Bitterstoffe sind eine heterogene Stoffgruppe, die sich durch einen bitteren Geschmack und eine gute Wasserlöslichkeit auszeichnet. Unterschieden werden terpenoide und nicht-terpenoide Bitterstoffe. [1]
Chemie
Terpenoide Bitterstoffe – der Name ist abgeleitet vom Terpentinöl (Oleum Terebinthinae), das reich ist an Kohlenwasserstoffen – bestehen aus Terpenen (auch Isoprenoide genannt, bei denen die Anzahl der C‑Atome meist ein Vielfaches von 5 beträgt). Terpene werden aus einer aktiven C5-Einheit, dem Isopentenylpyrophosphat, biosynthetisiert. Sesquiterpenlactone und Iridoide sind terpenoide Bitterstoffe, zum Beispiel Absinthin und Marrubiin. Sie kommen teilweise glykosidiert vor, zum Beispiel Gentiopicrosid oder Swerosid. Als nichtterpenoide Bitterstoffe haben besonders die in Zitrusarten vorkommenden Flavanonglykoside Naringin und Neohesperidin sowie die Phloroglucinderivate des Hopfens, Humulon und Lupulon, pharmazeutische Bedeutung [2].
Medizin
Tausendgüldenkraut (Centaurii herba)
Bitterstoffe bzw. bitterstoffhaltige Drogen werden aufgrund ihres bitteren Geschmacks therapeutisch genutzt. Andere pflanzliche Naturstoffe, die ebenfalls bitter schmecken, bei denen jedoch pharmakologische Wirkungen im Vordergrund stehen, zum Beispiel Chinarinde oder Aloe, sind keine Bitterstoffdrogen im engeren Sinne. Allerdings finden solche Drogen bei geeigneter Verdünnung auch als Bitterstoffe Verwendung. Weil die Wirkung der Bitterstoffe an ihren bitteren Geschmack gebunden ist, werden sie zumeist nur als Tees, Tinkturen oder Extrakte verabreicht [3].
Gustatorik
Die durch Bitterstoffe ausgelöste Geschmacksempfindung “bitter” wird durch die Erregung der Bitterrezeptoren in den Geschmacksknospen der Zunge ausgelöst. Die Heterogenität der Strukturen der bekannten Bitterstoffe ermöglichen lediglich eine Wertbestimmung auf physiologischem Wege, das heißt den durch Geschmacksprüfung (sensorische Analyse) ermittelten Bitterwert [4].
Bitterwert Als Bitterwert wird der reziproke Wert derjenigen Drogenkonzentration bezeichnet, die gerade noch bitter schmeckt. Um die Abhängigkeit vom subjektiven Empfinden zu minimieren, wurde für die Vergleichssubstanz Chininhydrochlorid ein Bitterwert von 200.000 festgelegt. Dies bedeutet, dass 1g Chininhydrochlorid 200 l Wasser bitter macht. Die bitterste bekannte Substanz ist Denatoniumbenzoat mit einem Bitterwert von über 100.000.000. Der Streuungsbereich der Bitterwertangaben beträgt etwa ±20%.
Wurzel des gelben Enzians (Gentianae radix)
Mit rund 9.000 Geschmacksknospen (junge Erwachsene, im Alter abnehmend) ergibt sich eine Empfindlichkeitsschwelle von etwa 1016 Moleküle/ml. Bezogen auf Bitterstoffe (Chininsulfat) entspricht dies 0,005g/l Wasser. Abgesehen vom Alter entstehen Abweichungen der Geschmacksempfindlichkeit auch genetisch oder durch äußere Einflüsse (Stress, Nikotin, Medikamente). Entscheidend für die Geschmackserregung ist die Bindung des Bitterstoffes an die Bitterrezeptoren, wobei der eigentliche Rezeptor ein Glykoproteid darstellt. Weitergeleitet wird die Geschmacksempfindung vor allem über den Nervus glossopharyngeus (IX. Hirnnerv), verbunden mit einer zusätzlichen Beeinflussung des Nervus vagus (X.Hirnnerv). Schließlich wird die unmittelbare Empfindung “bitter” im Wahrnehmungszentrum der Großhirnrinde ausgelöst [5, 6].
Apéritif – Digestif
Der Begriff Aperitivum (Apéritif) deutet das “Öffnen” des Magens an. Meist handelt es sich um ein alkoholisches Getränk, das vor dem Essen konsumiert wird. Im medizinischen Zusammenhang sind mit dem Begriff appetitanregende Mittel gemeint. Diese Appetitanreger basieren sehr häufig auf bitteren Pflanzenstoffen (“Amara”) aus Enzianwurzel, Tausendgüldenkraut, Bitterklee, Chinarinde und anderen Pflanzen. Der Begriff Digestivum (Digestif) bezieht sich hingegen auf die “Verdauung”. Digestifs sollen also die Verdauung fördern und werden deshalb nach einer Mahlzeit eingenommen. Hierbei kommt im allgemeinen Hochprozentiges zum Einsatz. Die Kräuterbitter, die es in zahlreichen europäischen Ländern gibt, überschneiden sich in ihrer Wirkung mit der medizinischen Anwendung von verdauungsfördernden Digestiva. Während ein herkömmliches Digestif eher die Fettverdauung chemisch-physikalisch fördern soll, unterstützen pflanzliche Bitterzusätze beispielsweise die Bildung und Freisetzung von Verdauungssäften aus Leber und Bauchspeicheldrüse. Und verbessern damit zahlreiche Verdauungsfunktionen. Beispiele sind Andorn, Artischocken, Löwenzahn oder Bitterholz [7].
