Heilpflanzen des Gehsteigbiotops

A. Wanit­schek bei der Füh­rung im Reuterkiez

Zum 11. Male fand in Ber­lin der Lan­ge Tag der Stadt­Na­tur statt. [1]. Natür­lich ste­hen auch Kräu­t­er­wan­de­run­gen auf dem Pro­gramm. Denn Heil­kräu­ter wach­sen nicht nur auf dem Land, son­dern auch dort, “wo sie gebraucht wer­den”, wie die Heil­prak­ti­ke­rin Anne Wanit­schek betont. Wäh­rend einer Kräu­ter­füh­rung stellt sie die “Heil­pflan­zen des Geh­steig­bio­tops” im Stadt­teil Neu­kölln vor.

Ihre Füh­rung beginnt in der Nähe des Reu­ter­plat­zes, also direkt im beliebt beleb­ten “Reu­ter­kiez”. Er ist geprägt von hohem Aus­län­der- und Stu­den­ten­an­teil und einer sehr hohen Bevöl­ke­rungs­dich­te. Der Reu­ter­platz bie­tet Mög­lich­kei­ten der Nah­erho­lung für Men­schen und Tie­re. Den Mit­tel­punkt bil­det ein gro­ßer Rasen, der von Geh­we­gen, Bäu­men, Sträu­chern umsäumt ist und Pflan­zen, die sich selbst ange­sie­delt haben. Am Ran­de des Plat­zes steht eine Kas­ta­nie, unter der sich die Kräu­ter-Inter­es­sier­ten zusam­men­ge­fun­den haben. “Die Pflan­zen, die ich euch heu­te zei­ge, sind zum Sam­meln und Ver­wen­den auf­grund der Ver­schmut­zung nicht ver­wend­bar”, erklärt Wanit­schek zu Beginn. Des­halb erklärt und zeigt sie die Heil­pflan­zen zunächst nur. Die prak­ti­sche Erfah­rung zum Bei­spiel Anfas­sen oder das Ken­nen­ler­nen der vor­ge­stell­ten Pflan­zen durch Tees ist am Ende der Füh­rung in ihrer nahe­ge­le­ge­nen Pra­xis vor­ge­se­hen. “Inter­es­san­ter­wei­se zie­hen die Men­schen immer die Heil­pflan­zen an, die sie brau­chen”, sagt die Heil­prak­ti­ke­rin wei­ter. In einem der­art besie­del­ten Gebiet wie dem Reu­ter­kiez sind die Bewoh­ner durch Lärm, sozia­le Enge deut­lich höher belas­tet oder gestresst als Stadt­tei­len, in denen es wesent­lich ruhi­ger zugeht.

Heilpflanzen wachsen dort, wo sie gebraucht werden

Stadt­dschun­gel: Brenn­nes­sel und Hopfen

Auch bringt die dich­te Besied­lung einen stark Stick­stoff ange­rei­cher­ten Boden mit sich, der bei­spiels­wei­se durch Men­schen ver­ur­sach­ten Müll oder durch Hun­de-Ver­schmut­zun­gen ent­steht. “Auf stick­stoff­rei­chen Böden wach­sen Brenn­nes­seln, Löwen­zahn oder Kas­ta­ni­en beson­ders gut”, so Wanit­schek. “Ins­be­son­de­re Brenn­nes­sel und Löwen­zahn las­sen sich für eine Ent­gif­tung ein­set­zen. Sie hilft gestress­ten, ange­spann­ten Men­schen als ers­te Maß­nah­me, um wie­der bes­ser zu sich selbst zu kom­men.” Wanit­schek zeigt auf die Geh­weg­rän­der, wo sich hohe Brenn­nes­seln leicht im Win­de wie­gen. Sie tra­gen schon Brenn­nes­sel­früch­te. Wanit­schek pflückt ein paar Früch­te ab und zeigt die­se in die Run­de: “Die Brenn­nes­sel­früch­te könnt ihr sam­meln, wenn sie aus­ge­reift und dick sind. Sie wer­den vor­sich­tig abge­zo­gen und für den Win­ter getrock­net”, so die Heil­prak­ti­ke­rin. Die Brenn­nes­sel­früch­te sind aus­ge­spro­chen öl- und mine­ral­stoff­hal­tig und geben eine gute, gesun­de Zutat bei­spiels­wei­se für Sala­te ab.

