Die zweite Wirklichkeit

Wem die an Faust ange­lehn­te und kurz ange­deu­te­te Dia­gno­se moder­ner und kapi­ta­lis­ti­scher Gesell­schaf­ten ver­traut vor­kommt, ahnt nicht nur etwas von der Aktua­li­tät, die Goe­thes Dich­tung aus­zeich­net, son­dern auch etwas von der Wirk­lich­keit der Alche­mie in unse­ren Tagen bzw. in unse­rem All­tag. Viel­leicht wer­den unter die­sem Ein­druck die ein­gangs zitier­ten Anhän­ger stren­ger Wis­sen­schaft­lich­keit bereit sein, den bis­lang ins Auge gefass­ten Teil der Rea­li­tät als alche­mis­tisch durch­dring­bar zu akzep­tie­ren. Sie wer­den ver­mut­lich aber immer noch eine Gren­ze vor ihrem eige­nen Ter­ri­to­ri­um zie­hen wol­len und der Alche­mie kei­nen Bewe­gungs­spiel­raum im wis­sen­schaft­li­chen Den­ken selbst einräumen.

Doch das erwähn­te Schat­ten­reich exis­tiert auch hier und die Abwehr­mau­ern las­sen sich auf unter­schied­li­chen Wegen ganz schnell über­win­den. Man braucht nur das Modell der Welt­ent­ste­hung zu nen­nen, das die Wis­sen­schaft heu­te bevor­zugt und ger­ne als Urknall (Big Bang) bezeich­net. Wenn die Theo­rien der Phy­si­ker zutref­fen, wird die mate­ri­ell gege­be­ne Wirk­lich­keit durch vier Qua­li­tä­ten cha­rak­te­ri­siert, die als Raum, Zeit, Ener­gie und Mas­se bekannt sind. Sie hän­gen sehr eng zusam­men, wie seit den Tagen Albert Ein­steins geläu­fig ist, und zwar so eng, daß es sogar mög­lich ist, sie gemein­sam aus einer Quel­le und in einer Zustands­form ent­sprin­gen zu las­sen. Details erfasst die Theo­rie des Urknalls, bei der ein Urstoff ent­steht, aus dem die Din­ge und ihre Kräf­te sich so her­aus­bil­den, wie sie sich uns heu­te zeigen.

Anders haben sich die Alche­mis­ten die Wirk­lich­keit auch nicht vor­ge­stellt. Seit Urzei­ten sahen sie die Rea­li­tät durch vier Ele­men­te bestimmt, die sie Feu­er, Erde, Was­ser und Luft nann­ten. Sie waren als Zustands­for­men einer Ursub­stanz zu den­ken, die in ent­spre­chen­den Tex­ten als “pri­ma mate­ria” (Urma­te­rie) bezeich­net wurde.

Wer die Welt in Urknall-Kate­go­rien begreift und sich dabei kor­rekt auf die phy­si­ka­li­schen Theo­rien beruft, denkt in bewähr­ten alche­mis­ti­schen Tra­di­tio­nen, in denen sich eine Sehn­sucht nach Ein­heit aus­drückt. Tat­säch­lich lässt sich vie­les von dem, was in alche­mis­ti­schen Labo­ra­to­ri­en geschieht, bes­ser ver­ste­hen, wenn man es unter die­sem Aspekt des Ein­heits­wun­sches betrach­tet. Er beschäf­tigt die Wis­sen­schaft nach wie vor, weil es offen­bar zum mensch­li­chen Wesen gehört, in die­ser Form zu den­ken. Unser Den­ken strebt gewis­ser­ma­ßen nach die­ser Form.

