Der folgende Ausflug zu einer der Fundamente der Naturmedizin dreht sich um einen “roten Faden”, der von Paracelsus bis ins 21. Jahrhundert reicht und schließlich in das moderne Verständnis der “Hormesis” mündet. Hierzu werden einige Beispiele genannt (einige hiervon folgen nicht hormetischen Lebensreaktionen). Hieraus sind allerdings keine direkten Handlungsanweisungen für den therapeutischen Alltag, die Gesundheitsversorgung oder die Krankheitsvorbeugung abzuleiten. Vielmehr sind die Beispiele ein Angebot, mit der Hormesis-Theorie kreativ, individuell und unvoreingenommen eigene Vorgehensweisen als Patient, Angehöriger, Arzt, Heilpraktiker, Psychotherapeut, Pflegekraft oder Ernährungsberater neu zu beleuchten und zu hinterfragen.
Paracelsus: Auch Heilmittel können Gift sein
“Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis machts, daß ein Ding kein Gift sei. Zum Exempel: eine jegliche Speise und ein jeglich Getränk, wenn es über seine Dosis eingenommen wird, so ist es Gift.”
Quelle: Theophrast von Hohenheim (Paracelsus): Septem Defensiones (Sieben Verteidigungsreden), 1538. Erstdruck in lateinischer Übersetzung: Argentorati (Mylius) 1566. Erste deutsche Ausgabe: Basel (Perna) 1574.
In: Will-Erich Peukert (Hrsg.): Theophrast Paracelsus: Werke. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 1965.
Dieses wichtige Zitat des großen mittelalterlichen Gelehrten und Heilkundigen Paracelsus (Theophrast von Hohenheim, 1493–1541) wird in der medizinischen Literatur bis heute oft zitiert. Der Grund scheint offensichtlich: irgendwie kann alles giftig oder gar tödlich sein, wenn man davon zu viel nimmt, auch und vor allem Heilmittel. Doch Paracelsus bringt weitaus mehr zum Ausdruck, was dann über Jahrhunderte wie ein roter Faden bis in die moderne Naturmedizin hineinreicht: Alles, was wir in der Welt vorfinden, in der wir jetzt leben, oder was wir therapeutisch tun können, so Paracelsus, kann im Übermaß verwendet, giftig sein, kann das Leben schädigen oder sogar den Tod herbeiführen. Alles!
Anders als viele Menschen heute glauben, wurde das irdische Leben in mittelalterlichen Zeiten vor allem als ein von Gott geschaffenes Jammertal erlebt – voller Krankheit, Schmerzen, Not und Leid. Es war damit – so die christliche Idee – ein Weg zum ewigen Jerusalem, zurück in den Himmel (Psalm 84, 7: “Durchqueren sie das dürre Jammertal, so wird es durch sie zu einem Ort mit Quellen”). Ärzte und Heilerinnen wurden als Wegbegleiter verstanden, die ganzheitlich diesen Weg “zurück zu Gott” erleichtern halfen – also bei der Rückverbindung (“Re-ligio”). Die Aufgaben von Ärzten und Priestern überschnitten sich damals noch häufig.
Aberglauben in der wissenschaftlichen Medizin
Heute unterliegt die moderne Medizin dem Aberglauben, ein Leben ohne Krankheit und Leid sei möglich und wünschenswert, ewige Glückseligkeit, luxuriöser Dauergenuss oder ständige verzückte Entrückung sei anstrebenswert und (mit viel Geld) realisierbar. Das geht so weit, dass z. B. die italienische Verfassung seit 1993 ein “grundlegendes Recht des Individuums auf Gesundheit” etablierte. Dass Kranke dieses Grundrecht überhaupt nicht einfordern können, sondern höchstens eine optimale Vorbeugung oder Behandlung, ist dem italienischen Gesetzgeber nicht aufgefallen!
In den folgenden Jahrhunderten nach Paracelsus wurden die Grundprinzipien der Wissenschaft herausgearbeitet, die Bedeutung der Religion für Alltag und Lebensführung trat zunehmend zurück und die Auffassungen von Krankheit und Gesundheit drifteten zunehmend auseinander. Im 19. Jahrhundert wurde schließlich Gott aus der (wissenschaftlichen) Schöpfung verbannt und ein brachiales Überlebens-Konzept des Stärkeren als grundlegender Impuls der Evolution definiert (entsprechend des menschenverachtenden Denkens damaliger Kolonialherrscher). Doch zur gleichen Zeit gab es auch andere Entwicklungen: In dem deutschen Sozialsystem wurde ab 1883 z. B. die Idee einer umfassenden und für alle Menschen gültigen Solidargemeinschaft eingeführt, die in unserem Gesundheitssystem bis heute – international beneidet – lebendig ist. Und: Etwa zur gleichen Zeit präzisierten die beiden Greifswalder Professoren Rudolf Arndt (1835–1900) und Hugo Paul Friedrich Schulz (1853–1932) die oben zitierte Aussage von Paracelsus:
Biologisches Grundgesetz – die Arndt-Schulz-Regel
“Schwache Reize fachen die Lebensthätigkeit, d. h. die, an welcher wir das Leben erkennen, stärkere, mittelstarke beschleunigen, fördern sie, starke hemmen und stärkste heben sie auf.”
Quelle: Rudolf Arndt: Biologische Studien. I. Das biologische Grundgesetz. Abel, Greifswald, 1892.
