Tinktur

Hahnemanns Apothekerlexikon
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Tink­tur (Tinc­tu­ra) wird ein far­bi­ger, gewöhn­lich geis­ti­ger Aus­zug aus vege­ta­bi­li­schen, selt­ner salz­haf­ten, und noch selt­ner thie­r­i­schen Sub­stan­zen genannt. Das geis­ti­ge Auf­lö­sungs­mit­tel ist am gewöhn­lichs­ten blo­ser Wein­geist, wel­cher die har­zi­gen Thei­le, die äthe­ri­schen Oele, die zur sei­fen­haf­ten Natur geän­der­ten fet­ten Oele, und eini­ge Sal­ze auf­lößt, Grund­stof­fe wel­che am öfters­ten die Arz­nei­kräf­te der rohen Sub­stan­zen ent­hal­ten. In den bes­ten Phar­ma­ko­pö­en wird nicht nur die Men­ge des anzu­wen­den­den Wein­geis­tes, son­dern auch die Stär­ke des­sel­ben, und das Ver­fah­ren bei der Aus­zie­hung vor­ge­schrie­ben. Es gie­bt Fäl­le, wo der was­ser­frei­es­te Wein­geist ange­wen­det wer­den muß, (z.B. bei der Auf­lö­sung fast rein­har­zi­ger und eini­ger andern Stof­fe) die blos durch star­ken brenn­ba­ren Geist von der Ver­bin­dung der bei­gemisch­ten Din­ge getrennt wer­den kön­nen – Bei­spie­le von erstern: die Auf­lö­sung des Gua­jak­har­zes, der Ben­zoe, des Mastix, des Peru­bal­sams, die Aus­zie­hung des Ja-lapp­har­zes; Bei­spie­le von lez­tern: die Aus­zie­hung des rei­nen Zuckers aus Gewäch­sen, die mit Extrakt­stoff bela­den sind, die Berei­tung der Wein­stein­tink­tur, u.s.w., und noch weit häu­fi­ge­re Fäl­le, wo ein ver­dünn­ter Wein­geist das bes­te Menstru­um zur Aus­zie­hung der Arz­nei­kräf­te ist. Die meis­ten rohen Vege­ta-bili­en sind in die­sem Fal­le, in denen die arz­nei­kräf­ti­gen har­zi­gen und äthe­ri­schen Stof­fe mit einer so gro­ßen Men­ge gum­mi­ch­ter und extrak­ti­ver Thei­le gebun­den sind, daß was­ser­frei­er Wein­geist wenig aus­zie­hen, und die meis­te Kraft unauf­gelößt zurück­las­sen wür­de. Unter sol­chem ver­dünn­ten Wein­geis­te ver­steht man gewöhn­lich rek­ti­fi­zir­ten Wein­geist so weit mit destil­lir­tem Was­ser ver­dünnt, daß sein eigent­hüm­li-ches Gewicht gegen Was­ser sich wie 900 zu 1000 verhält.

