Das Freilandlabor in Berlin Zehlendorf besteht seit 1984. Es ist geprägt von einer sogenannten Niederungslandschaft. Seine torfigen, moorartigen Untergründe bieten einzigartige Feuchtgebiete mit kleinen Teichen, Flüsschen mit Erlenwald oder auch ausgedehnten Wildwiesen auf denen sich Flora und Fauna artenreich entwickeln können. Auf dem vier Hektar großen Gelände werden vom Naturschutzbund Deutschland e.V (NABU) seit vielen Jahren regelmäßig Kräuterführungen organisiert. Diese werden von der Heilpraktikerin Thea Harbauer durchgeführt.
Thea Harbauer
In brennender Nachmittagssonne haben sich neun Interessierte zusammengefunden. Bevor Harbauer in das weitläufige Gelände führt, erzählt sie Grundsätzliches zur Pflanzenheilkunde: Diese sei alt wie die Menschheit, so Harbauer und: “die Menschen waren früher anders in die Natur oder ihre Umwelt eingebunden. Vieles erfassten unsere Vorfahren intuitiv oder mit allen ihren Sinnen. Die heutige Erfassung der Welt ist vorwiegend visuell geprägt. Wir verlassen uns kaum noch auf unsere Nasen oder den Geschmack”. Deshalb lädt Harbauer die Gruppe ein, den Wildkräutern oder Heilpflanzen einmal anders zu begegnen. Ihre Heilkräuterführung soll sich nicht der reinen Wissensvermittlung dienen. Der Heilpraktikerin ist wichtig, dass sich Menschen auf eigene Weise den Pflanzen nähern. “Wir fangen mit dem Einfachsten an und betrachten zum Beispiel die unterschiedlichen Blatt- oder Blütenformen”, ermuntert Harbauer und verteilt Lupen zur eingehenden Betrachtung der Pflanzen. Sie leitet die Gruppe nur ein paar Meter weiter, um vor blühenden wilden Malven (Malva sylvestris), Goldruten (Solidago canadensis) stehen zu bleiben.
Gänseblümchen-Kinder-Tee
Gänseblümchen (Bellis perennis)
“Natürlich stehen wir die ganze Zeit auf allerprächtigstem Salat”, sagt Harbauer lachend. Mit einer ausladenden Geste zeigt sie auf den dicht bewachsenen Untergrund: Dort wachsen unter anderem Spitzwegerich (Plantago lancelota), Breitwegerich (Plantago major), Rotklee (Trifolium pratense) und Gänseblümchen (Bellis perennis) – alles Pflanzen, die selbstverständlich essbar sind. “Gänseblümchen-Tee ist beispielsweise für Kinder sehr wohlschmeckend und gesund. Es hilft ihnen bei Erkältungskrankheiten und Bauchweh”, so die Heilpraktikerin. Sie erklärt weiter, dass diese unempfindliche, zahlreich vorkommende Heilpflanze zeitweise einen schlechten Ruf innehatte. “Ihr wurden abtreibende Wirkungen nachgesagt, weshalb sie massenweise ausgegraben und vernichtet wurde”, so Harbauer, “doch solche negativen Geschichten finden sich nicht nur im Mittelalter, sondern in unserer Zeit”. Als Beispiel führt sie die eingewanderte Pflanze (Neophyt) Ambrosia (Ambrosia) an. Harbauer wundert sich darüber, denn schon der Name weise als “Himmelsbrot” auf Besonderes hin. “Doch weil die Pflanze Allergien auslöst, wird sogar in den Medien dazu aufgefordert, sie auszureissen”, bedauert Harbauer, “statt dessen wäre besser, Betrachtungen über die modernen Lebensweisen und ihren Folgen anzustellen”. Beispielhaft verweist sie auf die fortschreitende Denaturierung der menschlichen Nahrung oder der Beimengung künstlicher Inhaltsstoffe in dieselbe – kein Wunder also, dass das menschliche Immunssystem aufgrund der täglichen Angriffe allein durch die Nahrung überfordert reagieren kann. “Das Immunssystem kann aufgrund vieler komplizierter, ineinandergreifenden Faktoren überreagieren. Nur wird die Ausrottung oder Bekämpfung einer einzelnen Pflanze wie Ambrosia nicht das weitere Anwachsen von Allergien verhindern, sondern eine nachhaltige Änderung in der Lebens- und Ernährungsweise “, so Harbauer.
