Deutsche Akupunktur

Der Lebens­we­cker mit einem Ersatz-Nadelkopf

Der deut­sche Leh­rer, Erfin­der, Mecha­ni­ker und Medi­zin­ge­rä­te-Her­stel­ler Carl Baun­scheidt erfand im 19. Jahr­hun­dert ein mecha­ni­sches Nadelungs­ge­rät. Der soge­nann­te Lebens­we­cker wur­de zu einem Ver­kaufs­schla­ger. Denn medi­zi­ni­sche Lai­en nutz­ten es gemein­sam mit einem haut­rei­zen­den Öl zur erfolg­rei­chen Selbst­be­hand­lung ver­schie­de­ner Erkran­kun­gen. Das Baun­scheidt-Ver­fah­ren wur­de spä­ter die “Deut­sche Aku­punk­tur” genannt. Es hat heu­te als Selbst­be­hand­lungs-Ver­fah­ren kei­ne Bedeu­tung mehr – was sich in Zei­ten knap­per wer­den­der Res­sour­cen im Gesund­heits­we­sen jedoch wie­der ändern könnte.

Zwei der größ­ten Stu­di­en, die je zur Wirk­sam­keit der Aku­punk­tur durch­ge­führt wor­den sind (ART=Acupuncture Ran­do­mi­zed Tri­als, GERAC=German Acu­p­unc­tu­re tri­als, jeweils Deutsch­land) zei­gen, dass “Aku­punk­tur frei von spe­zi­fi­schen Effek­ten ist”, wie einer der renom­mier­tes­ten Kom­ple­men­tär­me­di­zin-For­scher Euro­pas, Prof. Dr. Dr. Edzard Ernst, Exeter/​Großbritannien, kri­tisch zusam­men­fasst [1]. Viel erstaun­li­cher aber: Bei­de Stu­di­en zei­gen, dass eine unspe­zi­fi­sche Nadelung der Haut (also nicht in spe­zi­fi­sche Aku­punk­tur­punk­te hin­ein) genau­so gut Rücken­schmer­zen oder Migrä­ne lin­dern kann wie punkt­spe­zi­fi­sche Aku­punk­tur. Wich­tig: Bei­de Nadelun­gen haben bes­se­re Effek­te als die jewei­li­ge fach­ärzt­li­che Stan­dard­the­ra­pie. Vor der intel­lek­tu­el­len Her­aus­for­de­rung die­ser For­schungs­er­geb­nis­se haben die im deut­schen “Gemein­sa­men Bun­des­aus­schuss” in Ber­lin über Wirk­sam­keit und Erstat­tungs­fä­hig­keit bera­ten­den Exper­ten bein­dru­cken­de Kaprio­len geschla­gen: Deut­sche Kran­ken­kas­sen müs­sen jetzt unlo­gi­scher­wei­se die Aku­punk­tur bei Rücken­schmer­zen bezah­len, nicht aber bei Migrä­ne. Und dies auch nur dann, wenn ein Behand­ler nach­weis­lich Aku­punk­tur anwen­det (Zusatz­qua­li­fi­ka­ti­on Aku­punk­tur kann in weni­gen (Wochenend-)Kursen erwor­ben wer­den). Eine unspe­zi­fi­sche Nadelung – die sich ja wis­sen­schaft­lich eben­falls als wirk­sam her­aus­ge­stellt hat – wird weder bei Migrä­ne noch bei Rücken­schmer­zen bezahlt.

Behandlung über Hautreizung

Carl Baun­scheidt (1809–1873) dem Erfin­der des Ver­fah­rens, hät­te das Ergeb­nis der ART- und GERAC-Stu­di­en sicher­lich gefal­len. Schließ­lich bestä­ti­gen sie wis­sen­schaft­lich, was vie­le begeis­ter­te Anhän­ger sei­nes Ver­fah­rens seit dem 19. Jahr­hun­dert an prak­ti­schen The­ra­pie-Erfah­run­gen zusam­men­ge­tra­gen haben: Durch Nadelung von Haut­area­len – auch und vor allem in der Selbst­be­hand­lung – und dem anschlie­ßen­den Auf­tra­gen eines stark haut­rei­zen­den Öls kann eine Viel­zahl von Erkran­kungs-Beschwer­den ver­bes­sert wer­den. Mit der Erfin­dung und Anwen­dung sei­nes mecha­ni­schen Nadelungs­ge­räts stand er in einer lan­gen the­ra­peu­ti­schen Tra­di­ti­on. So ver­such­ten schon sibi­ri­sche Scha­ma­nen, afri­ka­ni­sche Heil­kun­di­ge oder süd­ame­ri­ka­ni­sche India­ner seit lan­gem Krank­hei­ten über Rei­zung der Haut zu behan­deln. Bekann­te Bei­spie­le sind das Set­zen von Schröpf­köp­fen, das Ein­rit­zen der Haut oder Set­zen von Brand­ma­len (Nar­ben­set­zung = “Sca­ri­fi­zie­rung”), die Hit­ze­an­wen­dun­gen (z. B. die Moxi­bus­ti­on) oder letzt­lich auch Aku­punk­tur und Akupressur.

