vergessenheit geraten. Doch es könnte in Zeiten, in denen der medico-industrielle Komplex immer mehr Geld für seine eigene Existenz verschlingt, anstatt der Heilung von Menschen zu dienen, durchaus eine Renaissance erfahren und sich als probate, moderne Selbstbehandlungs-Alternative erweisen.
Einige der “bestechenden” Wirkungen
- Reizung von Hautnerven, die mit inneren Organen wie Leber oder Nieren verbunden sind (Reflexzonen-Wirkung). Dies steigert Durchblutung und Stoffwechsel innerer Organe, was heilungsfördernd wirken kann
- die winzigen, entzündeten Nadelpunkte wirken mehrere Tage reflektorisch auf erkrankte innere Organe. Dies kann tiefgreifend anregende, erfrischende Wirkungen auf den gesamten Körper haben
- die Erzeugung heilender Hautausschläge gehört zu den ältesten medizinischen Behandlung. Nach klassischer Auffassung werden hierbei schädliche, krankmachende Stoffe aus dem Körper ausgeleitet (Ausleitungs-Therapie)
- künstliche Hautentzündungen aktivieren das Abwehrsystem der genadelten Hautareale, der darunter liegenden Gewebe und des gesamten Körpers
- auch hormonbildende Organe werden reflektorisch angeregt, beispielsweise die Eierstöcke oder die Schilddrüse
Grundsätzlich gilt: Im Vergleich zu den extremen Schmerzen vieler Grunderkrankungen erscheint vielen Patienten die leichte, vorübergehende Hautreizung des Baunscheidt-Verfahrens zumeist akzeptabel. Lediglich bei leichten Befindlichkeitsstörungen mag das Verfahren als martialisch, als nicht für sanfte Gemüter geeignet, erscheinen. Doch wer für die “innere Heilung” bereit ist, beispielsweise barfuß über glühende Kohlen zu gehen, oder sich langfristige Knorpelschäden durch extreme Yoga-Haltungen zuzumuten, für den wird eine Baunscheidt-Behandlung eine reine Erholung sein. Allerdings: Zur Durchführung ist die Anschaffung des Geräts (175 Euro) wie auch eines geeigneten Öls nötig. Beides wird definitiv weder von Krankenkassen noch von Krankenversicherungen bezahlt.
Baunscheidt-Methode zwischen Naturheilkunde und Humoralpathologie
Aus Sicht des 21. Jahrhunderts fällt die Einordnung der Baunscheidt-Methode in den Kanon von ständig entstehenden und vergehenden Therapie-Konzepten nicht schwer. Die wissenschaftliche Basis wird durch die genetisch angelegten, im Körper vorhandenen Somatotopien gelegt (eine Somatotopie bezeichnet die der relativen Lage von Organen entsprechende Gliederung des Nervensystems). Und durch die – während der frühesten Embryonalzeit entstehenden – entsprechenden neuronalen Verschaltungen der Körperoberfläche mit inneren Organen (und vice versa). Wohl bekanntestes Beispiel einer somatotopischen Gliederung ist die Abbildung von in der Körperperipherie endenden sensorischen und motorischen Nervenkörpern auf der Rinde des Großhirns, der sogenannte Homunkulus. Das therapeutische Konzept lautet: Die Beeinflussung von mit inneren Organen reflektorisch korrespondierenden Hautarealen kann therapeutische Reize an diesen erkrankten Organen auslösen. Und: Durch therapeutisch gesetzte Reize wird die, allen biologischen Strukturen eingeprägte Selbstheilungskraft eines Organs angeregt. Aus diesem Grund ist das Baunscheidt-Verfahren mit Sicherheit ein naturheilkundliches Verfahren. Doch die Methode konnte ursprünglich mehr. Durch intensive Entzündungsreaktionen wurde ein Vorgang ausgelöst, der entsprechend der alten Säftelehre nach Hippokrates (“Humoralpathologie”) zum Ausleiten von “schlechten Körpersäften” über die infizierte Haut führt. Also zu dem, was bis heute von einigen Unverbesserlichen “Entgiftung” oder “Entschlackung” genannt wird. Aber Vorsicht: Sowohl zu Hippokrates als auch zu Baunscheidts und unseren Zeiten sind es zu 99,99% die Nieren, die Leber oder der Darm, die Stoffwechselprodukte hocheffektiv aus dem Körper abführen, wobei keine messbare “Vergiftung” oder “Verschlackung” des Körpers entsteht. Die mechanistische Sicht, Ausleitung, Entgiftung oder Entschlackung sei nichts anderes als der Abtransport von – schädigenden – chemischen Molekülen aus dem Körper, greift zu kurz, ist in der griechischen Medizin auch nie so gemeint gewesen. Das hippokratische Bild der Dyskrasie, also einer “gestörten Zusammensetzung von Blut und anderen Körpersäften”, bezieht sich auf vielen Krankheiten ursprünglich zugrunde liegende funktionelle Störungen. Samuel Hahnemann, der Begründer der Homöopathie, bezeichnet diese – sehr allgemein gehalten – als “Störungen der Lebenskraft” (was nicht auschließt, dass es tatsächlich einmal Vergiftungen geben kann, zum Beispiel beim Verzehr eines giftigen Lebensmittels). Mit “Störungen der Lebenskraft” werden Krankheitsursachen angedeutet, die sich nach dem mittelalterlichen Modell von einer Verzahnung von Mikrokosmos und Makrokosmos (Paracelsus u. a.) durch das energetische Herausfallen von Organen oder Organismen aus dem Fluss der Lebensenergien ergeben. Typisches Beispiel: Fehlt Kindern Sonnenlicht (aus dem Makrokosmos), entsteht in ihrer Haut zu wenig biowirksames Vitamin D und es kommt zu einer Knochen-Mineralisationsstörung, der Rachitis (Krankheit im Mikrokosmos). “Mehr Licht” (Goethe) ist hierbei eine naturheilkundliche Therapie. Intensive entzündliche, eitrig-pustulöse Hautinfektionen als “Ausleitungs-Therapie” im Sinne von Baunscheidt sind übrigens gar nicht so drastisch, wie oft angenommen: Eine schwere Operation, eine auch gesundes Gewebe zerstörende Strahlentherapie oder eine tiefgreifende Schäden nicht nur an Krebszellen auslösende Chemotherapie sind ebenfalls keine sanften, nebenwirkungsarmen Behandlungen. Anders als die Baunscheidt-Behandlung führen sie jedoch zu schweren, lebenslänglichen Schäden im Körper, während der einzige Langzeit-“Schaden” der Lebenswecker-Anwendung einiger Monate oder Jahre anhaltende Pigmentstörung der ehemals entzündeten Hautareale ist.