Dieses “biologische Grundgesetz” wird heute in erweiterter als “Hormesis”-Theorie bezeichnet (aus dem griechischen von “Anregung, Anstoß”). Mit allerhöchstem Erstaunen haben nicht nur Arndt und Schulz, sondern viele weitere Wissenschaftler seither erkannt, dass die Hormesis nicht nur ein grundlegendes Lebensprinzip zu sein scheint, wie schon von Paracelsus festgestellt, sondern dass sie auch viele Methoden der Naturmedizin in ihrer Wirkung charakterisiert oder deutliche abgrenzt. Zwei der weltweit angesehensten Hormesis-Forscher der USA, Mark P. Mattson und Edward J. Calabrese, fassen nachfolgend den Status quo ihres Forschungsgebietes zusammen:
Mattson & Calabrese: Die Wissenschaft der Hormesis
“Mit Hormesis wird ein Vorgang beschrieben, bei dem eine Zelle, ein Organismus oder eine Gruppe von Organismen eine doppelphasige Reaktion auf die Exposition gegenüber steigender Mengen einer Substanz (z. B. eines Arzneistoffes) oder anderer Einflüsse (z. B. chemische oder sensorische Reize oder metabolischer Stress) zeigt. Typischerweise lösen niedrig dosierte Substanzen oder Einflüsse eine stimulierende oder positive Reaktion im Organismus aus, während hohe Dosen eine Hemmung oder Toxizität verursachen. Toxikologische Experimente bei der Hormonbildung konnten beispielsweise oftmals einen solchen doppelphasigen Dosis-Wirkungs-Verlauf zeigen. Allerdings wurden die Ergebnisse nach niedriger Exposition meist weitgehend ignoriert. So kommt es zur vorherrschenden Meinung, dass es wichtig ist, grundsätzlich die Menge von Giftstoffen oder potentiell schädlichen Einflüssen so weit wie möglich zu verringern. In vielen Fällen haben “Toxine” in niedriger Dosierung jedoch funktionell entscheidende oder vorteilhafte Wirkungen für Lebewesen. Bekannte Beispiele für solche nützlichen “Giftstoffe” sind Spurenmetalle wie Selen, Chrom und Zink. Auch die grundlegende Informationsweitergabe innerhalb oder zwischen Zellen weist oft hormetische Reaktionsverläufe auf, einschließlich Hormonen, Neurotransmittern, Wachstumsfaktoren, Kalzium oder Proteinkinasen. Darüber hinaus wirken alltägliche, gesundheitsfördernde Lebensstilfaktoren, einschließlich Bewegung oder Kalorien-Einschränkungen, zumindest teilweise, durch hormetische Mechanismen vorteilhaft auf den Organismus. Dabei werden auch adaptive zelluläre Stressantwortbahnen aktiviert (ACSRPs). Diese beinhalten typischerweise an Kinasen gekoppelte Rezeptoren und die Aktivierung von Transkriptionsfaktoren, die zusammen die Bildung von Zellschutz-Eiweißen wie z. B. antioxidativen Enzymen, eiweißschützenden Chaperonen oder lebensnotwendigen Wachstumsfaktoren auf Grundlage von Erbgutinformationen anstoßen. Einsichten in hormetische Reaktionsverläufe bei der Hormonbildung haben bereits zu neuen Ansätzen für die Vorbeugung und Behandlung einer Reihe von Krankheiten, darunter Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und neurodegenerativen Erkrankungen geführt.”
Quelle: Mark P. Mattson, Edward J. Calabrese (eds.): Hormesis – A Revolution in Biology, Toxicology and Medicine. Springer, New York, 2010.
Das Hormesis-Axiom durchzieht die traditionelle und moderne Naturmedizin, aber nicht immer
Kälteanwendung: Klar, enorme und vor allem andauernde Kälte ist mit dem Überleben kaum vereinbar – alle Lebenstätigkeiten kommen von außen nach innen fortschreitend zum Erliegen. Ein intensiver Kältereiz von z. B. minus 110 Grad Celsius, der aber nur für wenige Minuten angewandt wird, feuert jedoch die Lebenstätigkeit und vor allem die Selbstheilung enorm an. In der Schmerz‑, der Rheumatherapie und selbst der Psychiatrie wird diese “Kryotherapie” in der Kältekammer bereits erfolgreich erprobt und angewandt. Aus “Omas Zeiten” oder von den Wassertherapie-“Päpsten” Vincenz Prießnitz (1799–1851) und Sebastian Kneipp (1821–1897) sind viele Anwendungen von kurzen Kältereizen zur Therapie vieler, auch innerer Erkrankungen bekannt (Wechselduschen oder kurze Kaltwassergüsse). Das biologische Grundgesetz findet sich genauso auch bei der vorbeugend oder therapeutisch eingesetzten Anwendung von Wärmereizen (wobei die Pyrovasie, das Gehen über glühende Kohlen, eher psychomotivierende Effekte hat).
Hormone: “Viel hilft viel” stimmt in vielen Lebensbereichen überhaupt nicht. Zum Beispiel bei der Wirkung von hormonellen Signalsubstanzen im Körper. Eine Überschüttung mit Hormonen, z. B. krankhaft gesteigert gebildeten Stresshormonen, kann eher zu Krankheit und Tod führen. Umgekehrt gibt es viele Hormone oder hormonähnliche wirkende Substanzen, die bereits in unglaublich niedrig erscheinenden Mengen wirksam sind, manchmal reichen nur wenige Moleküle aus. Zum Beispiel bei der schmerzlindernden Wirkung des Geburts- und Kuschelhormons Oxytocin, die derzeit erforscht wird. Dies wird vor allem bei der staatlichen Risikobewertung gerne vergessen! Hormonartige wirkende Umweltschadstoffe wie der Plastikweichmacher Bisphenol greifen nicht nur in hohen Konzentrationen, sondern auch bereits in geringsten Dosierungen in unseren Hormonhaushalt ein und führen nachhaltig zu Schädigungen. Von einer “Anfachung der Lebensthätigkeit” kann also in keinem Fall die Rede sein.
Krebsauslösung: Einen Schritt weiter als die Hormesis-Theorie geht heute die moderne Krebsmedizin. Sie stellt ganz klar fest, dass es bei vielen erbgutschädigenden Stoffen oder Einflüssen in unserer schadstoffverseuchten Umwelt weder eine lineare Dosis-Wirkungs-Beziehung noch einen U‑förmigen Verlauf gibt, wie er für hormetisch wirkende Reize/Stoffe gilt. Bereits ein einziges Molekül oder eine einzige Strahlungseinheit kann in solchen Fällen ausreichen, eine Mutation in einem für die Krebsentstehung kritischen Gen herbeizuführen (siehe unten bei Radioaktivität). Dies deckt sich mit neuesten Forschungsergebnissen, die frühe maligne Veränderungen im Körper bereits 30 Jahre vor dem Auftreten symptomatischer Krebserkrankungen nachweisen können. Und es stellt die Grundlagen der Krebsmedizin auf den Kopf: Die Onkologie der Zukunft wird antreten, nicht um die Beschwerden einer manifesten Krebserkrankung zu lindern oder zu heilen, sondern die grundlegende Krankheitsneigung, die Disposition, zu erkennen und die Menschen mit einem geeigneten Vorgehen vor Schaden zu bewahren.