Heil­kun­di­ge ver­gan­ge­ner Zei­ten behan­del­ten ihre Pati­en­ten mit über­lie­fer­ten Ver­fah­ren, die bis ins Mit­tel­al­ter hin­ein, vor­nehm­lich auf Erfah­rung, Beob­ach­tung und in Euro­pa vor allem auf den phi­lo­so­phi­schen und Heil-Tra­di­tio­nen des klas­si­schen Grie­chen­lands beruh­ten. Erst in der Neu­zeit kam es bei uns durch tech­no­lo­gi­sche Ent­wick­lun­gen, das Eröff­nen und Unter­su­chen mensch­li­cher Kör­per (bis zur Renais­sance aus reli­giö­sen Grün­den ver­bo­ten) oder – grund­sätz­lich – durch ein, die moder­nen Wis­sen­schaf­ten begrün­den­des Wider­spruchs- und Neu­gier­ver­hal­ten zu neu­ar­ti­gen Erkennt­nis­sen über Orga­ne und ihre mög­li­chen Funktionen.

Headsche Zonen

Mit dem wach­sen­den Wis­sen über Ana­to­mie, Phy­sio­lo­gie oder Krank­heits­leh­re konn­ten immer wie­der auch Erfah­run­gen tra­di­tio­nel­ler Medi­zin­schu­len bestä­tigt wer­den. So beob­ach­te­te der eng­li­sche Neu­ro­lo­ge Sir Hen­ry Head (1861–1949), wie sich Schmerz­zu­stän­de von inne­ren Orga­nen auf genau abgrenz­ba­re Haut­area­le über­tru­gen und sich dort als schmerz­haf­te Berei­che wider­spie­gel­ten. Head ver­mu­te­te bestehen­de Ner­ven-Ver­bin­dun­gen, die reflek­to­risch eine Funk­ti­ons­stö­rung anzei­gen könn­ten. Sei­ne Ver­mu­tun­gen bestä­tig­ten sich zuneh­mend. Zahl­rei­che der damals (wie­der) ent­deck­ten reflek­to­ri­schen Haut­area­le wur­den ihm zu Ehren “Head­sche Zonen” genannt. Auch moder­ne Ärz­te ken­nen noch eini­ge weni­ge die­ser Zonen und über­prü­fen ihre Schmerz­haf­tig­keit bei zur Dia­gnos­tik bestimm­ter Akut-Erkran­kun­gen: Am bekann­tes­ten ist der “McB­ur­ney-Punkt”, der – etwa in der Mit­te der Linie von Bauch­na­bel und rech­tem vor­de­ren Darm­bein­sta­chel gele­gen -, einen ent­zün­de­ten Blind­darm-Fort­satz anzei­gen kann.

Beson­ders im deut­schen Sprach­raum erweck­ten die­se meist über das zen­tra­le Ner­ven­sys­tem erfol­gen­den “Ver­schal­tun­gen” von Haut und inne­ren Orga­nen beson­de­res Inter­es­se. Zunächst wur­de von Prak­ti­kern mit sen­si­bi­li­sier­tem ärzt­li­chen Blick “die Kör­per­de­cke als Ort der Dia­gnos­tik und The­ra­pie inne­rer Krank­hei­ten” (z. B. Harald Mozer, Brenn­punk­te der Krank­hei­ten, 1954) beschrie­ben. Dann über­nahm eine Rei­he aus­ge­zeich­ne­ter deutsch­spra­chi­ger For­scher etwa in den 70er Jah­ren des letz­ten Jahr­hun­derts (Karl Han­sen, Hans Schliack, H. von Staa) die For­schun­gen zu den reflek­to­ri­schen, oft auch als “alge­tisch” (also schmer­zend) bezeich­ne­ten Haut­zo­nen. Die­sen For­schern ist es zu ver­dan­ken, dass seit­her nicht nur ein fun­dier­tes Wis­sen über die dia­gnos­ti­sche Nut­zung die­ser reflek­to­ri­schen Area­le besteht, son­dern auch über die the­ra­peu­ti­schen Beein­flus­sungs-Mög­lich­kei­ten vie­ler inne­rer Krank­hei­ten von der Haut aus. Damit bestä­ti­gen sich älte­re The­ra­pie­kon­zep­te, die äuße­re, auf die Haut ein­wir­ken­de Rei­ze wie Wär­me, Käl­te, Haut­quad­de­lung, Moxi­bus­ti­on oder Nar­ben-Set­zung zur reflek­to­ri­schen Reiz­the­ra­pie inne­rer Orga­ne ein­set­zen. Tra­gisch ist nur, dass die­ser, trotz sei­ner guten wis­sen­schaft­li­cher Fun­die­rung ganz­heit­li­che Ansatz nach sei­ner Erfor­schung kaum noch zur prak­ti­schen Anwen­dung kam: Eine über­bor­den­de Medi­zin­tech­nik mach­te Indi­vi­du­al­dia­gnos­tik auf Grund­la­ge eige­ner Beob­ach­tung immer über­flüs­si­ger. Zudem beherrsch­te der mao­is­ti­sche Export­schla­ger Aku­punk­tur zuneh­mend das Den­ken an ganz­heit­li­cher Medi­zin inter­es­sier­ter Ärz­te und Heil­prak­ti­ker in Europa.