Lebewesen wie wir
Weitläufiges Gelände des Freilandlabors Zehlendorf
Pflanzen sind Lebewesen genau wie die Menschen ist die Heilpraktikerin überzeugt, nur auf anderer Ebene. Zudem bewegen sich Pflanzen ebenso Menschen wandernd über den Globus, weshalb die Einreise von Neophyten nicht zu verhindern ist. Der Löwenzahn (Taraxacum) käme zum Beispiel ursprünglich von den Hängen des tibetischen Himmalaya erklärt sie und berichtet: “Als ich einmal mit einer chinesischen Gruppe unterwegs war, fiel ihnen der massenweise auftretende Löwenzahn auf. Die Schlussfolgerung der Chinesen war, dass die Deutschen viel Unterstützung für ihre Leber bräuchten”. Den Vorstellungen der Chinesen entsprechend siedeln sich diejenigen Heilpflanzen in der Nähe der Menschen an, die zur Unterstützung der menschlichen Gesundheit gebraucht werden. Weil Löwenzahn sehr bitter ist, kann dieser als unterstützendes Lebermittel genutzt werden. “Ich fand den Hinweis interessant und bei unserem fetten Essen und der allgemeinen Völlerei nachvollziehbar”, so Harbauer.
Multitalent Goldrute
Goldrutenblühen Nahaufnahme
Dann wendet sich die Heilpraktikerin der Goldrute zu. Sie pflückt viele Blüten und verteilt diese in der Gruppe. “Diese Goldruten-Art stammt ursprünglich aus Kanada. Sie hat sich gut angepasst, wächst überall wie auch massenweise, weshalb wir uns gerne etwas mit dem Messer abschneiden können”, erklärt sie. Dann fordert sie die Gruppe auf, die Blüten zunächst genau anzuschauen. Die meisten sind fasziniert von den zahllosen, margarittenförmigen Blütchen, die sich auf einem Stengel wie Perlen aneinanderreihen. Anschließend werden die Blüten probiert. Sie haben zunächst einen angenehm süßlichen Geschmack, der sich dann ins Bittere wandelt. “Schneidet die Pflanzenteile immer mit einem Messer ab, rupft niemals die Wurzeln mit heraus”, fordert die Heilpraktikerin auf, denn wenn Menschen umsichtig mit den Wildpflanzen-Ressourcen umgehen, haben alle etwas davon. “Nehmt ein paar Blüten mit, legt sie zuhause in einen Becher mit kaltem Wasser. Morgen früh entfernt ihr die Blüten und trinkt den Blütenauszug ohne ihn aufzukochen”, empfiehlt sie und erzählt weiter von der nierenfördernden Funktion des Goldrutentees. So dient er medizinisch zur Durchspülungstherapie zur Ausleitung von Bakterien bei Harnwegsentzündungen. “Außerdem stärkt Goldruten-Tee die Nieren und das Nierengewebe”, so Harbauer. Auch können die Blüten (zum Beispiel im Salat) wegen ihrer Bitterkeit zur Verdauungsförderung eingesetzt werden. “Die Goldrute hilft jedoch auch bei Beziehungskummer. Denn die Nieren als paariges Organ sind laut chinesischer Heilkunde der Sitz der Lebensenergie”, so Harbauer.
Spitzwegerich: Auch zur Wundbehandlung
Platz für Frösche und andere Reptilien
Weiter geht es im Verköstigungsprogramm: Die Gruppe probiert die Blüten der wilden Malven. Sie haben einen angenehm süsslich Geschmack. Nach längerem Kauen entwickelt sich eine schleimige (angenehme) Konsistenz im Mund. Die Gruppe erfährt, dass diese Schleimbildung sich wohltuend auf Entzündungen im Mund‑, Rachenraum oder auch im Magen auswirkt. Auch der Spitzwegerich wird nicht vergessen: “Früher wurde gesagt, dass Spitzwegerich Wunden mit goldenem Faden zusammen näht. Die Pflanze wird gerieben oder zerkaut und auf Wunden gelegt. Sie hat natürliche, antibiotische Wirkung und hilft der Wundheilung”, so Harbauer. Juckende Insektenstiche können ebenso damit behandelt werden.