Heilpflanzen und Wildkräuter für die Küche

Rasen­platz im Reu­ter­kiez zur Naherholung

“Schön wäre es, wenn ihr euch mit Heil­pflan­zen- und Wild­pflan­zen anfreun­den könn­tet, denn sie bie­ten euch vie­ler­lei Ein­satz­mög­lich­kei­ten”, so Wanit­schek. Die Brenn­nes­sel, als äußerst vita­le Heil­pflan­ze, steht dem Men­schen fast das gan­ze Jahr zur Ver­fü­gung: Ste­tig nach­wach­sen­de jun­gen Blät­ter kön­nen als mine­ral­stoff­hal­ti­ges Wild­ge­mü­se ähn­lich wie Spi­nat auch noch im spä­ten Herbst zube­rei­tet und geges­sen wer­den. Die Brenn­nes­sel viel gesün­der, als der geschmack­lo­se Kul­tur-Spi­nat, wie er meis­tens ver­kauft wird. “Heil­pflan­zen und Wild­kräu­ter haben einen ande­ren, kräf­ti­ge­ren Geschmack als die Gemü­se, die wir sonst ver­wen­den”, so die Heil­prak­ti­ke­rin. Denn aus den meis­ten Gemü­sen wer­den die natür­li­chen Bit­ter­stof­fe, die vie­len Pflan­zen eigen sind, her­aus­ge­züch­tet. Bit­ter­stof­fe sind jedoch ein sinn­vol­ler, gesun­der Nah­rungs­be­stand­teil, denn er unter­stützt die Ver­dau­ung. Die Ver­wen­dung von Heil­pflan­zen und Wild­kräu­ter z.B. in der Küche bringt gesun­de Nähr­stof­fe und neue Geschmacks­rich­tun­gen mit sich. Doch Vor­sicht: Nach einer Zeit der Umge­wöh­nung schmeckt das nor­ma­le Gemü­se ziem­lich fade, so Wanitschek.

Brenn­nes­sel mit Nüsschen

Die Mine­ral­stof­fe lagert die Brenn­nes­sel in den fei­nen Brenn­na­deln ein, mit denen sich die Pflan­ze gleich­zei­tig schützt. Eine beson­de­re Anwen­dung hat Wanit­schek noch parat: “Soll­tet ihr bei­spiels­wei­se auf einer Wan­de­rung ein­mal sehr müde wer­den, brecht einen Brenn­nes­sel­zweig ab und schlagt ihn euch auf den nack­ten Nacken. Die Bren­nes­sel­na­deln boh­ren sich in die Haut, zer­bre­chen dort und geben den Brenn­nes­sel-Mix ab. Ihr wer­det sehen, dass ihr sofort wie­der hell­wach seid”, sagt sie lächelnd. Die­sel­be Anwen­dung nut­zen Rheu­ma­ti­ker, in dem sie Brenn­nes­sel­zwei­ge auf die Arthro­se betrof­fe­nen Gelen­ke schla­gen. “Das Hist­amin, der Wirk­stoff der Brenn­nes­sel, gelangt in die Haut, die Poren öff­nen sich. Die reak­ti­ve, gute Durch­blu­tung ist för­der­lich für den Hei­lungs­pro­zess”, so Wanitschek.

Die stickstoffliebende Kastanie

Kräu­ter-Inter­es­sier­te im Reuterkiez

Dann wen­det sie sich der präch­tig gewach­se­nen Kas­ta­nie zu. Kas­ta­ni­en oder Lin­den wur­den frü­her ger­ne als “Dorf­bäu­me” auf­ge­stellt. Sie stan­den in der Mit­te des Dor­fes, oft auch mit Bän­ken umge­ben und mar­kier­ten den Ver­samm­lungs­platz. Dort tra­fen sich die Dorf­be­woh­ner in gesel­li­ger Run­de, um Erfah­run­gen oder Infor­ma­tio­nen aus­zu­tau­schen. Ganz im Sin­ne die­ser Tra­di­ti­on befin­det sich unter der Kas­ta­nie am Reu­ter­kiez eben­falls eine Bank, die zum Aus­ru­hen und Ver­wei­len ein­lädt. “Die Früch­te, Samen, Blät­ter und Rin­de der Kas­ta­nie ent­hal­ten gefäß­ver­stär­ken­de Wirk­stof­fe, die bei­spiels­wei­se bei dicken Bei­nen zum Ein­satz kom­men. Was­ser­an­samm­lun­gen, die ursäch­lich bei schlaf­fen Bein­ge­fä­ßen auf­tre­ten kön­nen, wer­den damit beho­ben. Die Bein­ge­fä­ße bezie­hungs­wei­se Venen wer­den gestärkt, auf­ge­rich­tet und wie­der funk­ti­ons­tüch­tig gemacht”, erzählt Wanit­schek. Außer­dem gehö­ren Kas­ta­ni­en zur Gat­tung der Sei­fen­bäu­me. Des­halb füh­ren Kas­ta­ni­en Sei­fen­stof­fe (Sapo­nine). Blät­ter, Rin­de und auch die Früch­te ent­hal­ten Sapo­nine, die frü­her zu Sei­fen­pul­ver ver­ar­bei­tet wur­den. In Not­zei­ten wur­den die Kas­ta­ni­en in Net­zen in Flüs­se gehängt, um die Sei­fen­stof­fe aus­zu­wa­schen. “Aus den anschlie­ßend wie­der getrock­ne­ten Samen konn­te dann ein nahr­haf­tes Mehl berei­tet wer­den”, so die Heilpraktikerin.