Bestechend wie die Mücke

“Lebens­we­cker-Punk­te”

Auch der erfah­re­ne Medi­zin­tech­ni­ker Baun­scheidt konn­te bei der Ent­wick­lung sei­nes Lebens­we­ckers schon auf eine Rei­he moder­ner Ein­sich­ten der natur­wis­sen­schaft­li­chen Medi­zin zurück­grei­fen. Und kann­te eben­so die dama­li­gen, wenn auch noch spär­li­chen Berich­te über chi­ne­si­sche Aku­punk­tur. Der von ihm selbst gepfleg­ten Legen­den­bil­dung bezüg­lich der Lebens­we­cker-Erfin­dung fol­gend war jedoch eine eige­ne Gicht­er­kran­kung Aus­gangs­punkt der Ent­wick­lung. Nicht zuletzt, weil er durch die all­mäh­lich ein­set­zen­de, gicht­be­ding­te Ver­stei­fung sei­ner Gelen­ke in sei­ner beruf­li­chen Tätig­keit als Inge­nieur und Metall­bau­er zuneh­mend manu­ell behin­dert wur­de. In sei­nem Werk “Baun­scheid­tis­mus” beschrieb er, wie es zur Erfin­dung des Lebens­we­ckers kam. Er sei zuvor gera­de von Mücken gesto­chen wor­den, als er bemerk­te “wie eine fast plötz­li­che Ver­än­de­rung mit der kran­ken Hand vor sich ging. Mit den Mücken war der Schmerz fast weg­ge­flo­gen und dem auf­merk­sa­men Beob­ach­ter der Natur konn­te nicht lan­ge zwei­fel­haft blei­ben, was die­se Ver­än­de­rung zuwe­ge gebracht hat­te. Die Mücke lehr­te ihn das Geheim­nis: wie auf ein­fa­che und natür­li­che Wei­se die ein­ge­fan­gen Krank­heits­stof­fe ohne allen Blut­ver­lust aus dem lei­den­den Thei­le des Kör­pers her­aus­ge­zo­gen und abge­lei­tet wer­den könn­ten [2].”

Der Lebenswecker

Der Erfin­der nahm die Mücke also im über­tra­ge­nen Sinn zum Vor­bild, um ein Nadelungs­ge­rät zu Heil­zwe­cken zu ent­wi­ckeln. Erst spä­ter nann­te er sei­ne Erfin­dung “Lebens­we­cker”. Die­ses Nadelungs­ge­rät kommt heu­ti­gen Men­schen beim ers­ten Anblick viel­leicht mar­tia­lisch vor: Es besteht aus einem dün­nen Rohr, dass am obe­ren Ende eine Feder­ein­rich­tung hat, die unter Zug gesetzt wer­den kann. Am ande­ren Ende des Roh­res ist ein beweg­li­cher Metall­kopf ange­bracht, auf der vie­le fei­ne Metall­na­deln gelö­tet sind. Wird die Zug­fe­der ange­zo­gen und los­ge­las­sen, schnellt der mit Nadeln besetz­te Kopf in Rich­tung Haut. Kon­struk­ti­ons­be­dingt kön­nen sich die Nadeln weni­ger als einen bis meh­re­re Mil­li­me­ter tief in die Haut ein­boh­ren. Über einen Regu­lie­rungs­ring wird die Tie­fe der Nadel-Ein­sti­che bestimmt. Alter­na­tiv wer­den bis heu­te auch mit Nadeln ver­se­he­ne Rol­len ange­bo­ten, die das Nadeln grö­ße­rer Haut­flä­chen erleich­tern. Um die als hei­lungs­för­dernd ein­ge­schätz­ten Sekre­te der Stech­mü­cken nach­zu­bil­den, ent­wi­ckel­te Baun­scheidt ein Öl, dass er “Ole­um Baun­scheid­tii” nann­te. Es hat­te stark rei­zen­de Wir­kun­gen, so dass nicht sel­ten eit­ri­ge Haut­aus­schlä­ge auf­tra­ten, meh­re­re Tage bis zum Abhei­len benö­tig­ten. Das ori­gi­na­le Öl wur­de wegen poten­zi­ell krebs­er­re­gen­der Inhalts­stof­fe (Öl aus Cro­ton tig­li­um L.) durch harm­lo­se Vari­an­te ersetzt, die zwar kurz­an­hal­ten­de hist­amin­be­ding­te Haut­quad­deln wie nach Mücken­sti­chen weit­aus bes­ser nach­ahmt, aber kei­ne anhal­ten­den Haut­in­fek­tio­nen mehr auslöst.