Wirksam, einfach und kostengünstig: Handauflegen
Be-Handlung: Die älteren von uns kennen sie noch: Die “schwedische Massage”, mit der kräftige Masseure, z. B. ältere Ringer oder Matrosen, die Muskulatur durchwalkten, weil dies eine Heilung von Rückenschmerzen und anderen Leiden versprach. Tatsächlich sind die Heilungseffekte bei solch übermäßigen Reizen jedoch begrenzt oder fehlen völlig. Ähnliches gilt für die in der Lebenswirklichkeit oft brutal erscheinende chinesische Tuina-Massage und ‑Manualtherapie. Andere Massagen hingegen, bei denen sehr viel weniger körperliche Reize ausgeübt werden – zum Beispiel bei der rhythmischen Massage nach Hauschka, Reiki oder “Therapeutic Touch” -, wirken hingegen oft viel tiefgreifender und nachhaltiger. Zumindest ansatzweise zeigt sich hier die Gültigkeit des Hormesis-Axioms (starke ~ schwache Reize). Widersprüchliche wissenschaftliche Ergebnisse zeigen sich bei Behandlungen, wo nur noch “Geistiges” zum Einsatz kommen soll: Geistheilung oder Fürbitten mit Fernwirkung sind zwar in den USA mehrfach untersucht worden. Sie haben jedoch keine in der Lebenswirklichkeit umsetzbaren “Praxisanweisungen” erbracht, die über die sehr konkreten Hinweise vieler Religionen zum Beten für andere Lebewesen hinausgehen. Wichtig: Am wirksamsten ist die “Be-handlung” von Kranken im ambulanten und vor allem klinischen Therapieumfeld dann, wie wissenschaftliche Forschungen eindeutig zeigen, in Form des “Handauflegens”, einer uralten “Technik” der Menschheit, die auch ohne irgendwelche obskuren Meister funktioniert. Da Handauflegen jedoch wirksam, einfach umsetzbar und nahezu kostenlos ist, wird das Verfahren – trotz seiner vielfachen wissenschaftlichen Validierung – praktisch niemals im medizinischen Alltag angewandt.
Eustress: Schon das Stresskonzept von Walter Bradford Cannon (1871–1945) und Hans Selye (1907–1982) enthielt eine Definition von Reizen (“Stressfaktoren”), die den Organismus positiv oder sogar heilsam beeinflussen, der sog. “Eustress”. Hier wird jeder eigene Beispiele finden: Die kakophonische Lautstärke eines Heavy Metal-Konzert bedeutet für fast jede Seele “Dysstress” (das sind Reize, die als unangenehm, bedrohlich oder überfordernd wirken). Während ein wohlklingendes Schubert-Streichquartett eher seelenpflegend und heilsam wirkt (selbst bei Milchkühen…!). Und auf diese Weise einen harmonischen Gleichgewichtszustand in einem offenen dynamischen System fördert (Homöostase), wie ihn auch Cannon schon beschrieb. Insgesamt ist das Stress-Konzept trotz der gewaltigen Forschung und Literatur dazu in keinster Weise einheitlich und auch nicht mit dem Hormesis-Axiom in Deckung zu bringen. Dies gelingt nur, wenn einzelne Reize die von innen oder außen auf uns einwirken isoliert betrachtet werden. Der erwähnte “Stressor” Kälte ist z. B. ein hormetischer Reiz, ist also in niedriger Dosis lebens- und sogar heilungsfördernd.
Stress und Salutogenese
“Stressoren werden nicht als etwas Unanständiges angesehen, das fortwährend reduziert werden muss, sondern als allgegenwärtig. Darüber hinaus werden die Konsequenzen von Stressoren nicht notwendigerweise als pathologisch angenommen, sondern als möglicherweise sehr wohl gesund – abhängig vom Charakter des Stressors und der erfolgreichen Auflösung der Anspannung.”
Quelle: Aaron Antonovsky: Salutogenese – Zur Entmystifizierung der Gesundheit. dgvt, Tübingen, 1997.
Homöopathie: Vor über 200 Jahren trat der Apotheker und Arzt, Samuel Hahnemann (1755â“1843) in die Fußstapfen von Paracelsus und schuf mit der Entwicklung der Homöopathie einen “intellektuellen Reiz”, der Schulmedizin und Naturmedizin bis heute voneinander trennt. Dabei fing alles so einfach an: Hahnemann wusste und kritisierte, dass viele seiner Kollegen damals übliche Therapien, z. B. mit Quecksilber oder Aderlässe, so überdosierten, dass sie die Lebenstätigkeiten massiv schädigten (“viel hilft viel”, siehe oben). So begann Hahnemann mit der Suche nach einer geringstmöglichen Heilmittel-Dosis, bei der sich aber noch therapeutische Wirkungen einstellen. Er bestätigte mit jahrzehntelangen Forschungen, dass viele pflanzliche, tierische oder mineralische Wirkstoffe erst dann “kein Gift” mehr sind und eine Heilwirkung entfalten, wenn sie verdünnt werden (“schwache Reize”). Auf dem Weg der fortschreitenden Verdünnung von Wirkstoffen überschritt er irgendwann, und das war ihm durchaus bewusst, eine Grenze: Wird nämlich die “Potenzierung” genannte Verdünnung immer weiter fortgesetzt, fehlt irgendwann der ursprüngliche Wirkstoff völlig (ab der 23. 1:100-Potenzierungsstufe). Seine Technik, die Wirkstoff-Verdünnung durch rhythmische Verschüttelung bis in diese – stofffreien – Bereiche fortzusetzen, ist medizinhistorisch betrachtet ein alchemistisches Verfahren, wie jene, die auch Paracelsus für seine Patienten nutzte.
Hahnemann und viele Homöopathen nach ihm sind sicher, dass auch diese stofffreien Präparate (“Hochpotenzen”) heilen können. Warum, ist seit über 200 Jahre unklar geblieben. Hahnemann selbst hat immer betont, es sei nicht wichtig, wie es funktioniert, sondern dass es funktioniert. Die zuvor erwähnten Professen Arndt und Schulz waren übrigens der Ansicht, dass ihr biologisches Grundgesetz die Homöopathie erklären könne (mit Ausnahme der geistartig wirkenden Hochpotenzen natürlich). Tatsächlich hat die Homöopathie als Ganzes (Ähnlichkeitsprinzip, homöopathische Arzneimittelprüfung, Potenzierung u. a.) aber nichts mit dem Hormesis-Axiom zu tun. Die Homöopathie gehört zu jenen Therapie-Konzepten, bei denen klassische Wirkungsbegriffe der Medizin überwunden werden, wo also auch das Konstrukt von Dosis-Wirkungs-Beziehungen nicht mehr gilt, und damit therapeutisches Neuland betreten wird. Genau dieser Vorstoß ins Unbekannte macht den Dauerstreit zwischen Homöopathen und Allopathen seit rund 200 Jahren aus, wobei sich übrigens auch viele Homöopathen selbst von der innovativen Großartigkeit der Hahnemann’schen Ideen erschlagen fühlen und händeringend nach Erklärungen suchen (der hält dem jedoch als zentrale Handlungsanweisung entgegen: “Macht’s nach, aber macht’s genau nach!”).
Hahnemann: “Des Arztes höchster und einziger Beruf ist, kranke Menschen gesund zu machen, was man Heilen nennt”.
