Die Stadtmütter Neuköllns [1] treffen sich, um Erfahrungen mit Hausmitteln, Heilpflanzen und den Schönheitsmittel aus ihrer Heimat auszutauschen. Dabei ist auch die Heilpraktikerin Annette Kerckhoff, um diese Wissensschätze in einem neuen Buch zu verarbeiten. Initiiert und organisiert wurde das Treffen von der Werkstatt Ethnologie Berlin e.V. [2].
Neukölln ist ein Berliner Stadtteil mit hohem Migrantenanteil. Normalerweise wird gerne von den vielen Problemen berichtet, die das Zusammenleben mit unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen im Stadtteil mit sich bringt. Von hoher Arbeitslosigkeit, fehlgeschlagenen Eingliederungsversuchen oder tätlichen Auseinandersetzungen ist dann die Rede. Leider bleibt das Positive häufig unerwähnt: Dass nämlich die bunte Vielfalt auch eine Bereicherung darstellt. Menschen aus vielen Ländern der Welt haben Neukölln zu ihrer neuen Heimat gemacht. Dabei haben sie einen großen Schatz an Erfahrungen, Lebensvorstellungen oder Lebensweisen mitgebracht. Annette Kerckhoff, Heilpraktikerin, hat sich zur Aufgabe gemacht, einen Schatz besonderer Art zu heben: Nämlich etwas über die traditionellen Heilmittel oder Heilpflanzen der Bevölkerungsgruppen in Erfahrung zu bringen. In Zusammenarbeit mit der Veronika-Carstens-Stiftung dem Verein “Natur und Medizin” [3] wird dann ein Büchlein entstehen, dass die “Hausmittel aus aller Welt” vorstellen wird. Deshalb bittet Kerckhoff zu Beginn ihres Workshops auch darum, nichts über die Neuigkeit zu berichten. “Diese brauchen wir für unser Buch. Außerdem muss ich die Aussagen noch recherchieren”, sagt sie. Der Workshop ist in drei Teile zu unterschiedlichen Themen (Tees, Einreibungen, Wickel) konzipiert und findet im Schillerpalais [4] Neukölln statt. Eingeladen sind die Stadtteilmütter Neuköllns, um ihre Erfahrungen oder Kenntnisse über die Hausmittel der Welt zusammen zutragen.
Temperamentvoller Frauen-Austausch
Tatsächlich sitzen fünfzehn Frauen unterschiedlicher Herkunftsländer um einen Tisch. Sie oder ihre Eltern stammen beispielsweise aus Ägypten, Bangladesch, Ghana, Marokko, Indien, Thailand, Polen, Lettland oder der Türkei. Aufmerksam richten sich alle Augen auf die Heilpraktikerin, als diese beginnt: “Mein Anliegen ist, etwas über die Hausmittel zusammen zu tragen, weil diese gute, einfache Möglichkeiten bieten, um zu heilen oder die Selbstheilungskräfte anzuregen”, so Kerckhoff. “Was können wir Frauen also selbermachen? Welche traditionellen, wirksamen Mittel stehen uns zur Verfügung – dem möchte ich nachgehen.” Dabei betont sie die Wichtigkeit, nur Richtiges weiter zu geben. Denn bei der mündlichen Weitergabe von einer Generation zur nächsten oder beim Versuch die Hausmittel zu notieren, können Fehler passieren wie beispielsweise bei den Rezepturangaben. Oder auch in Unkenntnis der botanischen Bezeichnung der Heilpflanzen wird Falsches notiert.
Zunächst überprüft Kerckhoff ihre Notizen aus dem ersten Treffen, bei dem es um die Verwendung von Tees ging. Wie war das noch einmal mit dem Fenchel und der Darmpflege? Am Tisch geht es temperamentvoll zu. Bei dem bekannten und weltweit geschätzten Knoblauch (Allium sativum) geht es besonders hoch her, denn zu diesem Universalmittel haben alle Frauen noch Anmerkungen zu machen. Hamadi aus Ägypten beispielsweise berichtet, dass ihr Vater früher zu hohe Cholesterin-Werte hatte. “Dann hat er einen Monat lang, jeden Tag eine Knoblauchzehe gegessen und hatte danach normale Blutwerte!”, erzählt Hamadi. Der Heilpraktikerin gelingt, das Wort wieder zu übernehmen. Sie trägt nicht nur die Erfahrungen zusammen, sondern bringt sich auch als Expertin ein: “Knoblauch wirkt auch noch antibakteriell”, sagt sie und verweist auf die anderen Wirkungen des wunderbaren Heilmittels.