Auseinandersetzung mit Verfahren nötig
Auswechselbarer Nadelkopf
Wer baunscheidtieren will, sollte sich gut mit dem Verfahren auseinandersetzen. Einige wichtige Grundsätze sind unbedingt zu beachten: Die Nadelung wird nur in der aderlosen Oberhaut vorgenommen (deshalb blutet es auch nicht). Mit wiederholten Nadelungen können im Rahmen einer einzigen Behandlung bis zu handgroße Hautflächen genadelt werden. Sofort danach folgt die Einreibung mit dem Hautreiz-Öl. Ziel: Ein kräftiger Heil-Ausschlag der genadelten Haut, der oft etliche Stunden bis wenige Tage andauern kann. Um Verletzungen zu vermeiden, darf nicht die dünne Haut über Knochen (Kniegelenk, Wangen, Schläfen) genadelt werden. Die Behandlung von Kindern durch Laien sollte grundsätzlich unterbleiben. Nach Abheilung der Entzündung kann die Behandlung – bis zu 8x pro Jahr (kurmäßig) – wiederholt werden. Die Original-Anleitungen von Baunscheidt stehen leider nicht mehr zur Verfügung. Die aktuell verfügbare Literatur wendet sich vor allem an Ärzte oder Heilpraktiker. So gibt es nur drei Möglichkeiten, sich als Gesundheits-Laie das Verfahren anzueignen: Einführung durch einen erfahrenen Praktiker der Methode, Lesen von Fachliteratur und Ausprobieren. Anmerkung: Ähnlich wie andere Verfahren, die eigentlich auschließlich zur Selbstbehandlung konzipiert worden sind – hierzu zählen vor allem die Bach-Blütentherapie, die Komplexmittel-Homöopathie und die Schüsslersche Biochemie – bieten auch Ärzte und Heilpraktiker gerne das Baunscheidt-Verfahren an. Doch vom Grundsatz des Erfinders her gilt auch heute noch: Der “Baunscheidtismus” ist ein für kranke Menschen (Laien!) zugedachtes und für ihre persönliche Anwendung geeignetes Verfahren!
Für Baunscheidt-Anwendung geeignete Krankheiten
- schmerzhafte Erkrankung von Knochen, Sehnen oder Gelenken (beispielsweise Arthrose, Arthritis, Gicht), Tennisellbogen, anhaltende Schulter-Arm-Schmerzen
- Trigeminus-Neuralgie (heftige Gesichts-Schmerzen), Migräne
- Erkältungsneigung (mehr als vier Erkältungen pro Jahr)
- Reizmagen (Übelkeit, Völlegefühl), Verdauungsschwäche (Essen liegt “schwer” im Magen, Aufstoßen, Blähungen), chronische Verstopfung (auch wechselnd mit Durchfall = Reizdarm)
- chronische Blasen-Entzündung (oft Harndrang, Schmerzen beim Urinieren, erfolglose Antibiotika-Behandlung)
- Regelprobleme (schmerzende, verstärkte, verlängerte Monatsblutung
- chronischer Schwindel, Ohrensausen, Ohrgeräusche (Tinnitus)
Weiteres zu diesem Thema: Siehe Lebenswecker
Autorin
• Marion Kaden, Natur & Heilen (2008).
Quelle
[1] Ernst E: Akupunktur – endlich Klarheit? Deutsche Medizinische Wochenschrift 2006;131:483–484. [2] Carl Baunscheidt: Der Baunscheidtismus vom Erfinder der neuen Heillehre. Achtzehnte unveränderte Auflage. Carl Baunscheidt & Co. Gesellschaft mit beschränkter Haftung, Endenich bei Bonn, 1923. [3] Timm Willy: Karl Baunscheidt, Ein märkisches Leben. Veröffentlichungen aus dem Stadtarchiv Hagen, S. 16.