Wer das Ein­heits­ver­lan­gen der Alche­mis­ten so ernst nimmt wie den Wil­len zur Wis­sen­schaft­lich­keit, wird bald bemer­ken, daß in der immer wie­der ange­führ­ten Gold­ma­che­rei mehr steckt, als sich auf den ers­ten Blick erschließt. Die Auf­ga­be des Alche­mis­ten, unver­gäng­li­ches Gold her­zu­stel­len, bedeu­tet näm­lich nicht, das uned­le Blei zu erset­zen. Es geht viel­mehr dar­um, das in dem unvoll­kom­me­nen Stoff schon vor­han­de­ne Gold her­an­rei­fen und frei wer­den zu las­sen. Die­se Ver­wand­lung nennt man die Trans­mu­ta­ti­on, die der Stein der Wei­sen ermög­li­chen soll.

Es geht in der Alche­mie also um die Frei­set­zung einer Qua­li­tät. An die­ser Stel­le lässt sich auch sagen, was falsch war an der Alche­mie. Ihre Betrei­ber ver­harr­ten mit ihrem Den­ken in der kon­kret sicht­ba­ren Wirk­lich­keit. Sie trenn­ten den Kör­per nicht vom Geist, was bei­den einen irdi­schen Cha­rak­ter ver­lieh. Genau dies aber sieht die moder­ne Wis­sen­schaft anders. Denn wenn ein heu­ti­ger Bio­che­mi­ker uned­le Stof­fe (Roh­ma­te­ria­li­en und Homo­gena­te) nimmt, um zum Bei­spiel wert­vol­le Arz­nei­mit­tel dar­aus her­zu­stel­len, dann geht er zwar for­mal wie sein alche­mis­ti­scher Vor­läu­fer vor – als Stein der Wei­sen dient dabei ein Kata­ly­sa­tor -, aber er weiß, daß die Mole­kü­le, die er dabei aus dem Roh­stoff her­aus­löst, kei­ne kon­kret sicht­ba­re Rea­li­tät haben, son­dern einer sinn­lich nicht direkt wahr­nehm­ba­ren Wirk­lich­keit entstammen.

Im Gegen­satz zur Alche­mie kennt die moder­ne Wis­sen­schaft eine unsicht­ba­re Wirk­lich­keit, von der sicht­ba­re Wir­kun­gen aus­ge­hen, und sie kennt die­se zwei­te Wirk­lich­keit sowohl im phy­si­schen als auch im psy­chi­schen Bereich. Im ers­ten Fall sind die Ato­me gemeint, und im zwei­ten Fall ist vom Unbe­wuss­ten die Rede. Zwar wis­sen wir alle, daß es die­ses Schat­ten­reich des Den­kens gibt, aber die Anhän­ger der Wis­sen­schaft tun immer noch so, als ob es in ihrer Sphä­re kei­ne Rol­le spiel­te und die wis­sen­schaft­li­che Erkennt­nis unbe­rührt liesse.

Die Wirk­lich­keit der Alche­mie zeigt aber, daß dies nicht zutrifft, und es scheint, daß eine der wich­tigs­ten Ver­pflich­tun­gen der moder­nen Natur­for­schung dar­in bestehen könn­te, die Rol­le des Unbe­wuss­ten in der Wis­sen­schaft zu erkun­den [6]. Dabei könn­te das Glück gewon­nen wer­den, das im öko­no­mi­schen Bereich als ver­lo­ren gemel­det wor­den ist. Auf die­se Kon­se­quenz hat Adolf Port­mann bereits 1949 hin­ge­wie­sen, als er in sei­nem Essay “Bio­lo­gi­sches zur ästhe­ti­schen Erzie­hung” schrieb: “Unser geis­ti­ges Leben wird nur dann eine neue, glück­li­che­re Form fin­den, wenn der Mensch eben­so­sehr erstrebt, stark und groß zu sein im Den­ken wie im Träu­men.” [7]

Die­se Wand­lung steht uns noch bevor. Sie ist mög­lich und nötig – und zwar der Krea­ti­vi­tät wegen, auf die wir so ange­wie­sen sind.

Gestir­ne und Gesellschaft

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