Klas­si­sches Baun­­scheidt-Öl – Ver­kauf verboten

Die genaue Zusam­men­set­zung des klas­si­schen, von Baun­scheidt selbst ver­trie­be­nen Öls ist bis heu­te unbe­kannt. Klar ist nur, dass es Cro­ton­öl ent­hal­ten hat. Cro­ton­öl wird aus den Samen von Cro­ton tig­li­um L., einem süd­ost­asia­ti­schen Baum oder Busch aus der Fami­lie der Wolfs­milch­ge­wäch­se, her­ge­stellt. Es wirkt stark haut- und schleim­haut­rei­zend. Neben Tri­gly­ce­ri­ne­stern der Laurin‑, Myristicin‑, Palmitin‑, Stearin- und Tig­lin­säu­re ent­hält Cro­ton­öl meh­re­re Phor­bo­les­ter, dar­un­ter das tumor­pro­mo­vie­ren­de 12-Tetra­­de­­ca­­noyl-phor­­bol-13-ace­­tat. Frü­her wur­de es nicht nur bei der Baun­scheidt­the­ra­pie ver­wen­det, son­dern auch als star­kes Abführ­mit­tel (“Dras­ti­kum”) genutzt. Beim Auf­tra­gen auf die Haut genü­gen bereits klei­ne Men­gen, um eine star­ke ört­li­che Ent­zün­dung mit Pus­teln und Infek­ti­ons­ge­fahr aus­zu­lö­sen. Cro­ton­öl­hal­ti­ge Rezep­tu­ren sind – auch wegen mög­li­cher Krebs­ge­fähr­dung – als bedenk­lich ein­ge­stuft und wer­den seit etli­chen Jah­ren nicht mehr von Apo­the­ken abge­ge­ben. Kri­ti­ker hal­ten die­sem Ver­bot ent­ge­gen, dass das poten­ti­el­le Krebs­ri­si­ko einer äußer­li­chen Cro­­ton­­öl-Anwen­­dung durch den the­ra­peu­ti­schen Nut­zen der erwünsch­ten, begrenz­ten, meh­re­re Tage anhal­ten­den Haut­in­fek­ti­on – bei der Behand­lung schwe­rer Erkran­kun­gen – mehr als auf­ge­wo­gen wird. Und: Die angeb­lich tumor­för­dern­den Eigen­schaf­ten sind in den 60er Jah­ren durch einen ein­zi­gen For­scher in Zell­ver­su­chen “belegt” wor­den und wer­den seit­her unhin­ter­fragt zitiert. Aus ärzt­li­cher Sicht ist durch das Cro­­ton­­öl-Ver­­­bot erfolg­te Beschnei­dung der Baun­­scheidt-The­ra­pie natür­lich sinn­voll und wün­schens­wert: “Lai­en soll­ten am bes­ten nie­mals”, so kri­ti­sier­te auch schon Baun­scheidt, “ein wirk­sa­mes Ver­fah­ren zur Selbst­be­hand­lung in die Hän­de bekom­men”. Hin­weis: Cro­ton tig­li­um ist ein auch heu­te noch eta­blier­ter Bestand­teil der chi­ne­si­schen Heil­pflan­zen­the­ra­pie (“Badou”).