Hopfen tut Frauen gut

Die Füh­rung geht wei­ter ent­lang des Rasens. Hin­ter den Brenn­nes­seln haben sich Hop­fen­bü­sche ange­sie­delt. Mit ihren Ran­ken über­wach­sen sie klei­ne­re Sträu­cher. Wanit­schek biegt die lan­gen Hop­fen­ran­ken her­un­ter. “Die­se Hop­fen­spit­zen sind weit genug vom Boden ent­fernt, ihr könn­tet sie also ver­wen­den. Sie geben gemein­sam mit Eiern in der Pfan­ne ver­ar­bei­tet ein fei­nes Hop­fen­spit­zen-Ome­lett ab”, sagt sie. Auch die im Herbst wach­sen­den Hop­fen­zap­fen kön­nen gesam­melt und getrock­net wer­den. “Wenn die Hop­fen­zap­fen deut­lich knis­tern vor Tro­cken­heit, kön­nen sie in ein klei­nes Kis­sen ein­ge­näht und als Beru­hi­gungs­kis­sen ver­wen­det wer­den”, berich­tet sie. Hop­fen beru­higt, eben­so das dar­aus her­ge­stell­te Bier. “Aller­dings ist das Hop­fen­kis­sen wie auch das Bier eher für Frau­en geeig­net. Denn Hop­fen för­dert die weib­li­chen Hor­mo­ne”, sagt Wanit­schek. Wel­che Aus­wir­kun­gen der Gers­ten­saft bei Män­nern hat, zeigt sich bei Bier-Viel­trin­kern: Sie haben “Schwan­ge­ren-Bäu­che” und Brüs­te wach­sen ihnen ebenso.

Unrei­fe Holunderfrüchte

Über­all fin­det Wanit­schek Heil­pflan­zen oder Wild­kräu­ter. Sie zeigt auf Weg­rau­ke, die ähn­lich der Kapu­zi­ner­kres­se Senf­gly­ko­si­de ent­hält und zu den “pflanz­li­chen Anti­bio­ti­ka” gezählt wird. Dann bleibt sie an einem Holun­der­busch ste­hen und erzählt die Geschich­te von Frau Hol­le, die im Lau­fe eines Jah­res ihre Gestalt ver­än­dert. Ihr wird – wie der Name Hol­ler­busch abge­lei­tet wer­den kann – dem Holun­der zuge­ord­net. Der strauch­ar­tig wach­sen­de Baum gehört zu den uralten, wich­ti­gen heid­ni­schen Heil­pflan­zen, um die sich vie­le Geschich­ten ran­ken oder die mit beson­de­ren Bedeu­tun­gen belegt sind. Der Flieder‑, Holun­der- oder Hol­ler­busch wur­de bei­spiels­wei­se auf Gehöf­ten zum Schutz gegen Geis­ter ange­baut und als Lebens­baum ver­ehrt. Er schenk­te den Men­schen sei­ne duf­ten­den Blü­ten im Früh­jahr oder dien­te als frü­he Bie­nen­wei­de. Der dunk­le Flie­der­be­er­saft wur­de im Herbst her­ge­stellt. Kon­ser­viert als Saft dien­te er als wich­ti­ges vit­amin­rei­ches Erkäl­tungs­mit­tel im Win­ter. “Flie­der­be­er­saft ver­mehrt die wei­ßen Blut­kör­per­chen und wirkt anti­vi­ral”, so die Heilpraktikerin.

Dann ent­deckt sie Bei­fuß-Pflan­zen bekannt als Würz­mit­tel für den Gän­se­bra­ten, eine gro­ße Klet­te, Breit­we­ge­rich, Spitz­we­ge­rich, Vogel­knö­te­rich oder das Schöll­kraut. Es ist schon span­nend, was auf einer einer kur­zen Weg­stre­cke von ein paar Metern an Heil­pflan­zen ver­sam­melt ist.