Zuwei­len scheint die fes­te Ver­bin­dung der Harz­sub­stanz mit dem Gum­mi auf einem gewächs­sauren Sal­mi­a­ke zu beru­hen, und da fin­det man den Zusatz eines Pota­schlau­gen­sal­zes zum Wein­geis­te zur Aus­zie­hung des Har­zes vort­heil­haft (Tinc­turae alkalina‑e). Ver­schied­ne Gum­mi­har­ze sind in die­sem Fal­le: das Gum­mi­am­mo­ni­ak, das Mut­ter­harz, das Saga­pen, der Stin­ka­sant, die Aloe, die Myr­rhe, die Gum­mi­gut­te u.s.w. dür­fen nur mit einem glei­chen Gewich­te trock­nen, gerei­nig­ten Pota­schlau­gen­sal­zes zu fei­nem Pul­ver, oder, wo dieß zu schwer ist, unter Anfeuch­tung mit Wein­geis­te zu fei­nem Brei gerie­ben wer­den, wor­auf die vor­ge­schrie­be­ne Men­ge Wein­geist dar­un­ter gerührt und die Mischung fil­trirt wird. Die­se alka­li­schen Tink­tu­ren haben aller­dings den Vort­heil einer gänz­li­chen Aus­zie­hung des ein­zig arz­nei­kräf­ti­gen, har­zi­gen und äthe­risch­öli­gen Stof­fes, und einer unge­mei­nen Kon­zen­tra­ti­on, so wie den Vor­zug, daß das Harz sich nicht aus ihnen durch Zusatz von Was­ser prä­zi­pi­ti­ren läßt, und kön­nen aller­dings von gro­ßem Nut­zen seyn, wo die alka­li­schen Thei­le, die sich immer in einer sol­chen Tink­tur befin­den, den Krank-heits­um­stän­den nicht ent­ge­gen sind. Die­se Mischung ist auch dann zuträg­lich, wo das Harz durch ein fet­tes Oel gebun­den ist. Der Wein­geist, wel­cher durch Pota­sche ent­wäs­sert wor­den, und hie­bei einen Theil ätzen­des Lau­gen­salz auf­gelößt hat (tar­ta­ri­sirter Wein­geist) wird zu glei­cher Absicht und fast mit glei­chem Erfol­ge in gedach­ten Fäl­len zur Aus­zie­hung der Tink­tu­ren gebraucht, z.B. bei Ver­fer­ti­gung der Bern­stein­es­senz. Indes­sen darf der Apo­the­ker nicht auf eig­ne Hand die­sen Aus­zie­hungs­weg wäh­len, wo der Arzt oder die Phar­ma­ko­pöe blos geis­ti­ge Tink­tur ver­langt, weil Umstän­de vor­han­den seyn kön­nen, wel­che die Gegen­wart des Lau­gen­sal­zes ver­bie­ten, z.B. ein gewis­ser gereit­z­ter, und zur Ent­zün­dung sich nei­gen­der Zustand des Magens und der Gedär­me beim innern Gebrau­che; so wie auch unter der äus­sern Anwen­dung z.B. bei sehr emp­find­li­chen Geschwü­ren die tar­ta­ri­sir-te Aloe- oder Myr­rhen­tink­tur sehr nacht­hei­lig wer­den könn­te. Hier muß rei­ner, unver­misch­ter Wein­geist dazu genom­men wer­den. Woll­te der Arzt eine kon-zen­trirt­e­re Tink­tur aus den Gum­mi­har­zen zie­hen als Wein­geist gie­bt, so wür­de er weit schick­li­cher ver­süß­ten Vitri­ol- oder Sal­pe­ter­geist zum Auf­lö­sungs­mit­tel wäh­len, wo ein lau­gen­sal­zi­ges Auf­lö­sungs­mit­tel nicht ange­zeigt ist.

Auch der wein­geis­ti­ge Sal­mi­ak­geist wird, so wie die ver­süß­ten Säu­ren, und die Aether­ar­ten zuwei­len zur Aus­zie­hung der Tink­tu­ren ver­ord­net. Die Aus­zü­ge mit Wein wer­den mit dem beson­dern Nah­men arz­nei­li­cher Wei­ne (Vina medi­ca­ta) belegt.

Wo kei­ne besond­re Vor­schrift es ver­bie­tet, müs­sen die aus­zu­zie­hen­den Sub­stan­zen nicht nur völ­lig tro­cken, son­dern auch auf das feins­te gepül­vert und durch­ge­beu­telt seyn; ein sehr wich­ti­ger Umstand für eine kräf­ti­ge Tink­tur, wel­cher aber häu­fig ver­nach­läs­sigt wird.

Wo bei Berei­tung einer Tink­tur das Dis­pen­sa­to­ri­um noch die alt­frän­ki­sche, empi­ri­sche Anwei­sung ert­heilt, daß das Auf­lö­sungs­mit­tel (unbe­stimmt in wel­chem Gewich­te oder Mase?) zwei bis drei que­er Fin­ger hoch über die aus­zu­zie­hen­de Sub­stanz gegos­sen wer­den soll, da thut der Apo­the­ker wohl, eine genaue­re Vor­schrift, oder Hin­wei­sung auf ein bestimm­ter reden­des Dis­spen­sa­to­ri­um sich auszubitten.

Gewöhn­lich thut man die trock­nen Pul­ver und das geis­ti­ge Auf­lö­sungs­mit­tel in eine lang­häl­si­ge Phio­le, deren Bauch zur Hälf­te mit der Ver­mi­schung ange­fül-let wird, deren Mün­dung man mit nas­ser Bla­se, mit einem Steck­na­del­lo­che ver­se­hen, ver­bin­det und die man zur des­to kräf­ti­gern Aus­zie­hung auf eine war­me Stel­le oder in eine Sand­ka­pel­le (bei­des oft bei sehr unbe­stimm­ten Wärm­gra­den) zur Diges­ti­on ein­setzt. Wo der Apo­the­ker kei­ne Vor­schrift hie­zu zu befol­gen hat, soll­te er dieß nie thun. Es gehn bei die­sem unbe­stimm­ten Hitz­gra­de oft die feins­ten riech­ba­ren Thei­le und mit ihnen ein Theil der Arz­nei­kraft verl­oh­ren; zuwei­len bela­det sich der Wein­geist mit so vie­lem Har­ze, daß der Ueber­schuß beim Erkal­ten wie­der nie­der­fällt, so daß die Tink­tur wenigs­tens trü­be bleibt; and­rer Nacht­hei­le nicht zu geden­ken. Bei Tink­tu­ren mit Aether ist die Anwen­dung der war­men Diges­ti­on auf­fal­lend unschicklich.