Erfolgreiches Vermarktungskonzept

Das für Lai­en über­aus ein­fach nach­voll­zieh­ba­re Selbst­be­hand­lungs­kon­zept – bestehend aus Lebens­we­cker, Baun­scheidt-Öl, “Fach”-Literatur und Fort­bil­dungs-Ver­an­stal­tun­gen – mach­te Baun­scheidt und eini­ge sei­ner Schü­ler im 19. Jahr­hun­dert zu Mul­ti­mil­lio­nä­ren. Dass er sich zudem der zeit­ge­nös­si­schen Medi­zin äußerst kri­tisch ent­ge­gen­stell­te und damit Mil­lio­nen inter­es­sier­te medi­zi­ni­sche Lai­en ansprach, weist ihn nicht nur als intel­li­gen­ten Medi­zin­tech­ni­ker aus, son­dern auch als über­ra­gen­den Ver­käu­fer. Sein Kon­zept ist bis heu­te Vor­bild für so man­chen “ech­ten” Medi­zin-Guru, aber auch für vie­le der uner­träg­li­chen Medi­zin-Schar­la­ta­ne. So wur­de die Mücke zu sei­nem Mar­ken­zei­chen, mit der er sich, den Lebens­we­cker und das Öl erfolg­reich ver­kauf­te. Außer­dem kreir­te er eine neue Heils­leh­re, die er “Baun­scheid­tis­mus” nann­te. Zudem ver­leg­te er die Zeit­schrift “Die Mücke”, um sei­ne Ideen zu ver­brei­ten und begeis­ter­ten Anwen­dern ein Forum zu bie­ten. Käu­fer des Lebens­we­ckers erhiel­ten außer­dem eine Gebrauchs­bro­schü­re, die zu Beginn (1851) nur 20 Sei­ten zähl­te. Dar­aus wur­de spä­ter ein dickes Buch in dem Baun­scheidt posi­ti­ve Pres­se­be­rich­te, ein­tref­fen­de Dank­schrei­ben oder Berich­te von Heil­erfol­gen ver­öf­fent­lich­te [3].

Lebens­we­cker – Nomen est omen

Längst ins Dun­kel der Ver­gan­gen­heit ist gerückt, dass eine der größ­ten Ängs­te der Men­schen in der zwei­ten Hälf­te des 19. Jahr­hun­derts die Angst vor dem leben­dig begra­ben wer­den gewe­sen ist. Eines der ers­ten Paten­te des 1877 gegrün­de­ten deut­schen Reichs­pa­tent­am­tes war eine Gerät­schaft, die einem leben­dig begra­be­ne­nen Men­schen Atem­luft ins Grab zuführ­te und es ermög­lich­te, ande­re Men­schen zu benach­rich­ti­gen. Eine der Indi­ka­tio­nen des Baun­scheidt­schen Nadel­ge­rä­tes war, so berich­tet der Erfin­der selbst, die Anwen­dung im Herz­be­reich eines Ver­stor­be­nen. Reagier­te die­ser hier­auf nicht, konn­te er beru­higt beer­digt wer­den. Wach­te er hin­ge­gen auf, mach­te das Nadel­ge­rät sei­nem neu­en Name – Lebens­we­cker – alle Ehre. Nach Baun­scheidt ver­füg­te eine Anzahl von Beer­di­gungs­un­ter­neh­men über Lebens­we­cker, nicht zuletzt weil die Kun­den dank wirk­sa­mer Wer­bung danach ver­lang­ten. Die Geschich­te mag lächer­lich klin­gen – die anhal­ten­de Dis­kus­si­on über die Frag­wür­dig­keit der elek­tri­schen Hirn­­­tod-Fes­t­s­tel­­lung ist jedoch nicht weni­ger lächer­lich. Baun­scheidt war sich immer­hin sicher: Hat die Lebens­kraft den Men­schen ver­las­sen, nützt der Lebens­we­cker nichts mehr und der Tod ist end­gül­tig eingetreten.

Durch ein Räd­chen lässt sich das Ein­drin­gen der Nadeln regu­lie­ren. Hier 0,5 Millimeter

Tat­säch­lich war der Lebens­we­cker im 19. und auch noch im begin­nen­den 20. Jahr­hun­dert ein Ver­kaufs­schla­ger, der nicht nur in vie­len Haus­hal­ten zu fin­den war. Auch die gesam­te deut­sche Han­dels­flot­te, Mili­tär­ärz­te und zahl­rei­che ande­re medi­zi­ni­sche Insti­tu­tio­nen hiel­ten den Lebens­we­cker vor. Die gro­ße über­zeug­te Anhän­ger­schar ver­wen­de­te ihn bei ver­schie­dens­ten Erkran­kun­gen und Befind­lich­keits­stö­run­gen. Über Jahr­zehn­te hin­weg eta­blier­te sich das Baun­scheidt-Ver­fah­ren zu einem aner­kann­ten natur­heil­kund­li­chen Ver­fah­ren. Es wur­de seit­her auch unter dem Begriff “deut­sche Aku­punk­tur” bekannt und wird auch heu­te noch von natur­heil­kund­li­chen Ärz­ten und vor allem Heil­prak­ti­kern ange­wandt. Bei medi­zi­ni­schen Lai­en ist das Ver­fah­ren zuguns­ten bil­li­ger Medi­ka­men­te und vor dem Hin­ter­grund der gesund­heit­li­chen Total­ab­si­che­rung eher in Ver­ges­sen­heit gera­ten. Doch es könn­te in Zei­ten, in denen der med­ico-indus­tri­el­le Kom­plex immer mehr Geld für sei­ne eige­ne Exis­tenz ver­schlingt, anstatt der Hei­lung von Men­schen zu die­nen, durch­aus eine Renais­sance erfah­ren und sich als pro­ba­te, moder­ne Selbst­be­hand­lungs-Alter­na­ti­ve erweisen.