Bei­fuß (Arte­mi­sia vul­ga­ris): Küchen­ge­würz für fet­te Spei­sen. Ver­dau­ungs­för­dernd mit vie­len Bit­ter­stof­fen. Als Tee nur etwas für Hart­ge­sot­te­ne. Denn er ist sehr bit­ter, aber auch außer­or­dent­lich wirk­sam bei Ver­dau­ungs­stö­run­gen oder Verstopfung.

Klet­te (Arc­ti­um lap­pa): Die Klet­ten­wur­zel wur­de volks­tüm­lich bei rheu­ma­ti­schen oder Haut­er­kran­kun­gen ver­wen­det. Auch bei Leber­lei­den oder Haar­aus­fall. Heu­te wer­den die jun­gen Blät­ter ger­ne als Wild­ge­mü­se z.B. im Wok mitverarbeitet.

Breit­we­ge­rich (Plant­ago major): Jun­ge Blät­ter kön­nen im Salat geges­sen wer­den. Sie ent­hal­ten ver­schie­de­ne Mine­ra­li­en und Vit­amin A. Der Breit­we­ge­rich ent­hält außer­dem noch ent­zün­dungs­hem­men­de Stof­fe. Er för­dert die Wund­hei­lung. Für Out­door­fans: Die brei­ten Blät­ter des Breit­we­ge­richs kön­nen weich gemacht wer­den z.B. durch Kau­en und dann auf Bla­sen gelegt werden.

Spitz­we­ge­rich (Plant­ago lan­ce­lo­ta): Ent­hält anti­bak­te­ri­el­le (wich­ti­ges Hus­ten­mit­tel) und blut­stil­len­de Wirk­stof­fe. Zer­kau­te Blät­ter hel­fen z.B. bei Insek­ten­sti­chen oder ent­zünd­li­chen Ver­än­de­run­gen der Haut.

Vogel­knö­te­rich (Poly­go­nom avicu­la­re): Wegen des hohen Gerb­stoff­an­teils wird Vogel­­­knö­­te­rich-Tee ger­ne zum Gur­geln bei Ent­zün­dun­gen im Mund- und Rachen­raum verwendet

Schöll­kraut (Cheli­do­ni­um majus): Volks­me­di­zi­nisch ist Schöll­kraut ein Anti-Warzenmittel.

Noti­zen per Han­dy: Hirtentäschel

Vie­le der Grup­pen­mit­glie­der haben ein klei­nes Heft­chen dabei, in das sie ihre Noti­zen schrei­ben. Ein jun­ger Mann nutzt sein Smart­phone und macht zusätz­lich als Gedächt­nis­stüt­ze noch ein Foto. Dann wird der Reu­ter­platz mit den lär­men­den Men­schen und Hun­den der Rücken ver­las­sen. Wanit­schek führt die Grup­pe in eine stil­le­re Sei­ten­stra­ße, wo sich die Pra­xis befin­det. In den Pra­xis­räu­men sind die bespro­che­nen Heil­pflan­zen als Tee auf einem Tisch vor­be­rei­tet. Die Kräu­ter-Inter­es­sier­ten kön­nen nun die getrock­ne­ten Tees anfas­sen, dar­an rie­chen und ver­su­chen, sie den auf der Füh­rung vor­ge­stell­ten Heil­pflan­zen zuzuordnen.

Tee-Ver­kos­tung in der Praxis

Auch meh­re­re vor­be­rei­te­te Tee­kan­nen mit ver­schie­de­nen Heil­pflan­zen-Tees war­ten auf Ver­kos­tung. Dabei darf eben­so gera­ten wer­den: Der lieb­li­che Lin­den­blü­ten­tee mit sei­nem Honig­duft wird leicht erkannt. Oder den Brenn­nes­sel-Tee erken­nen Eini­ge am Geschmack wie­der. Der Bei­fuß-Tee wird auf­grund sei­ner unglaub­li­chen Bit­ter­keit schnell wie­der weg­ge­stellt. Der Hir­ten­tä­schel-Tee hat eben­falls kei­nen guten Geschmack: “Natür­lich kön­nen nicht alle Heil­pflan­zen­tees so aus­ge­zeich­net schme­cken, wie der Lin­den­blü­ten-Tee”, so Wanit­schek, “schließ­lich erfül­len sie medi­zi­ni­sche, hei­len­de oder lin­dern­de Auf­ga­ben”. Auf­ge­mun­tert durch die Tees und der Ruhe der Pra­xis beginnt unter den Kräu­ter-Inter­es­sier­ten ein kurz­wei­li­ger Aus­tausch über ihre eige­nen Erfah­run­gen. Einig sind sie sich am Ende, dass dies eine loh­nens­wer­te Füh­rung war.

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