Fußnote: Nicht aber (womit so viele Aerzte bisher Kräfte und Zeit ruhmsüchtig verschwendeten) das Zusammenspinnen leerer Einfälle und Hypothesen über das innere Wesen des Lebensvorgangs und der Krankheitsentstehungen im unsichtbaren Innern zu sogenannten Systemen, oder die unzähligen Erklärungsversuche über die Erscheinungen in Krankheiten und die, ihnen stets verborgen gebliebene, nächste Ursache derselben u. s. w. in unverständliche Worte und einen Schwulst abstracter Redensarten gehüllt, welche gelehrt klingen sollen, um den Unwissenden in Erstaunen zu setzen, während die kranke Welt vergebens nach Hülfe seufzte. Solcher gelehrter Schwärmereien (man nennt es theoretische Arzneikunst und hat sogar eigne Professuren dazu) haben wir nun gerade genug, und es wird hohe Zeit, daß, was sich Arzt nennt, endlich einmal aufhöre, die armen Menschen mit Geschwätze zu täuschen, und dagegen nun anfange, zu handeln, das ist, wirklich zu helfen und zu heilen.
Quelle: Samuel Hahnemann: Organon der Heilkunst, 6. Auflage, 1842 (Paragraph 1).
Placebo: Das biologische Grundgesetz und seine moderne Form der Hormesis-Theorie ist – wie der Abschnitt zur Homöopathie zeigt – nicht in Stein gemeißelt und fordert nicht nur die Hahnemann-Schüler geradezu heraus, weiter zu denken. Dies tun auch weltweit viele zehntausend Mediziner und Wissenschaftler, die tagtäglich Therapieforschung mit dem Vergleich von neuen Arzneimitteln und “wirkstofffreien” Präparaten betreiben – also mit den sogenannten Placebos (nicht aber mit homöopathischen Hochpotenzen!). Nur wenige Forscher denken jedoch laut darüber nach, wie faszinierend es eigentlich ist, dass Placebos überhaupt so häufig, so deutlich heilende Wirkungen haben können (und manchmal auch Nebenwirkungen!). Lauthals und querdenkerisch hat allerdings der ehemalige deutsche Ärztekammerpräsident Prof. Dr. Dr. Jörg-Dietrich Hoppe (1940–2011) darüber nachgedacht. Nach Publikation einer maßgebenden Ärztekammer-Zusammenfassung der Placeboeffekte (“sie wirken”, “sie wirken umso besser, je größer und bunter sie sind und je teurer sie sind”, “sie wirken auch, wenn die Patienten genau wissen, dass sie wirkstofffreie Placebos einnehmen”) stellte Hoppe fest, dass dieses Therapiekonzept unbedingt in die Praxis aller Ärzte gehört. Eine Forderung, die bis heute nicht gehört wird.
Die von Hoppe angeregte Idee, wie Placebos die Hormesis-Theorie erweitern, ist schon sehr anspruchsvoll: Herkömmliche medizinische Maßnahme sind oft nicht nur wirkungslos, sondern auch extrem nebenwirkungsreich – sie schädigen die Lebenstätigkeit maximal (z. B. absichtlich bei der Strahlen- oder Chemotherapie gegen Krebs). Und für Ärzte kommt es noch ärger: Wirklich nachhaltige Heilung kommt nicht hierdurch, sondern primär durch Eigenaktivitäten des Menschen zustande. Beispiel: Antibiotika können zwar Bakterien bei einer Infektion schwächen oder in ihrer Anzahl verringern. Die körperlichen Schäden durch die Infektionskrankheit und die Antibiotika muss der Körper aber selbst reparieren, was er schlecht und recht auch meistens schafft. Jenseits jeder “materiellen” Therapie könnte es deswegen sein, so Hoppe, dass mit der Placebo-Gabe eine Botschaft an den kranken Menschen gesendet wird, seine Selbstheilung zu aktivieren oder zu verstärken. Und so – eigenständig – eine Heilung oder Beschwerdelinderung zu erreichen. Ärzte und Heiler als “Katalysatoren von Heilung” sind deswegen so gut für eine Placebotherapie geeignet, da sie ausgeprägte und lebendige innere Vorstellungen von Krankheit und Gesundheit haben und diese quasi als “Heilungsidee” mit einem Placebo an ihre Patienten weiterreichen.
Lebensmittel sind zum Gift geworden, zum lebensfeindlichen Stressor
Lebensmittel: “Eure Lebensmittel sollen Eure Heilmittel sein”, stellte der Übervater der griechischen Medizin Hippokrates von Kós (um 460 v.Chr. – um 375 v.Chr.) vor rund 2.500 Jahren fest. Wer bedenkt, dass heute mehr Menschen an Übergewicht sterben als an Hunger, wird klar erkennen, dass “Lebensmittel” heute keine dem gesunden Leben dienenden Heilmittel sind. Sie sind eher krankmachende Mega-Reize aus industrieller Massenproduktion, die – neben Krieg – zu den größten Gesundheitsschäden der Menschheitsgeschichte führen – Zuckerkrankheit, Übergewicht und krebsbedingtem Tod. Zusammen mit dem Stresskonzept erklärt die Hormesis-Vorstellung, welches einfache Problem fast alle Gesellschaften weltweit heute haben: Lebensmittel sind zum Gift geworden, zum lebensfeindlichen Stressor (Dysstress). Und da diese agroindustriellen Massenprodukte unfähig sind, ihren eigentliche Zweck zu erfüllen – uns nämlich mit notwendigen Nährstoffen und aufbauender Lebensenergie zu versorgen – entsteht eine zunehmende, aber immer unbefriedigt bleibende Sucht, mehr und mehr von diesen Giften aufzunehmen. Eine Fülle ernährungsbedingter Erkrankungen, krankhaftes Übergewicht und viele weitere schädigende Auswirkungen sind die Folgen. Im Sinne der Hormesis ist die Alternative klar: Gnadenlose Reduktion der täglichen Giftaufnahme, ernsthafte Suche nach “echten” Lebensmitteln und ein, dem wirklichen Bedarf entsprechender Verzehr dieser Nahrung. Nur dann können Lebensmittel wieder Heilmittel sein und uns am besten vor Giften und unnötigen Schäden schützen und uns Heilung bringen, wie Hippokrates meinte.
Osterspaziergang: Tödliche Arznei
“Der Menge Beifall tönt mir nun wie Hohn.
O könntest du in meinem Innern lesen,
Wie wenig Vater und Sohn
Solch eines Ruhmes wert gewesen! (…)
Hier war die Arzenei, die Patienten starben,
Und niemand fragte: wer genas?
So haben wir mit höllischen Latwergen
In diesen Tälern, diesen Bergen
Weit schlimmer als die Pest getobt.
Ich habe selbst den Gift an Tausende gegeben,
Sie welkten hin, ich muß erleben,
Daß man die frechen Mörder lobt.”
Quelle: Johann Wolfgang von Goethe: Faust – Eine Tragödie. Cotta’sche Verlagsbuchhandlung, Tübingen, 1808.
