Die Traumsymbole

Unge­fähr zu der Zeit, zu der Men­del in sei­nem Klos­ter­gar­ten an alche­mis­ti­sche Tra­di­tio­nen anknüpf­te und die durch Kreu­zung neu ent­stan­de­nen Erb­sen Hybri­de mit den Stamm­for­men bil­den ließ (Rück­kreu­zung), träum­te ein Che­mi­ker den wohl berühm­tes­ten Traum der Wis­sen­schafts­ge­schich­te. Gemeint ist August Kekulé, der sich zwar mit den meis­ten Ver­bin­dun­gen aus­kann­te, die Koh­len­stoff ein­geht, der in den 60er Jah­ren des 19. Jahr­hun­derts aber lan­ge Wochen hin­durch nicht wuss­te, wie er sechs Ato­me die­ser Art in Gemein­schaft mit Was­ser­stoff so ver­knüp­fen soll­te, daß eine sta­bi­le Ver­bin­dung ent­steht. Eines Abends muss Kekulé wohl vor einem Kamin ein­ge­schlum­mert sein, und beim trü­ben Blick in die beweg­li­chen Flam­men sah er inner­lich plötz­lich klar. In sei­nen eige­nen Worten:

“Wie­der gau­kel­ten Ato­me vor mei­nen Augen. Klei­ne­re Grup­pen hiel­ten sich dies­mal beschei­den im Hin­ter­grund. Mein geis­ti­ges Auge, durch wie­der­hol­te Gesich­te ähn­li­cher Art geschärft, unter­schied jetzt grö­ße­re Gebil­de von man­nig­fal­ti­ger Gestal­tung. Lan­ge Rei­hen, viel­fach dich­ter zusam­men­ge­fügt; alles in Bewe­gung, schlan­gen­ar­tig sich dre­hend. Und sie­he, was war das? Eine der Schlan­gen erfass­te den eige­nen Schwanz und höh­nisch wir­bel­te das Gebil­de vor mei­nen Augen. Wie durch einen Blitz­strahl erwach­te ich; auch dies­mal ver­brach­te ich den Rest der Nacht, um die Kon­se­quen­zen der Hypo­the­se auszuarbeiten.”

Die geschlos­se­ne Struk­tur, die Kekulé in sei­nem Traum erschie­nen ist und zu der sechs Koh­len­stof­fe gehö­ren, heißt in der Fach­spra­che Ben­zol. Das Bild zeigt eine moder­ne Dar­stel­lung des Ben­zol­rings und eine Dar­stel­lung des Ourob­oros, von denen es zahl­rei­che Vari­an­ten aus allen Epo­chen der Geschich­te gibt.

Im Zen­trum des Trau­mes win­det sich eine Schlan­ge, die zu einem Ring ver­bo­gen ist, weil sie sich in den Schwanz beißt. Die­se Figur gehört zu den ältes­ten Sym­bo­len der Alche­mie. Sie war schon vie­le Jahr­hun­der­te vor Chris­ti Geburt bekannt und heißt Ourob­oros oder Urob­oros. In die­sem Zusam­men­hang genügt es, das Sym­bol als Kreis­form zu deu­ten. Ein Kreis ist in sich geschlos­sen, und er schei­det ein Innen von einem Außen. Aber es gibt noch eine wei­te­re Beson­der­heit, denn die Kreis­li­nie trennt, was eigent­lich eins ist, und was wie­der eins wer­den will. Hier steckt der Grund für das, was oft etwas dun­kel das Ein­heits­er­leb­nis der Alche­mie genannt wird und das der moder­nen Natur­wis­sen­schaft lei­der völ­lig abhan­den gekom­men ist.

Für uns am deut­lichs­ten getrennt – und zwar seit den Zei­ten von Des­car­tes – sind Geist und Kör­per. Die­se Vor­stel­lung ist den Alche­mis­ten fremd. Sie behan­deln Kör­per und Geist gleich­ge­wich­tig und stel­len sich vor, daß der Geist im Inne­ren von Kör­pern sitzt und dar­auf war­tet, befreit zu wer­den (zum Bei­spiel durch geeig­ne­te Erzie­hung bzw. Bil­dung). Über­haupt gilt, daß die Umwand­lungs­ak­tio­nen der Alche­mis­ten nicht dar­auf abziel­ten, etwas Neu­es zu schaf­fen, son­dern nur dazu dien­ten, etwas Vor­han­de­nes zu befrei­en. Alche­mis­ten fol­gen der Natur, um sie zu voll­enden und dadurch zu befrei­en. Die moder­ne Form der Natur­wis­sen­schaft tut unter der Füh­rung von Bacon etwas ande­res. Sie unter­wirft sich die Natur, um sie zu beherr­schen. Genau an die­ser Stel­le steckt auch der Unter­schied zu der Bio­tech­no­lo­gie unse­rer Tage, die durch gene­ti­sche Ein­grif­fe nach Wan­del strebt. Doch wäh­rend die Alche­mie das Inne­re befrei­en woll­te, bemüht sich die Bio­tech­no­lo­gie, das Inne­re (gene­tisch ver­stan­den) zu beherr­schen. Die Fra­ge, wel­che die den Men­schen ange­mes­se­ne­re Art ist, scheint zwar noch nicht ent­schie­den zu sein, wir kön­nen trotz­dem aber ver­su­chen, eine Ant­wort zu geben. Sie gelingt am bes­ten, wenn wir vor­aus­set­zen, daß etwa der rus­sisch-ame­ri­ka­ni­sche Dich­ter Joseph Brod­sky recht hat, der Men­schen dadurch cha­rak­te­ri­siert, daß er sie als pri­mär ästhe­ti­sche Wesen bezeich­net. Erst wis­sen wir, was schön ist, bevor wir ler­nen, was gut ist. Mit ande­ren Wor­ten, Men­schen stre­ben nach Schön­heit, und wenn wir an die­ser Stel­len einen wei­te­ren Poe­ten zu Rate zie­hen – näm­lich Fried­rich Schil­ler – und an sei­ne Ein­sicht erin­nern, daß Schön­heit Voll­kom­men­heit in Frei­heit ist, dann erkennt man ein Pro­blem der Bio­tech­no­lo­gie, das die Alche­mie nicht hat­te. Mit gene­ti­schen Mani­pu­la­tio­nen wird Voll­kom­men­heit in Unfrei­heit geschaf­fen. Exis­tie­ren­de Orga­nis­men sol­len ver­bes­sert und auf einen Nut­zen hin per­fek­tio­niert wer­den, und zwar durch Vor­ga­ben von außen. Bei sol­chen Vor­gän­gen wird nichts befreit (und ver­wan­delt), son­dern alles nur bestimmt. Viel­leicht soll­te die Bio­tech­no­lo­gie von der Alche­mie lernen.

Die zwei­te Wirklichkeit

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