Wo also nicht das Gegen­t­heil ver­ord­net ist, soll die Aus­zie­hung der fein­ge­pül­ver­ten Sub­stan­zen mit geis­ti­gen Flüs­sig­kei­ten blos bei gewöhn­li­cher Luft­wär­me (bei 65° bis höchs­tens 70° Fahr.) vor­ge­nom­men wer­den, und um alles bei die­ser Tem­pe­ra­tur aus­zieh­ba­re zu erhal­ten, eine Woche dau­ern, wel­ches in einer gewöhn­li­chen, damit ange­füll­ten, und wohl ver­kork­ten Arz­nei­fla­sche gesche­hen kann, unter täg­lich zwei- bis drei­mah­li­gem Umschüt­teln. Nach die­sen sie­ben Tagen wird das Hel­le abge­gos­sen, der Rest auf ein Fil­trir­pa­pier abge­träu­felt, und end­lich das zusam­men­ge­leg­te Fil­trir­pa­pier mit dem feuch­ten Res­te in Lein­wand geschla­gen und durch gegen­sei­ti­ges all­mäh­li­ches Zusam­men­dre­hen alles hell­flüs­si­ge voll­ends aus­ge­preßt. Die­se all­mäh­li­che Aus­pres­sung ver­stat­tet, daß selbst das wei­ches­te Fil­trir­pa­pier ganz bleibt, und von der Lein­wand umschlos­sen nicht zer­rei­ßen kann, wohl aber alle Tink­tur hell durch sei­ne Poren schwit­zen läßt.

In mis­bräuch­li­cher Bedeu­tung des Wor­tes Tink­tur benennt man auch eini­ge Auf­lö­sun­gen des Eisens in Säu­ren (selbst wo kei­ne geis­ti­ge Flüs­sig­keit hin­zu­kömmt) mit dem Nah­men Tinkturen.

Eini­ge haben noch unschick­li­che­re vege­ta­bi­li­sche Aus­zü­ge in Was­ser (Auf­güs­se) mit dem Nah­men wäs­se­ri­ger Tink­tur belegt.

Die, wie bil­lig, aus einer eige­nen Sub­stanz gezo­ge­ne Tink­tur hieß sonst auch ein­fa­che Tink­tur (Tinc­tu­ra sim­plex).

Jetzt gie­bt man fast jeder Tink­tur (oft, um dem Apo­the­ker ein Kom­pli­ment zu machen) den Ehren-Nah­men Essenz, da man in ältern Zei­ten gewöhn­lich nur die ganz dun­kel­far­bi­gen, mög­lichst kon­zen­trir­ten Tink­tu­ren unter letz­te­rer Benen­nung ver­stand, oder auch die aus meh­rern Sub­stan­zen mit dem­sel­ben Auf­lö­sungs­mit­tel aus­ge­zo­gnen Tink­tu­ren (zusam­men­ge­setz­te Tink­tu­ren, Tinc­turae s. Essen­tiae com­po­si­tae), ein jezt immer mehr in Ver­fall gera­t­hen­des empi­ri­sches Arz­nei­gemisch. Den Essen­zen und Quint­essen­zen kamen die (viel­leicht nur noch undurch­sich­ti­gern, auch wohl trü­bern), Eli­xi­re sehr nahe; m.s. Essenz und Elixier.

In arz­nei­li­cher Rück­sicht sind die wohl berei­te­ten geis­ti­gen Tink­tu­ren weit kräf­ti­ge­re Arz­nei­for­men, als sie zu seyn schei­nen, und als die Schu­le ange­nom­men hat. Es ist hier genug, wenn ich sage, daß im All­ge­mei­nen nur der zwan­zigs­te bis drei­sigs­te Theil einer Arz­nei­sub­stanz, zur Tink­tur berei­tet, nöthig sei, um glei­che Wir­kung her­vor­zu­brin­gen, als Ein Theil der­sel­ben Sub­stanz, roh, als Pul­ver genom­men, geleis­tet haben würde.