Bitter-Wirkungen
Bitterstoffe regen über den Nervus vagus reflektorisch die Speichel- und Magensaftsekretion an, die mit Salzsäure- und Pepsinsekretion im Magen verbunden ist. Die dabei gesteigerte Ausschüttung des Gewebehormons Gastrin erhöht auch die Motilität und Muskelkraft von Speiseröhre, Magen, Zwölffingerdarm oder Dünndarm und steigert die Sekretion des Pankreas. Insgesamt können Bitterstoffe die Sekretion um bis zu 25–30% zusätzlich ansteigen lassen. Die durch Bitterstoffe bewirkte Sekretionssteigerung führt nach klassischer Auffassung zu einer als “Verdauungsförderung” beschriebenen verbesserten Nahrungsausnutzung [2].
Beispiel Gewichtsreduktion
Löwenzahn (Taraxacum)
“Bitter” als gustatorisches Pflanzensignal mit der zentralen Botschaft “Vorsicht ungenießbar” übertönt in Speisen oder Getränken das Signal “süß” deutlich. Vermutlich, weil “bitter” rund 10.000-mal stärker als “süß” wirkt, weil bislang 25 verschiedene Zell-Rezeptoren für “bitter”, aber nur einer für “süß” nachgewiesen worden ist und weil beide Signale um den gleichen Übertragungsweg im Nervensystem konkurrieren. All dies verdeutlicht nicht nur die überlebenswichtige Bedeutung der Geschmacksqualität “bitter”, sondern weist auch auf den zuckerbasierten Energiestoffwechsel als einen gemeinsamen Funktionskreis von “süß” und “bitter” hin [8]. Neuere Untersuchungen zeigen, dass zahlreiche bitterstoffhaltige Nahrungsmittel im Tierversuch nicht nur die Gewichtszunahme bei energiereicher Nahrung verhindern. Sondern, dass über bislang unbekannte Signalwege vor allem die Einlagerung überschüssiger Energie als Viszeralfett verringert wird. Umgekehrt zeigt sich, dass Menschen, denen die Fähigkeit fehlt, bestimmte bittere Substanzen wahrzunehmen, häufiger als andere übergewichtig werden [9]. Diese Befunde unterstützen die Annahme, dass Bitterstoffe nicht allein – wie bei ihrer traditionellen Anwendung – die Verdauung optimieren und beschleunigen, sondern über Reizung der Geschmacksknospen eine direkte Wirkung auf den (Energie-)Stoffwechsel haben. Hierauf weisen auch neueste Forschungen hin, die Rezeptoren für “bitter” – ähnlich jenen auf der Zunge – auch in der Magen-Darmschleimhaut gefunden haben. Diese Rezeptoren für “bitter” sind sogar in der Lage, verdauungs- und stoffwechselsteuernde Hormone selbst zu bilden und freizusetzen (sogenannte enteroendokrine Zellen) [10].
Sonstige Wirkungen
Abgesehen von einer Bitterstoff-Wirkung zeigen einige Sesquiterpenlactone, zum Beispiel in Arnikablüten, entzündungshemmende Eigenschaften. Bei Diterpen- und Sesquiterpenlactonen liegen teilweise antibakterielle und fungistatische Effekte vor, zum Beispiel bei Arnikablüten oder Salbeiblättern. Bestimmte Bitterstoffe haben uteruskontrahierende oder blutdrucksenkende Eigenschaften, einige wirken positiv-inotrop. Für Wermut sowie Fieberklee wird auch eine immunstimulierende Wirkung diskutiert. Für die Bitterstoffe des Enzians sind eine Stimulierung der T‑Lymphozyten sowie ein positiver Einfluss auf das darmassoziierte Immunsystem (GALT) nachgewiesen worden [4].