Lebensqualität: Vieles im Leben ist nicht mit Geld zu kaufen, klar. Hierzu gehört auch das, was seit wenigen Jahrzehnten in der Medizin als “Lebensqualität” (QOL – quality of life) bezeichnet wird. Zunächst wurde damit ein seelisch-geistig-körperliches Wohlbefinden gemeint, das jedoch in der Gesundheitsforschung völlig unberücksichtigt blieb. Besonders in der Krebsmedizin war und ist es einfach, einfach das, durch eine bestimmte Therapie erreichte Mehr an Lebenstagen, ‑wochen oder ‑monaten zu zählen. Wie aber sollte Lebensqualität gemessen werden? Die Weltgesundheit-Organisation WHO definiert Gesundheit zwar als “ein Zustand vollständigen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit oder Gebrechen.” Was jedoch Wohlbefinden sei, ist weiterhin unklar (zumal dies von Staat zu Staat oft unterschiedlich verstanden wird). Klar ist jedoch, dass es um ein Thema geht, dass sehr viel weiterreicht, als bisher angenommen (siehe Abschnitt Placebo).
So waren Krebsärzte in aller Welt erschüttert, als die US-amerikanische Krebsärztin und Palliativmedizinerin Prof. Dr. Jennifer Temel vor rund 10 Jahren Studienergebnisse vorlegte, die unzweifelhaft zeigten: Eine frühe, nur Beschwerden lindernde, also palliativmedizinische Versorgung von Patienten mit metastasiertem Lungenkrebs verlängert – gegenüber fortgesetzter Chemotherapie – nicht nur erheblich die Lebensqualität, sondern auch die Lebensdauer der Betroffenen. Heute wird in Deutschland kaum noch eine Krebsstudie durchgeführt, ohne die Lebensqualität zu erfassen. Auch bei diesem Beispiel zeigt sich, dass die Beendigung maximal schädlicher Krebstherapien bei Sterbenskranken und die alternative, an den wahren Bedürfnissen der Patienten orientierte Behandlung, die hormetisch beste Alternative ist. Und es kommt noch besser: Jenseits von der Palliativmedizin fragen manche Onkologen und Forscher heute sogar nach den individuellen Wünschen der schwerkranken Patienten. Zum Beispiel hinsichtlich ihrer Ziele, die es noch zu erreichen gilt oder hinsichtlich innerer Entwicklungen, die ihnen wichtig sind. Dies sind Elemente der Selbstheilung, die Menschen dann möglich wird, wenn sie selbstbestimmt über ihr Leben zu entscheiden.
Fasten ist Hormesis pur, Fasten ist aber nicht Hungern!
Fasten: Es gibt wohl keine Lebenssituation, die Menschen seit Anbeginn an so kontinuierlich begleitet, wie das Fasten – also der Nahrungsverzicht. Und es gibt nur wenige Beispiele, die so elementar die Hormesis-Theorie bestätigen. Wenn “Nahrungs- oder Energieaufnahme” als ein Lebensreiz (für viele auch ein Stressor) betrachtet wird, ist klar: Ein “zu viel” macht krank (siehe Lebensmittel), und ein “zu wenig” führt nach Tagen, Wochen oder Monaten zum Tode. Es stellt sich nur die Frage, welche “Dosis” des Heilmittels Lebensmittel (Hippokrates) ist “richtig”, also am nachhaltigsten vorteilhaft für unsere Gesundheit wirksam?
Und hier hat einer der renommiertesten US-Altersforscher, Prof. Dr. Mark P. Mattson, Baltimore, eine bahnbrechende Entdeckung gemacht, die tief in das Nähkästchen der Schöpfung/Evolution blicken lässt. Bei seinen jahrzehntelangen Untersuchungen zu den Effekten von vorübergehender Nahrungseinstellung auf die Alterung zeigte sich: Obwohl dies landläufig ein hormetisch schädigender Reiz sein sollte und Gesundheit und Lebenserwartung einschränken sollte, zeigten nahezu alle Versuchstiere eine unerwartete gegenteilige Reaktion. Die deutliche und längerfristige Reduktion der Energieaufnahme/Nahrung erhöhte bei ihnen die Vitalität, löste Heilungsprozesse aus, beugte Erkrankungen vor und erhöhte signifikant die Lebenserwartung der Labortiere. Teilweise, bei niederen Tieren, bis zum tausendfachen ihrer “normalen” Lebenserwartung. Dies bestätigte erstmals wissenschaftlich die alte Aussage von Naturmedizinern, dass Fasten nicht nur eine religiös wichtige Methode ist, sondern zu den grundlegenden Heilverfahren der Geschichte gehört.
Warum dies so ist, begannen Mattson und Kollegen zu verstehen, als sie uralte, im Erbgut vorhandene Mechanismen entdeckten, die bei länger anhaltendem Stopp der Nahrungszufuhr anspringen und uns dadurch vitaler und gesünder werden lassen. Evolutionär erscheint dies logisch: Alle Lebewesen auf der Erde sind seit Urzeiten vertraut mit Phasen des Hungers und des Hungerns. Und anstatt sich dabei erschöpft und kraftlos in eine Höhle zu verkriechen (Standardprogramm im Erbgut), werden die Lebensaktivitäten zunehmend stimuliert (Fastenprogramm im Erbgut). Auf diese Weise wurde der Höhlenbewohner der Vergangenheit wacher, aufmerksamer, schneller, ausdauernder und kräftiger, um die Herausforderung des Nahrungsmangels optimal zu bewältigen. Diese genetischen Programme sind übrigens so alt und fundamental, dass fast alle Tiere über sie verfügen – sie sind also sehr früh in der Entwicklung des Lebens entstanden.
Mattson und andere Forschergruppen kennen mittlerweile viele der Mechanismen, die bei der Umschaltung auf den Fasten-Stoffwechsel anlaufen. Beispiel Energiegewinnung: Normalerweise liefern uns vor allem die Kohlenhydrate aus der Nahrung die wesentliche zuckerbasierte Energie fürs Leben. Bleibt diese Nahrung aus, läuft nach etwa 24 Stunden die Bildung von Energie aus körpereigenem Fettgewebe an. Dieser alternative Stoffwechselzustand wird Ketose genannt. Ein schöner Nebeneffekt: Fasten führt, wie schon die alten Fastenpäpste wie Otto Buchinger (1878–1966) wussten, zu fortschreitendem Abbau von überflüssigem Fettgewebe, zum gesundheitserhaltenden Gewichtsverlust. Die Energieträger in der Ketose, die sog. Ketonkörper, gelangen gut ins Gehirn, regen viele von dessen Aktivitäten an, schützen vor neurodegenerativen Erkrankungen wie der Alzheimerkrankheit und sind sogar therapeutisch bei Epilepsie hochwirksam.
