Weißnießwurzel

Hahnemanns Apothekerlexikon
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Weiß­nieß­wur­zel, Ver­atrum album, L. [Zorn, pl. med. tab. 295] mit auf­rech­ten Blu­men und drei­fach zusam­men­ge­setz­ten Blu­men­trau­ben; ein bis vier Fuß hohes Kraut mit mehr­jäh­ri­ger Wur­zel auf trock­nen Berg­wie­sen in Schle­si­en, Ungarn, Oes­ter­reich, Tyrol, der Schweitz und andern nörd­li­chern und süd­li­chern Län­dern, wel­ches im July inner­lich wei­ße, äus­ser­lich grün­li­che Blu­men trägt.

Die läng­lich­te, etwa dau­men­di­cke, frisch äus­ser­lich gilb­li­che, tro­cken asch­graue, inner­lich grau­lich­wei­ße mit den Res­ten der abge­schnit­te­nen Zasern um und um besetz­te Wur­zel (Rad. Helie­bo­ri albi, s. Elle­bo­ri albi, Ver­a­tri) ist frisch von wid­ri­gem, tro­cken aber ohne Geruch und von fadem, aber eine besond­re Tro­cken­heit über der Zun­ge erzeu­gen­dem Geschmacke.

Die Alten setz­ten das größ­te Zutrau­en auf sie in den schwie­rigs­ten chro­ni­schen Krank­hei­ten; sie brauch­ten sie häu­fig, oder viel­mehr sie mis­brauch­ten sie in unge­heu­ern Gaben, die den Ken­ner schau­dert, nie­der­zu­schrei­ben. Die Kuren damit, die sie Hel­le­bo­ris­musnann­ten, kom­men in der Beschrei­bung, die sie uns davon hin­ter­lie­ßen, noch über die Tor­tur­gra­de uns­rer ehe­mah­li­gen Jus­titz. Unser ver­stei­ner­tes Zeit­al­ter aber wag­te sich gar nicht an die­se gefähr­li­che, auch für den Robus­tes­ten in einer Gabe von 10 bis 20 Gran töd­li­che Wur­zel, deren fri­scher Saft in eine klei­ne Wun­de gebracht auch grö­ße­re Thie­re augen­blick­lich tödet. Sie tödet unter kal­tem Schwei­ße, einer Art von Stumpf­sin­nig­keit, unbe­schreib­li­cher Angst und unter einem wah­ren Ersti­cken. Wenn aber demun­ge-ach­tet die unver­ant­wort­lich dreis­ten Alten oft Wun­der­ku­ren damit ver­rich­te­ten in Krank­hei­ten, die die zag­haf­ten Neu­ern nicht zu hei­len ver­mö­gen, so wird man ver­lei­tet zu schlie­ßen, daß bei­de des rech­ten Wegs ver­fehl­ten, daß die Wahr­heit in der Mit­te lie­ge, und daß eine so kräf­ti­ge Wur­zel in tau­send­mahl klei­nern Gaben, als die Alten nah­men, und in noch weit klei­nern gebraucht, bei zuver­läs­si­ger Gefahr­lo­sig­keit eins der schätz­bars­ten Heil­mit­tel abge­ben müs­se; wie mich auch zur Gnü­ge die Erfah­rung gelehrt hat.

Sie wird jetzt äus­serst sel­ten als Nie­se­mit­tel in Pul­ver gebraucht; eine sehr unschick­li­che Anwen­dung, bei der oft zwar kein Nie­sen, aber eine Berau­bung der Sin­ne erfolgt. Sonst ist sie sehr hülf­reich im äus­sern Gebrau­che bei eini­gen Haut­aus­schlä­gen der Haust­hie­re. Man hat auch in neu­ern Zei­ten eini­ge Manien bei Men­schen damit geheilt und die Wuth bei Hunden.

Im vori­gen Jahr­hun­der­te glaub­te man in dem Pul­ver der Blu­men des Weiß­mum­mels, im Genus­se der Quit­ten und im Biber­gei­le ein Gegen­gift die­ser Wur­zel gefun­den zu haben, Neue­re im Mohn­saf­te, der doch, wie ich fand, alle Zufäl­le verschlimmert.

Mit meh­re­rer Sicher­heit kann man sich auf den Kamill­mettram und den Kaf­fee verlassen.

Sie ver­dirbt sehr leicht; eine Art klei­ner Mil­ben ver­zehrt sie. Am bes­ten hält sie sich, wenn man sie pül­vert, und das Pul­ver noch­mahls getrock­net in dicht ver­stopf­ten Glä­sern ver­wahrt. Schwa­cher Wein­geist zieht ihre Kräf­te voll­stän­dig aus. Mehr erlaubt mir dieß ver­ket­ze­rungs­süch­ti­ge Zeit­al­ter nicht hier­über zu eröfnen.

Ich weiß nicht, war­um man der Weiß­nieß­wur­zel die Schwarz­nieß­wur­zel, Ver­atrum nigrum, L. [Jac-quin, flor. aus­tr. tab. 336] mit aus­ge­brei­te­ten, dun-kel­pur­pur­ro­then Blu­men­kro­nen und zusam­men­ge­setz­ten Blu­men­trau­ben unter­zu­schie­ben getrach­tet hat, oder woher die Erfah­rungs­be­wei­se her­ge­nom­men wur­den, daß lez­te­re glei­che Kräf­te als die ers­te­re besit­ze. Wir haben Jahr­hun­der­te über zu thun, um die Natur eines ein­zi­ges Krau­tes genau zu erfor­schen, und nicht nöthig, uns die­se müh­sa­me schwie­ri­ge Erfor­schung der Wahr­heit durch Sub­sti­tui­ren noch mehr zu ver­dun­keln. Es ist nur all­zu gewiß, daß zwei ver-schied­ne Pflan­zen auch abwei­chen­de Arz­nei­kräf­te besitzen.