Einige der “bestechenden” Wirkungen

  • Rei­zung von Haut­ner­ven, die mit inne­ren Orga­nen wie Leber oder Nie­ren ver­bun­den sind (Reflex­zo­nen-Wir­kung). Dies stei­gert Durch­blu­tung und Stoff­wech­sel inne­rer Orga­ne, was hei­lungs­för­dernd wir­ken kann
  • die win­zi­gen, ent­zün­de­ten Nadel­punk­te wir­ken meh­re­re Tage reflek­to­risch auf erkrank­te inne­re Orga­ne. Dies kann tief­grei­fend anre­gen­de, erfri­schen­de Wir­kun­gen auf den gesam­ten Kör­per haben
  • die Erzeu­gung hei­len­der Haut­aus­schlä­ge gehört zu den ältes­ten medi­zi­ni­schen Behand­lung. Nach klas­si­scher Auf­fas­sung wer­den hier­bei schäd­li­che, krank­ma­chen­de Stof­fe aus dem Kör­per aus­ge­lei­tet (Aus­lei­tungs-The­ra­pie)
  • künst­li­che Haut­ent­zün­dun­gen akti­vie­ren das Abwehr­sys­tem der gena­del­ten Haut­area­le, der dar­un­ter lie­gen­den Gewe­be und des gesam­ten Körpers
  • auch hor­mon­bil­den­de Orga­ne wer­den reflek­to­risch ange­regt, bei­spiels­wei­se die Eier­stö­cke oder die Schilddrüse

Grund­sätz­lich gilt: Im Ver­gleich zu den extre­men Schmer­zen vie­ler Grund­er­kran­kun­gen erscheint vie­len Pati­en­ten die leich­te, vor­über­ge­hen­de Haut­rei­zung des Baun­scheidt-Ver­fah­rens zumeist akzep­ta­bel. Ledig­lich bei leich­ten Befind­lich­keits­stö­run­gen mag das Ver­fah­ren als mar­tia­lisch, als nicht für sanf­te Gemü­ter geeig­net, erschei­nen. Doch wer für die “inne­re Hei­lung” bereit ist, bei­spiels­wei­se bar­fuß über glü­hen­de Koh­len zu gehen, oder sich lang­fris­ti­ge Knor­pel­schä­den durch extre­me Yoga-Hal­tun­gen zuzu­mu­ten, für den wird eine Baun­scheidt-Behand­lung eine rei­ne Erho­lung sein. Aller­dings: Zur Durch­füh­rung ist die Anschaf­fung des Geräts (175 Euro) wie auch eines geeig­ne­ten Öls nötig. Bei­des wird defi­ni­tiv weder von Kran­ken­kas­sen noch von Kran­ken­ver­si­che­run­gen bezahlt.