Die modernen Fasten-Forschungen, vor allem aus den USA, haben noch eine weitere Einsicht gebracht: Die Umschaltung von Glukosestoffwechsel auf Ketose erfolgt weitaus rascher als z. B. von Buchinger angenommen. Der glaubte noch, mindestens drei Tage Nahrungsverzicht, kombiniert mit drastischem Abführen (Glaubersalzkur), Einläufen und Wassertrinken seien nötig, um die “Umschaltung” herbeizuführen. Heute ist klar, bereits etwa 24 Stunden freiwilliger Nahrungsverzicht reichen aus, um in die Ketose zu kommen. Und zwar ohne alle Darmflora-schädigende Glaubersalzkurzen! Vielleicht würden die Fastenpäpste von damals zustimmen, dass das mehrwöchige Heilfasten in Wirklichkeit der kleine Bruder des sehr viel mächtigeren Intervallfastens ist – einfach, weil es zum Bestandteil des täglichen, gesünderen Lebens werden kann.
So einfach geht Intervallfasten
Für den modernen Menschen bedeutet dies: An einem beliebigen Tag in der Woche (am besten an wechselnden Tagen) wird gefastet – vom Aufstehen zum Schlafengehen. Am Morgen danach darf dann wieder das Fasten gebrochen werden. In etwas wird also für ca. 32 Stunden keine Nahrung aufgenommen (wohl aber beliebig viel Wasser). Interessant: Ein oft befürchtetes Hungergefühl bleibt meist aus, genauso wie irgendwelche Schwächegefühle oder Mattigkeit. Kein Wunder, der Darm ist noch voll mit Nährstoffen von den Tagen vorher. Die mit dem Fasten einhergehenden vorteilhaften Effekte auf Leistungsfähigkeit, Lebensfreude, geistiges Angeregtsein, Motivation, Gefühlstiefe, Ausdauer oder Heilung/Linderung von chronischen Krankheiten (einschließlich Diabetes oder Krebs) stellen sich auch beim Kurzzeitfasten ein.
Mittlerweile ist klar, dass der maximale hormetische Effekt auf die menschliche Gesundheit dann eintritt, wenn das Kurzzeitfasten zum Bestandteil des Lebens wird – das sogenannte Intervallfasten oder iFasten. Zu Beginn vielleicht einmal pro Woche, am besten an wechselnden Tagen. Nach Bedarf und wachsender Erfahrung kann dann auch mehrfach pro Woche gefastet werden bis hin zum sog. 1:1‑Schema – ein Tag iFasten, ein Tag essen. Die einzige Regel: An den iFasten-Tagen nur Wasser trinken, evtl. auch ungesüßte Tees oder Kaffee. Neben dem Zuwachs an Lebensqualität (siehe oben), Körpergewichts-Abnahme und Verbesserung der Gesundheit verändert sich beim iFasten allmählich das Essverhalten: Heißhungerphasen werden seltener, unstillbarer Hunger vergeht allmählich, das Bedürfnis nach “echten” Lebensmitteln (siehe oben) steigt. Viele Menschen, die regelmäßig ifasten berichten auch davon, dass sie an den Esstagen weniger und vor allem seltener essen. Mattson z. B. gibt an, dass er selbst mit nur einer Mahlzeit am Tage gut auskommt.
Quelle: Rainer H. Bubenzer, Mario Hirschler: Abnehmen mit iFasten. multiMEDvision Verlag. Berlin. 2015 (ISBN 978–3‑00–046699‑1).
Intervallfasten ist demzufolge eindeutig ein hormetisches Verfahren, da der schädigende Reiz insgesamt reduziert wird und sich damit schädigende Auswirkungen verringern. Es ist aber auch noch mehr: Wird in den anderen Stoffwechselzustand der Ketose umgeschaltet wird, werden die Grenzen der Hormesis ähnlich wie bei Hochpotenzen in der Homöopathie, einer Placebotherapie oder der Rückbesinnung auf die eigene Selbstbestimmung und Freiheit überschritten. Besonders diese innere Freiheit, auch die Freiheit über den Verlauf eigener Krankheiten mit zu entscheiden und aktiv und wirksam einzugreifen, hat Mediziner und Heiler von Anfang an maßlos irritiert. Im besten Fall belächeln sie das Intervallfasten, im schlimmsten Fall betreiben sie intellektuelle Gehirnakrobatik, bei der nur schwächliche Argumente gegen das iFasten gefunden werden.
Fasten ist ein nur dem Menschen mögliches Verfahren
“… das Heilfasten (ist) wohl der älteste und einer der edelsten therapeutischen Wege. … Fasten ist ein nur dem Menschen mögliches Verfahren und hat mit dem Abscheu vor Speisen, der sich bei gewissen Erkrankungen einstellt, lediglich das gemein, dass in beiden Fällen keine Nahrung aufgenommen wird. Es gibt kein Volk der Erde, sowohl im Raume als auch in der Zeit, welches nicht das Fasten kennt. Seit je gehört langdauerndes Fasten zu den Initiations-Vorbereitungen, seit je auch zur Therapie. … Das Homöopathische des Fastens ergibt sich ohne weiteres aus dem, was im Organismus des Fastenden vorgeht. Auch der Fastende “isst. Da er sich keine Nahrung zuführt, muss er von den Beständen seines eigenen Organismus zehren. Wie wir wissen, greift er dabei sein entbehrlichstes, sein unerwünschtes Material an: er bringt seine (…) “verschlackten” Gewebe ins Feuer des Stoffwechsels, er führt “Lumpenverbrennung” durch, wie Buchinger es nennt. Das, was an Krankhaftem in ihm ruhte – und keineswegs nur “ruhte” -, wird während des Fastens sehr allmählich, fein dosiert, dem Organismus als Nahrungsersatz zur Verfügung gestellt. … Immer wieder beobachten die Fasten-Therapeuten, dass während einer Heilfasten-Kur der Organismus des Kranken geradezu verblüffende Erscheinungsbilder seiner früheren Erkrankungen produziert und alsdann wieder auslöscht. Man kann sich dem Eindruck nicht verschließen, dass alles Unerledigte, alles nicht ganz Getilgte aus seinem Einst (das latente Gegenwart geblieben ist) hervorkommt, dass mithin der Kranke an seiner eigenen Krankengeschichte gesund wird, wenn er fastet. …”
Quelle: Herbert Fritsche: Die Erhöhung der Schlange – Mysterium, Menschenbild und Mirakel der Homöopathie. Klett, Stuttgart, 1953 (Fritsche war u. a. sieben Jahre Schüler von Otto Buchinger).
Darmflora: Darmträgheit eine Geißel der Moderne
Darmflora: Im Zusammenhang mit Fasten und Intervallfasten taucht immer wieder ein Problem auf, gegen das schon die alten Fastenpäpste kaum ein einfaches Gegenmittel kannten (außer Glaubersalz): Verstopfung. Jede naturmedizinische Behandlung, vor allem von chronischen Erkrankungen, lässt auch längst vergessene Elemente aus der Krankheitsgeschichte auftauchen (siehe oben). Dazu gehört bei fast allen Menschen eine oft länger anhaltende Störung der Darmflora mit Verstopfung, Durchfall, aber auch Bauchdrücken oder Sodbrennen, die nicht selten bereits in der Kindheit vorkam. Der großartige Gastroenterologe Dr. Franz Xaver Mayr (1875â“1965) erkannte vor rund 100 Jahren, dass hieraus eine der größten medizinischen Geißeln der Moderne folgt – die “chronische Darmträgheit”. Die Ursachen für die oft anhaltende Störung der Darmflora und die Folge-Beschwerden (“Dysbiose”) sind vielfältig: Übermäßiger Dauerstress, Antibiotika-Behandlungen, langjährige Ernährungsfehler (“junk food”), Umwelteinflüsse und vieles andere.