Denn geht es weiter im Kurs: Die Palestinenserin Samira hat eine Flasche mit Rosenöl mitgebracht, “das ist gut gegen Bauchschmerzen”, sagt sie, “Ein Tropfen auf ein Glas Wasser hilft Erwachsenen sehr schnell”. Auch hier schreitet Kerckhoff moderierend ein “beim Rosenöl darf man nicht übertreiben. Es ist ein starkes Öl mit betäubender Wirkung. Für Säuglinge ist das überhaupt nicht geeignet”.
Blutbildende Beeren
Kerckhoff wendet sich dann den einheimischen Früchten zu. Denn Beeren sind in allen Ländern ebenfalls günstig zu haben. Die Lettin Anisa erzählt, dass “wir auf dem Land gewohnt und im Herbst immer viele Beeren gesammelt haben”. Diese wurden nicht nur frisch gegessen, sondern wurden auch zu Marmelade oder Saft verarbeitet, um im Winter nicht nur gut Schmeckendes sondern auch Heilsames zur Verfügung zu haben. “Dunkelrote Beeren haben Farbstoffe, die blutbildend wirken”, erklärt Kerckhoff. “Deshalb sind sie gut für junge Mädchen, die beispielsweise blutarm sind. Auch helfen die Säfte im Winter zum Aufbau der eigenen Kräfte nach Krankheiten”. Die Lettin wirft noch ein, dass sie nicht nur dunkle Beeren gesammelt hätten, sondern dass die gelben Beeren besonders begehrt gewesen wären. Leider könne sie sich weder an den lettischen noch den deutschen Namen erinnern, bedauert die junge Lettin. In diesem Fall wird Kerckhoff noch eine kniffelige Recherche-Aufgabe bevorstehen, um die besonderen gelben Beeren und ihre Wirkung herauszufinden.
Einheizende Schärfe
Die Frauen stellen noch die Unterschiede sowohl bei grundlegenden Rohstoffen von Essenszubereitungen wie auch die Verwendung von Heilpflanzen fest. Diese Unterschiede sind den Klimazonen geschuldet. So wächst Knoblauch beispielsweise sowohl in tropischen wie auch in den gemäßigten Zonen. Die Ingwerpflanze wächst hingegen nur in heißen Regionen der Erde und wird entsprechend nur dort traditionell eingesetzt. Deshalb bemerkt die Lettin auch, dass die Küche in Lettland kaum Schärfe kennt, “wir kochen nicht so viel mit Pfeffer, und Ingwer oder Chili setzen wir gar nicht ein. Dafür nehmen wir viel Sahne”, sagt sie. Die Stadtmütter aus Indonesien, Thailand, Bangladesch jedoch geraten beim Ingwer ins Schwärmen. Die Schärfe der Knolle wird nicht nur in der Küche häufig eingesetzt, sondern hat medizinale Anwendungen und regt beispielsweise die Verdauung an. Erstaunlicherweise reden die Stadtmütter aus den tropischen Regionen unisono von “dem heißen Ingwer”. Das bedeutet, dass Ingwer einheizt und zwar nicht nur die Verdauung, sondern auch die vitalen Lebenskräfte unterstützt. “Deshalb sollten auch Menschen, die zum Beispiel hohen Blutdruck haben oder schnell rote Gesichter bekommen auf Ingwer oder sonstige scharfe Gewürze oder Heilpflanzen verzichten”, pflichtet Kerckhoff bei. Heilpflanzen mit diesem einheizenden Charakter wie auch Pfeffer oder Chili ist hingegen für Menschen positiv, die “schlecht durchblutete Haut haben, leicht müde und schlapp sind”, so die Heilpraktikerin.