Baun­­scheidt-Metho­­de zwi­schen Natur­heil­kun­de und Humoralpathologie

Aus Sicht des 21. Jahr­hun­derts fällt die Ein­ord­nung der Baun­­scheidt-Metho­­de in den Kanon von stän­dig ent­ste­hen­den und ver­ge­hen­den The­ra­pie-Kon­­­zep­­ten nicht schwer. Die wis­sen­schaft­li­che Basis wird durch die gene­tisch ange­leg­ten, im Kör­per vor­han­de­nen Soma­to­to­pien gelegt (eine Soma­to­to­pie bezeich­net die der rela­ti­ven Lage von Orga­nen ent­spre­chen­de Glie­de­rung des Ner­ven­sys­tems). Und durch die – wäh­rend der frü­hes­ten Embryo­nal­zeit ent­ste­hen­den – ent­spre­chen­den neu­ro­na­len Ver­schal­tun­gen der Kör­per­ober­flä­che mit inne­ren Orga­nen (und vice ver­sa). Wohl bekann­tes­tes Bei­spiel einer soma­to­to­pi­schen Glie­de­rung ist die Abbil­dung von in der Kör­per­pe­ri­phe­rie enden­den sen­so­ri­schen und moto­ri­schen Ner­ven­kör­pern auf der Rin­de des Groß­hirns, der soge­nann­te Homun­ku­lus. Das the­ra­peu­ti­sche Kon­zept lau­tet: Die Beein­flus­sung von mit inne­ren Orga­nen reflek­to­risch kor­re­spon­die­ren­den Haut­area­len kann the­ra­peu­ti­sche Rei­ze an die­sen erkrank­ten Orga­nen aus­lö­sen. Und: Durch the­ra­peu­tisch gesetz­te Rei­ze wird die, allen bio­lo­gi­schen Struk­tu­ren ein­ge­präg­te Selbst­hei­lungs­kraft eines Organs ange­regt. Aus die­sem Grund ist das Baun­­scheidt-Ver­­­fah­­ren mit Sicher­heit ein natur­heil­kund­li­ches Ver­fah­ren. Doch die Metho­de konn­te ursprüng­lich mehr. Durch inten­si­ve Ent­zün­dungs­re­ak­tio­nen wur­de ein Vor­gang aus­ge­löst, der ent­spre­chend der alten Säf­te­leh­re nach Hip­po­kra­tes (“Humo­ral­pa­tho­lo­gie”) zum Aus­lei­ten von “schlech­ten Kör­per­säf­ten” über die infi­zier­te Haut führt. Also zu dem, was bis heu­te von eini­gen Unver­bes­ser­li­chen “Ent­gif­tung” oder “Ent­schla­ckung” genannt wird. Aber Vor­sicht: Sowohl zu Hip­po­kra­tes als auch zu Baun­scheidts und unse­ren Zei­ten sind es zu 99,99% die Nie­ren, die Leber oder der Darm, die Stoff­wech­sel­pro­duk­te hoch­ef­fek­tiv aus dem Kör­per abfüh­ren, wobei kei­ne mess­ba­re “Ver­gif­tung” oder “Ver­schla­ckung” des Kör­pers ent­steht. Die mecha­nis­ti­sche Sicht, Aus­lei­tung, Ent­gif­tung oder Ent­schla­ckung sei nichts ande­res als der Abtrans­port von – schä­di­gen­den – che­mi­schen Mole­kü­len aus dem Kör­per, greift zu kurz, ist in der grie­chi­schen Medi­zin auch nie so gemeint gewe­sen. Das hip­po­kra­ti­sche Bild der Dys­kra­sie, also einer “gestör­ten Zusam­men­set­zung von Blut und ande­ren Kör­per­säf­ten”, bezieht sich auf vie­len Krank­hei­ten ursprüng­lich zugrun­de lie­gen­de funk­tio­nel­le Stö­run­gen. Samu­el Hah­ne­mann, der Begrün­der der Homöo­pa­thie, bezeich­net die­se – sehr all­ge­mein gehal­ten – als “Stö­run­gen der Lebens­kraft” (was nicht aus­chließt, dass es tat­säch­lich ein­mal Ver­gif­tun­gen geben kann, zum Bei­spiel beim Ver­zehr eines gif­ti­gen Lebens­mit­tels). Mit “Stö­run­gen der Lebens­kraft” wer­den Krank­heits­ur­sa­chen ange­deu­tet, die sich nach dem mit­tel­al­ter­li­chen Modell von einer Ver­zah­nung von Mikro­kos­mos und Makro­kos­mos (Para­cel­sus u. a.) durch das ener­ge­ti­sche Her­aus­fal­len von Orga­nen oder Orga­nis­men aus dem Fluss der Lebens­en­er­gien erge­ben. Typi­sches Bei­spiel: Fehlt Kin­dern Son­nen­licht (aus dem Makro­kos­mos), ent­steht in ihrer Haut zu wenig bio­wirk­sa­mes Vit­amin D und es kommt zu einer Kno­chen-Mine­ra­­li­­sa­­ti­ons­­stö­rung, der Rachi­tis (Krank­heit im Mikro­kos­mos). “Mehr Licht” (Goe­the) ist hier­bei eine natur­heil­kund­li­che The­ra­pie. Inten­si­ve ent­zünd­li­che, eit­­rig-pus­­tu­­lö­­se Haut­in­fek­tio­nen als “Aus­­­lei­­tungs-The­ra­pie” im Sin­ne von Baun­scheidt sind übri­gens gar nicht so dras­tisch, wie oft ange­nom­men: Eine schwe­re Ope­ra­ti­on, eine auch gesun­des Gewe­be zer­stö­ren­de Strah­len­the­ra­pie oder eine tief­grei­fen­de Schä­den nicht nur an Krebs­zel­len aus­lö­sen­de Che­mo­the­ra­pie sind eben­falls kei­ne sanf­ten, neben­wir­kungs­ar­men Behand­lun­gen. Anders als die Baun­­scheidt-Behan­d­­lung füh­ren sie jedoch zu schwe­ren, lebens­läng­li­chen Schä­den im Kör­per, wäh­rend der ein­zi­ge Langzeit-“Schaden” der Lebens­­­we­­cker-Anwen­­dung eini­ger Mona­te oder Jah­re anhal­ten­de Pig­ment­stö­rung der ehe­mals ent­zün­de­ten Haut­area­le ist.