Für die Behandlung sind diese Ursachen jedoch meist ohne aktuellen Belang – bei vielen Betroffenen hat sich das Beschwerdebild verselbstständigt und hat sich unabhängig gemacht von den ursprünglichen Ursachen. Das Fasten legt das Problem nur wieder auf den Tisch. Während aber eine Fastenkur von vielleicht 10 Tagen nicht in der Lage ist, diese Problematik zu lösen, vermag Intervallfasten als Teil des Lebens energische Heilungsimpulse zu setzen – auch in Richtung der gestörten Darmflora (Mikrobiom). Wird dies ergänzt durch eine präbiotika-(ballaststoffreiche) Ernährung und mehr Sport, gehört die chronische Darmträgheit (beim Fasten und als Dauerproblem im Alltag) irgendwann der Vergangenheit an. Drastische Maßnahmen wie “Darmsanierung”, “Kolon-Hydro-Therapie”, pflanzliche Abführmittel oder die Einnahme von Bakterien-Suspensionen zeigen zwar kurzzeitige Effekte, lösen aber auf Dauer nicht das grundlegende Problem des “gestörten Verhältnisses” von Darmflora und Mensch.
Exkurs
Grundimpulse der Entwicklung: Kreativität und Kooperation
F. X. Mayr, der von den gigantischen Einsichten der modernen Mikrobiomforschung (Mikrobiom = Gesamtheit aller in und auf dem Menschen lebenden Bakterien) noch nichts ahnen konnte, würde sich von diesen wissenschaftlichen Resultaten zutiefst bestätigt fühlen. Mindestens so alt wie das oben erwähnte erblich weitergegebene “Fastenprogramm” ist das Zusammenleben von völlig unterschiedlichen Lebewesen in einem einzigen Organismus. Kaum jemand hat so maßgeblich und gleichzeitig fast unbemerkt das moderne Denken beeinflusst, wie die US-Biologin Prof. Dr. Lynn Margulis (1938–2011), die es schaffte, die schon ältere Endo-Symbiontentheorie als Lebenstatsache in den Lebenswissenschaften zu verankern: Sie konnte zweifelsfrei zeigen, dass die energieliefernden Zellorganellen namens “Mitochondrien” vor Urzeiten in tierische Zellen eingewanderte Bakterien sind, die seither mit diesen in Symbiose zusammenleben (bei Pflanzen passierte das gleiche – die dort eingewanderten “Kraftwerke” heißen Chloroplasten). Was bereits Margulis zeigte, hat sich vollumfänglich auch in Bezug auf das Mikrobiom bestätigt: Mensch und die mehr als 1.200 verschiedensten Bakterienspezies in und auf dem Menschen leben einhellig zusammen, zum allergrößten Nutzen aller. Ohne diese Symbiose hätten die Säugetiere einschließlich der Menschheit sich kaum entwickeln können und wären hoffnungslos untergegangen (viele der mit uns lebenden Bakterien allerdings auch). Die zehntausenden einzelner Forschungsergebnisse der Mikrobiomforschung nur der letzten Jahre zeigen: Auf heute noch fast unvorstellbare Weise sind die vielen verschiedenen Lebewesen, die “den Menschen” ausmachen miteinander verzahnt. Bis hin zu unseren seelischen Regungen, Lebensmittelpräferenzen oder unserer Partnerauswahl. Neben diesen bahnbrechend neuen, biologisch-wissenschaftlichen Grundlagen, die Margulis und andere erforscht haben, hat ihre Idee von Kooperation und Kreativität als Motor der Entwicklungsgeschichte des Lebens endlich eine Befreiung des Denkens gebracht. Und zwar von den immer noch vorherrschenden darwinistischen Verkleisterungen einer angeblich nur beliebigen Schadreizen, den hierdurch bedingten Mutationen und der nachfolgenden brutalen Zuchtauslese der Stärksten unterliegenden Evolution. Diese Freiheit ist die gleiche Freiheit, die F. X. Mayr meinte: Wird die chronische Darmträgheit, die “von staats- und weltpolitischer Bedeutung allerersten Ranges ist”, gelöst (Margulis: “wird also Harmonie aller den Menschen bildenden Spezies erreicht”), dann kann die Zivilisation endlich wieder menschlicher werden und “körperlich, geistig, seelisch, moralisch und sozial gesunden” (Margulis: “mit Hilfe unseres Mikrobioms”). So pessimistisch die derzeitige Zukunftseinschätzung vieler Menschen derzeit ist, diese Ein- und Aussichten zeigen strahlende Zukunftsmöglichkeiten. Möglichkeiten, die aber überwiegend weder in der Naturmedizin noch der Schulmedizin überhaupt gesehen werden …
Schädliche Stressoren: Sitzen ist das neue Rauchen
Sport: Berechnungen zeigen, dass die mittlere tägliche Gehstrecke in Deutschland zwischen 1910 und 2010 von 20 km auf 400 Meter pro Tag gesunken ist (Hofmeister, 2012). Dass alleine dies zentral krankmachende Effekte auf den größten Teil der Bevölkerung hat, und wesentlich für die Ausbreitung von Zuckerkrankheit, Übergewicht und Krebs ist, wird wissenschaftlich kaum noch in Frage gestellt. Dass umgekehrt sportliche Aktivitäten gesund sein können, ist ebenfalls klar. Sport/körperliche Aktivität hat zwei Schädigungsmöglichkeiten: Ein Zuviel schädigt die Gesundheit, kann sogar das Leben kosten. Ein Zuwenig ist ebenfalls schädigend und nur wenig vereinbar mit einem gesunden Lebensverlauf oder der wirksamen Vorbeugung von Zivilisationskrankheiten. Ohne Zweifel gibt es einen für jeden Menschen individuell förderlichen Bewegungsumfang, der vor allem durch ein absolutes Zuviel an Sitzen nicht realisiert wird (derzeit 8–14 Stunden/Tag – “Sitzen ist das neue Rauchen”).