Allerdings macht sie eine Einschränkung, “am besten ist das, was Frauen traditionell zuhause zur Verfügung steht”, sagt Kerckhoff. In den gemäßigten Zonen brauchen Menschen deshalb nicht auf Ingwer zurück zu greifen, sondern können Meerrettich oder Senf verwenden. So heizt die Schärfe des Meerrettichs mindestens genauso ein, wie der Ingwer. Auch der Senf mit seinen beissenden Senfölen lässt sich innerlich wie äußerlich gut einsetzen. “Wer unter kalten Füßen leidet kann sich beispielsweise Senfmehl mit Wasser ansetzen und unter die Fußsohlen reiben. Diese Maßnahme sorgt garantiert für warme und gut durchblutete Füße”, sagt Kerckhoff.
Heilsame Öe
Beim Thema Einreibungen kommen die Frauen auf die verschiedenen Öle, die ihnen traditionell zur Verfügung stehen. Adeline aus Burkina Faso berichtet von der Sheabutter. Das reichhaltige Öl wird für Massagen, zur Schönheitspflege oder zur Behandlung von Schreikindern verwendet. Das Olivenöl wird in den Ländern rund um das Mittelmeer am häufigsten eingesetzt. Nicht nur in der Küche ist das Omega-drei-Säure-haltige Öl als gesundes Nahrungsmittel geschätzt, sondern auch für Einreibungen. “Damit können wir unserem Körper bei der Entgiftung helfen, denn die Haut ist ein wichtiges Entgiftungsorgan”, so Kerckhoff. Mit Einreibungen, Wickeln oder Heilerde lassen sich Krankheitsverläufe positiv beeinflussen und Selbstheilungskräfte unterstützen. Als besonders angenehm werden auch Öle mit Heilpflanzen-Essenzen empfunden.
In der anerkannten Aromatherapie sind zum Beispiel über 200 verschiedene ätherische Öle von Heilpflanzen bekannt. Das Angenehme: Die Aromamassagen haben eine ganzheitliche Wirkung auf Körper, Seele und Geist, somit können beispielsweise auch depressive Stimmungen ausgeglichen werden. Andere Heilöle wie Lavendelöl wirken entspannend oder angstlösend. “Wir verwenden auch ein besonderes Öl, dass vom Kamel stammt”, berichtet Bushra die Marokkanerin. “Oh, das ist bei uns ja auch besonders leicht zu bekommen”, wendet Kerckhoff trocken ein und erntet ein herzliches Gelächter. “Im Sinne der traditionellen Anwendung”, so nimmt die Heilpraktikerin den Faden wieder auf, “müssten wir in den gemäßigten Gebieten eigentlich Schweineschmalz verwenden”, sagt sie. Wer also in den gemäßigten Zonen eine Ringelblumen- oder Beinwellsalbe selbst herstellen will, kann zur Grundlage nach wie vor Schweineschmalz verwenden, “allerdings sollte es Bio-Schweineschmalz sein”, so Kerckhoff. Denn aufgrund der Massentierhaltung hat sie Bedenken, gängiges Schweinschmalz zu empfehlen. “Schweineschmalz vom Bio-Schlachter ohne irgendwelche Zusätze wie Äpfel oder Grieben sind nötig!”, betont sie.
Einen schönen Schlußsatz findet die Brasilianerin Jania der Runde. Natürlich benutzen sie in Brasilien auch viele Öle, mit denen die Schönheit oder Gesundheit unterstützt werden kann, “doch das beste Mittel ist eigentlich immer noch genügend Schlaf und viel Lachen”, sagt sie und strahlt dabei über das ganze Gesicht. Die bunte Frauenschar versammelt sich am Ende dieses Workshops noch draußen vor der Tür. Ein gemeinsames Foto wird gemacht. Es ist für das geplante Buch vorgesehen, auf das alle schon sehr gespannt sind.