Ausgewählte Bitterstoffdrogen [nach 3] | ||||
Droge | Pflanze | Bitterwert | Strukturtyp | |
Monoterpene | ||||
Gentianae radix | Gentiana lutea | 10.000 | Gentiopikrin und andere | |
Centaurii herba | Centaurium minus | 2.000 | Gentapikrin und andere | |
Menyanthidis folium | Menyanthes trifoliata | 4.000 | Foliamenthin und andere | |
Sesquiterpene | ||||
Cnici benedicti herba | Cnicus benedictus | 800 | Cnicin und andere | |
Absinthii herba | Artemisia absinthium | 10.000 | Absinthin und andere | |
Diterpene | ||||
Marrubii herba | Marrubium vulgare | 3.000 | Marrubiin | |
Salviae folium | Salvia officinalis | - | Carnosol und andere | |
Colombo radix | Jateorhiza palmata | - | Columbin und andere | |
Triterpene | ||||
Aurantii pericarpium | Citrus aurantium ssp. aurant. | 600 | Limonin und andere | |
Quassiae lignum | Quassia amara |
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Quassin |
Anwendung
Wichtig für die Wirkung der Bitterstoffe bei der traditionellen Anwendung ist die Einnahme etwa eine halbe Stunde vor der Nahrungsaufnahme. Wie erwähnt, ist dabei eine Sekretionszunahme von 25–30% möglich. Zur Anwendung gelangen bitterstoffhaltige Drogen bei Appetitlosigkeit, unter anderem in der Rekonvaleszenz, bei Völlegefühl und Blähungen sowie als Cholagoga. Bitterstoffe kommen vor allen in den Pflanzenfamilien Asclepiadaceae, Asteraceae, Gentianaceae, Lamiaceae, Menyanthaceae und Rutaceae vor (siehe Tabelle) [11].
Die Anwendung zur Gewichtsreduktion (Viszeralfett) erfolgt durch intensives Kauen zum Beispiel eines aus Wegwartenkraut, Löwenzahnkraut, Wild-Artischockenblättern, Hagebuttenschalen und anderen Bitterstoffdrogen bestehenden hochbitteren Wildgemüseproduktes (Urbitter® Bio Granulat) unmittelbar vor der Nahrungsaufnahme (3,5 kg Gewichtsabnahme nach 6‑wöchiger Anwendung).
Anregungen
Identifikation: Bitterstoffhaltige pflanzliche Lebensmittel (zum Beispiel Chicorée). Recherchen: Wurde der Bitterstoffgehalt von Lebensmitteln mittels züchterischer Maßnahmen verändert (wenn ja, in welche Richtung)? Welche der in Deutschland als Arzneimittel zugelassenen Heilpflanzen enthalten Bitterstoffe, welches sind ihre wesentlichen medizinischen Indikationen?
Selbstversuch: Zerkauen bitterer (Heil-)pflanzen (zum Beispiel Taraxaci herba – Löwenzahnblätter) oder eines Bitterstoffgranulates mit Beschreibung akuter körperlicher Reaktionen darauf.
Zusammenfassung
Diese Informationstexte zu wichtigen pflanzlichen Wirkstoffgruppen
1. Wichtige pflanzliche Wirkstoffgruppen, Teil 1: Alkaloide
2. Wichtige pflanzliche Wirkstoffgruppen, Teil 2: Kohlenhydrate
3. Wichtige pflanzliche Wirkstoffgruppen, Teil 3: Polyphenole
4. Wichtige pflanzliche Wirkstoffgruppen, Teil 4: Bitterstoffe
zeigen, dass die moderne Pharmakognosie (Drogen- oder Arzneienkunde) mit ihrer immer weiter vertieften Naturstoffforschung neue Optionen für die therapeutischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts bietet. Hierzu gehören neben seit Jahrhunderten bekannten Pflanzenstoffen auch erst seit kurzem bekannte, zum Beispiel antiviral wirksame, hochpolymere Polyphenole der Zistrose oder neuartige, antiadipös wirksame Bitterstoffkomplexe.
Autor
• Rainer H. Bubenzer, Heilpflanzen-Welt (2019).
Quellen
[1] S. Bäumler, Heilpflanzenpraxis Heute, 1. Aufl., Elsevier, München, 2007.
[2] E. Teuscher, M. F. Melzig und U. Lindequist, Biogene Arzneimittel, 6. Aufl., Wiss. Verlagsges., Stuttgart, 2004.
[3] K. Hiller und M. Melzig, Lexikon der Arzneipflanzen und Drogen, Elsevier/Spektrum Akad. Verl., Heidelberg, 2003.
[4] Leitfaden Phytotherapie, 1. Aufl. (H. Schilcher und S. Kammerer), Urban&Fischer, München, 2000.
[5] G. Kuschinsky, H. Lüllmann und K. Mohr, Kurzes Lehrbuch der Pharmakologie und Toxikologie, 13. Aufl., Thieme, Stuttgart, 1993.
[6] Biologie des Menschen, 15. Aufl. (Hrsg. E. Betz, K. Reutter, D. Mecke und H. Ritter), Quelle&Meyer, Wiebelsheim, 2001.
[7] E. Steinegger und R. Hänsel, Lehrbuch der Pharmakognosie und Phytopharmazie, 4. Aufl., Springer, Berlin, 1988.
[8] A. Drewnowski, Nutr Rev., 2001, 59, 163–169.
[9] Q. Chen und E.T. Li, Br J Nutr., 2005, 93, 747–54.
[10] C. Sternini, Am J Physiol Gastrointest Liver Physiol., 2007, 292, G457-G461.
[11] O. Gessner und G. Orzechowski, Gift- und Arzneipflanzen von Mitteleuropa, 3. Aufl., Carl Winter Universitätsverl., 1974.