Mehr als drei Stunden täglich zu Sitzen gilt nach moderner Einsicht als definitiv gesundheitsschädigend, oder drastischer ausgedrückt, als tödlich. Das sind beunruhigende Tatsachen, die viele betreffen – trotzdem wird das enorme Ausmaß dieses schädigenden Stressors nicht besonders publik gemacht. Mögliche Gründe: Der hohe Preis, Büros auf gesundheitsförderliche Einheiten umzurüsten oder die fehlende Bereitschaft von Unternehmen, in kostenlose, betriebseigene Fitnessstudios zu investieren. Oder auf der anderen Seite die fehlende Bereitschaft vieler Arbeitnehmer zu “gesünderen, verordneten Arbeitsbedingungen”. Oder könnten Sie sich problemlos vorstellen, während der Arbeit täglich 5 oder gar 20 Kilometer zu gehen oder zu laufen? Diese – hormetische – Idee entwickelte einer der kreativsten und bemerkenswertesten US-Ernährungsforscher und Ärzte, Prof. Dr. James A. Levine von der Mayo-Klinik, vor über 15 Jahren und ließ gleich entsprechende Arbeitsplatzmodelle in Zusammenarbeit mit Büroherstellern bauen. Mit seinem NEAT-Desktop (Non-Exercise-Activity-Thermogenesis) wird ein Gutteil der Energie verbraucht, die sonst zu Übergewicht führt. Dazu werden modifizierte Laufbänder mit variablen Geschwindigkeiten wie im Fitnessstudio unter Stehpulte oder höhenverstellbare Schreibtische gestellt. Levine experimentierte mit diesen bis heute revolutionären Arbeitsplätzen und führte dazu etliche Studien durch. Die Ergebnisse: Das Arbeiten an solchen speziellen Arbeitsplätzen kann bei minimaler Laufgeschwindigkeit bei Übergewichtigen einen Gewichtsverlust von bis zu 30 Kilogramm im ersten Jahr bringen. Einige wenige Sportgeräte- und Büromöbelhersteller bieten in Europa das Levine’sche Konzept in ausgereiften Formen an.
Bei den Berichten von Dauer-Anwender*innen fühlt man sich an Berichte von intervallfastenden Menschen erinnert: Der Kopf wird wieder frei, die Schultern und der Nacken entspannen sich, die Kreativität nimmt zu, der Gedankenfluss kommt leichter in Gang und es stellt sich allmählich wieder Bewegungsdrang ein. Und schließlich zeigen Hunderttausende Nutzer*innen weltweit, dass fast alle normale Bürotätigkeiten auch in an einem Stehpult mit Laufband durchführbar sind (nur hochauflösendes Zeichnen oder Retuschieren von Bildern kann schwierig sein)!
Fleisch: Sicher kein Heilmittel für unsere Gesundheit
Vegetarismus: Wissenschaftlich heute ohne Frage – eine vegetarische Ernährung geht mit einer bis zu sieben Jahren längeren Lebenserwartung einher gegenüber der Lebenserwartung von Fleischessern, wie große Megastudien aus den USA gezeigt haben. Eine derartig erhöhte Lebenserwartung ist ein sicherer Hinweis darauf, dass Vegetarismus für Menschen auch “gesund” ist (tatsächlich sind die meisten Vegetarier im Durchschnitt gesünder als Fleischesser). Anders als bei anderen Beispielen zuvor gibt es beim Vegetarismus jedoch keine “U‑Kurve”. Fleischkonsum ist also immer ungesund (abgesehen von den moralisch-ethischen, religiösen und ökologischen Fragen). Wenig Fleisch zu essen ist hingegen kein hormetischer Heilungsreiz entsprechend des biologischen Grundgesetzes, sondern nur der völlige Verzicht auf tierische Produkte. Auch bei diesem Thema warten Fleischesser und Vertreter des agroindustriellen Komplexes mit enormer Gehirnakrobatik auf, um mit Fake-Argumenten die geschilderten Tatsachen zu entkräften. Nicht anders wie die meisten Raucher viele gute Argumente haben, warum sie rauchen müssen, warum ihnen das guttut und sie sowieso jederzeit aufhören können (Rauchen ist übrigens auch nicht hormetisch – es macht immer krank und selbst geringe Dosen können Krebs erregen).
Radioaktivität: Das Hormesis-Axiom ist auch in “falsche” Hände geraten, und wird missbräuchlich verwendet, um das Risiko lebensgefährdender Technologien zu marginalisieren. Radioaktive Strahlung ist, so die Einsicht der meisten Wissenschaftler, in jeder Dosis schädlich sein – im Sinne einer geradlinigen Dosis-Wirkungs-Abhängigkeit ohne Schwellenwert. Schon seit Jahrzehnten geistert aber eine Alternativauffassung durch die Medien – nämlich die, dass Wirkungen radioaktiver Strahlung der Arndt-Schultz-Regel folgen würden. Dass also hohe Strahlendosen schädliche bis tödliche Folgen haben, eine niedrige Dosierung jedoch sogar lebensfördernde, positive Effekte hat. So behaupteten schon sowjetische Forscher, dass niedrigdosierte Strahlung ihrer Atomkraftwerke und löchrigen Atommülllager eher vorteilhafte Effekte auf die Menschen haben könnten. Auch nach den Tschernobyl- und Fukushima-Desastern kamen wieder entsprechende verharmlosende Behauptungen auf, genauso wie entsprechende Bewertungen hinsichtlich der Niedrigstrahlung um deutsche Atomkraftwerke herum. Immerhin, auch in der Toxikologie (der Wissenschaft von Giften und Vergiftungen), zeigt sich immer häufiger, dass viele Gifte keine lineare Dosis-Wirkung haben, sondern in ihrer Wirkung dem biologischen Grundgesetz folgen, in hohen Dosierungen also schädlich und in niedrigen lebensförderlich sind (zum Beispiel Selen oder Chrom). Die Naturmedizin, wenn sie das biologische Grundgesetz als einen ihrer elementaren Grundsätze anerkennt, sollte angesichts von “ideologischen Mitessern” im Interesse bestimmter Industriezweige mehr als wachsam bleiben.
Autor
• Rainer H. Bubenzer, Eichstädt bei Berlin, Dezember 2021.
Bildnachweise
• Kajetan Sumila (unsplash.com, SX6XK-8qa_Q).
• Rod Long (unsplash.com, y0OAmd_COUM).
• Marion Kaden, Berlin, Juli 2016.
Lesetipps
• Richard Friebe: Hormesis – Das Prinzip der Widerstandskraft – Wie Stress und Gift uns stärker machen. Hanser, München, 2016.
• Mark P. Mattson, Edward J. Calabrese (eds.): Hormesis – A Revolution in Biology, Toxicology and Medicine. Springer, New York, 2010.
• Lynn Margulis: Der symbiotische Planet oder Wie die Evolution wirklich verlief. Westend, Frankfurt, 2017.
• Joachim Bauer: Das kooperative Gen: Evolution als kreativer Prozess. Heyne/Random House, München, 2010.
weitere Infos
• Intervall-Fasten: Der kleine Bruder des Heilfastens.
• Selbstheilung: Vermittler zwischen Krankheit und Gesundheit.