[1] Stadtteilmütter in Neukölln
Das Diakoniewerk Simeon gGmbH initiierte das Projekt der Stadtteilmütter. Es wird bis Ende 2012 durch das Bezirksamt Neukölln, der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und vom Job Center Neukölln finanziert. Das Projekt bildet arbeitslose Emigrantinnen und Mütter in einem sechs-monatigen Kurs aus. Die Stadtteilmütter werden in zehn verschiedene Bereichen umfassend informiert und geschult. Besondere Themen sind unter anderem Erziehung, Bildung und Gesundheit in Deutschland. Nach ihrer Schulung besuchen die Stadtteilmütter gleichsprachige Familien in den Quartieren Neuköllns und Gropiusstadt, um diese in einer Art Schneeballsystem zu informieren. Jede Familie wird bis zu zehn Mal besucht und erhält auch vorbereitete Materialien. Dabei werden die Familien auch auf konkrete Hilfen des Bezirks wie Nachhilfemöglichkeiten oder die unterschiedlichen Beratungsstellen (Sucht‑, Ernährungs‑, Erziehungs‑, Schuldenberatung) aufmerksam gemacht. Außerdem werden diese auch über das deutsche Schulsystem oder die Gesundheitsversorgung informiert.
Weitere Informationen: www.diakonie-integrationshilfe.de
[2] Werkstatt Ethnologie Berlin e.V
Der wissenschaftlich gemeinnützige Verein besteht aus EthnologInnen, Kultur- und SozialwissenschaftlerInnen mit langjährigen Erfahrungen in Forschung, Lehre und Erwachsenenbildung. Der Verein hat es sich zur Aufgabe gemacht, zum besseren Verständnis zwischen den verschiedenen Kulturen beizutragen. Dazu richtet der Verein verschiedene Veranstaltungen aus. Beispielsweise werden interkulturelle Stadtrundgänge, Ausstellungen oder Vortragsreihen regelmäßig ausgearbeitet. Die Werkstatt Ethnologie initiierte und organisierte das Treffen im Rahmen ihrer letzten Ausstellung “Sibyllenwurz und Speisedampf – Heilmethoden mit Migrationshintergrund und lud sowohl die Stadtteilmütter wie auch Annette Kerckhoff zur Zusammenarbeit für das gemeinsame Buchprojekt ein. Weitere Informationen: www.werkstatt-ethnologie.de
[3] Natur und Medizin e.V.
Die Carstens-Stiftung wurde 1981 von Prof. Karl Carstens, damals amtierenden Bundespräsidenten und seiner Frau, der Internistin Dr. med. Veronica Carstens gegründet. Ziel war die wissenschaftliche Durchdringung der Naturheilkunde und KomplementärmedizinDie Stiftung fördert die Wissenschaft und Forschung zur Naturheilkunde. Wenig später wurde die Fördergemeinschaft gegründet, die heute über 30.000 Fördermitglieder hat. Im Laufe der Jahre konnten über 30 Millionen EUR allein aus Mitgliederbeiträgen und Spenden für in die Forschung investiert werden. Im Gegenzug erhalten die Fördermitglieder fundierte Informationen und Beratung von einer unabhängigen Institution. Damit ist Natur und Medizin heute die größte Bürgerinitiative für besondere Therapierichtungen in Europa. Natur und Medizin e.V. setzt sich u.a. für die Vermittlung von geprüften naturheilkundlichen Selbsthilfestrategien ein. Der Erlös fließt in die Stiftungstätigkeit. Das erwähnte Buch wird “Hausmittel aus aller Welt” heißen und in der Ratgeber-Reihe voraussichtlich Ende 2012 erscheinen. Der Erlös fließt in die Stiftungstätigkeit. Weitere Informationen: www.naturundmedizin.de
[4] Schillerpalais e.V.
Schillerpalais e.V. wurde 2002 von Künstlern und kunstinteressierten Bewohnern gegründet. Der Verein macht stadtteilbezogene Kulturarbeit und ermöglicht regelmäßig Ausstellungen, künstlerische, wie kulturelle Veranstaltungen. Er bietet auch einen Raum für die im Stadtteil KünstlerInnen und Kulturschaffenden. Weitere Informationen: www.schillerpalais.de
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Autorin
• Marion Kaden, Heilpflanzen-Welt (Mai 2012).
Quellen
Das Buch zur Reportage: Hausmittel aus aller Welt
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