Auseinandersetzung mit Verfahren nötig

Aus­wech­sel­ba­rer Nadelkopf

Wer baun­scheid­tie­ren will, soll­te sich gut mit dem Ver­fah­ren aus­ein­an­der­set­zen. Eini­ge wich­ti­ge Grund­sät­ze sind unbe­dingt zu beach­ten: Die Nadelung wird nur in der ader­lo­sen Ober­haut vor­ge­nom­men (des­halb blu­tet es auch nicht). Mit wie­der­hol­ten Nadelun­gen kön­nen im Rah­men einer ein­zi­gen Behand­lung bis zu hand­gro­ße Haut­flä­chen gena­delt wer­den. Sofort danach folgt die Ein­rei­bung mit dem Haut­reiz-Öl. Ziel: Ein kräf­ti­ger Heil-Aus­schlag der gena­del­ten Haut, der oft etli­che Stun­den bis weni­ge Tage andau­ern kann. Um Ver­let­zun­gen zu ver­mei­den, darf nicht die dün­ne Haut über Kno­chen (Knie­ge­lenk, Wan­gen, Schlä­fen) gena­delt wer­den. Die Behand­lung von Kin­dern durch Lai­en soll­te grund­sätz­lich unter­blei­ben. Nach Abhei­lung der Ent­zün­dung kann die Behand­lung – bis zu 8x pro Jahr (kur­mä­ßig) – wie­der­holt wer­den. Die Ori­gi­nal-Anlei­tun­gen von Baun­scheidt ste­hen lei­der nicht mehr zur Ver­fü­gung. Die aktu­ell ver­füg­ba­re Lite­ra­tur wen­det sich vor allem an Ärz­te oder Heil­prak­ti­ker. So gibt es nur drei Mög­lich­kei­ten, sich als Gesund­heits-Laie das Ver­fah­ren anzu­eig­nen: Ein­füh­rung durch einen erfah­re­nen Prak­ti­ker der Metho­de, Lesen von Fach­li­te­ra­tur und Aus­pro­bie­ren. Anmer­kung: Ähn­lich wie ande­re Ver­fah­ren, die eigent­lich aus­chließ­lich zur Selbst­be­hand­lung kon­zi­piert wor­den sind – hier­zu zäh­len vor allem die Bach-Blü­ten­the­ra­pie, die Kom­plex­mit­tel-Homöo­pa­thie und die Schüss­ler­sche Bio­che­mie – bie­ten auch Ärz­te und Heil­prak­ti­ker ger­ne das Baun­scheidt-Ver­fah­ren an. Doch vom Grund­satz des Erfin­ders her gilt auch heu­te noch: Der “Baun­scheid­tis­mus” ist ein für kran­ke Men­schen (Lai­en!) zuge­dach­tes und für ihre per­sön­li­che Anwen­dung geeig­ne­tes Verfahren!

Für Baunscheidt-Anwendung geeignete Krankheiten

  • schmerz­haf­te Erkran­kung von Kno­chen, Seh­nen oder Gelen­ken (bei­spiels­wei­se Arthro­se, Arthri­tis, Gicht), Ten­nis­ell­bo­gen, anhal­ten­de Schulter-Arm-Schmerzen
  • Tri­ge­mi­nus-Neur­al­gie (hef­ti­ge Gesichts-Schmer­zen), Migräne
  • Erkäl­tungs­nei­gung (mehr als vier Erkäl­tun­gen pro Jahr)
  • Reiz­ma­gen (Übel­keit, Völ­le­ge­fühl), Ver­dau­ungs­schwä­che (Essen liegt “schwer” im Magen, Auf­sto­ßen, Blä­hun­gen), chro­ni­sche Ver­stop­fung (auch wech­selnd mit Durch­fall = Reizdarm)
  • chro­ni­sche Bla­sen-Ent­zün­dung (oft Harn­drang, Schmer­zen beim Uri­nie­ren, erfolg­lo­se Antibiotika-Behandlung)
  • Regel­pro­ble­me (schmer­zen­de, ver­stärk­te, ver­län­ger­te Monatsblutung
  • chro­ni­scher Schwin­del, Ohren­sausen, Ohr­ge­räu­sche (Tin­ni­tus)

Wei­te­res zu die­sem The­ma: Sie­he Lebenswecker

Autorin
• Mari­on Kaden, Natur & Hei­len (2008).
Quel­le
[1] Ernst E: Aku­punk­tur – end­lich Klar­heit? Deut­sche Medi­zi­ni­sche Wochen­schrift 2006;131:483–484. [2] Carl Baun­scheidt: Der Baun­scheid­tis­mus vom Erfin­der der neu­en Heil­leh­re. Acht­zehn­te unver­än­der­te Auf­la­ge. Carl Baun­scheidt & Co. Gesell­schaft mit beschränk­ter Haf­tung, Ende­nich bei Bonn, 1923. [3] Timm Wil­ly: Karl Baun­scheidt, Ein mär­ki­sches Leben. Ver­öf­fent­li­chun­gen aus dem Stadt­ar­chiv Hagen, S. 16.

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