Märchenhaftes, Mythologisches hat seinen Platz
Gundermann (Glechoma hederacea) Schutzhecke
Dann zieht die Gruppe weiter und an einigen Teichen vorbei. Frösche springen laut platschend ins Wasser und schauen aus sicherer Entfernung neugierig den Störenfrieden nach. Der Eintritt in ein kleines Erlenwäldchen verschafft angenehme Kühle. Es hat sich an einem sich schlängelden Flüsschen angesiedelt. Der Weg durch das Wäldchen wird von aufgeschichteten Zweigen, Ästen und Baumstämmen gesäumt. Er dient als Wegschutz, um ein Eintreten in den moorigen Untergrund zu verhindern und bietet außerdem vielen Kleinstlebewesen Unterschlupf. Auf einer sonnigen Lichtung hat sich Gundermann (Glechoma hederacea) über den Wegeschutz ausgebreitet. Im tanzenden Sonnenlicht entsteht eine märchenhafte Stimmung. Fantasiebegabte der Gruppe können Feen und Heinzelmännchen an diesem verwunschen erscheinenden Ort aufleben lassen. Harbauer beugt sich zum Gundermann, pflückt ein paar der dunklen, kräftigen Blättern: “Reibt einmal an den Blättern und riecht daran”, fordert Harbauer auf. Ein kräftiger aromatischer Geruch entsteht und fast automatisch probieren die meisten die Blätter. Wer den Mund zu voll genommen hat, wird nun eine böse Überraschung erleben: Die Pflanze schmeckt genauso kräftig wie sie riecht. Das heisst, wer den Mund zu voll genommen hat, wird die Blätter schnell wieder ausspucken.
Märchenhaft: Ein Baumtier
“Gundermann ist genügsam und wächst auch in dunklen Ecken des Balkons. Damit steht immer ein kräftiges Würzkraut zur Verfügung. Für Quark zum Beispiel reicht schon ein halbes Blatt”, so Harbauer. Dann erzählt sie von den “Heckensitzerinnen”. So hiessen früher heilkundige Frauen, die unter anderem in derartigen Gundermann-Gehölzen nach ihren Heilkräutern suchten. Der Begriff “Hexe” leitet sich daher und galt Frauen, die wegen ihres Heilkräuterwissens vom Volk aufgesucht wurden. Im späteren Mittelalter wandelte sich der Begriff: Die Kirche verteufelte heilkundige Frauen, um das vermeindliche heidnische Wissen und den Aberglauben zu verbannen (viele Behandlungen wurden auch mit magischen Sprüchen begleitet). In den Zeiten der Inquisition wurden tausende heilkundiger Frauen auf Scheiterhaufen verbrannt – mit ihnen ging auch ihr Wissen und Erfahrung verloren.
Ressourcenschonender Umgang mit Heilpflanzen nötig
Gemüsehochbeet im Bauerngarten
Der Rundgang über das Gelände des Forschungslabors führt noch zu einem ordentlich angelegten Nutzgarten auf dem auch ein Taubenschlag untergebracht ist. In einem anschließenden verwilderten Teil stehen Bienenkörbe. Wieder im Eingangsbereich angekommen, darf die Gruppe noch den Bauerngarten betreten. Auf Hochbeeten wachsen Tomaten, Bohnen und andere Gemüsearten. Der Meerrettich mit seinen kräftigen Blättern steht ausgezeichnet, genauso wie die anderen Nutzpflanzen. Dazwischen stehen Borretsch (Borago officinalis), Herzgespann (Leonurus cardiaca), Melisse (Melissa officinalis) Pfefferminze (Mentha x piperita) oder die kräftig wuchernde Kapuzinerkresse (Tropaeolum).
Überlebensmöglichkeit für Tiere und Pflanzen
Zum Abschied weist Harbauer nochmals auf den nötigen behutsamen Umgang der heilpflanzlichen Ressourcen hin. Mit Sorge betrachtet sie den modernen Trend Heil- und Wildkräuter zu sammeln, um sie in irgendeiner Weise zu verarbeiten. “Selbst Gourmetköchen preisen im Fernsehen Wildkräuter an”, so Harbauer, “leider können viele Menschen beim Sammeln nicht aufhören. Gier, Sammeltrieb oder auch der unsachgemäße Umgang mit den Wildpflanzen führt zu ihrer Vernichtung. “Deshalb sammelt nur Pflanzen, die ihr zum einen wirklich kennt und die zum anderen genügend wachsen. Brennnessel, Goldrute bieten sich zum Beispiel gut für die ersten eignen Erfahrungen an”, bittet sie. Sie habe schon erlebt, dass nicht aufgeblühte Nachtkerzenblüten massenweise gepflückt wurden, um daraus Gemüse zu machen. Dabei wurde von den Sammlern vergessen, dass auch Tiere davon leben. Falterarten wie Windenschwärmer oder Taubenschwänzchen kommen zum Beispiel über zweitausend Kilometer in die gemässigten Regionen geflogen, um sich unter anderem von Nachtkerzenblüten zu ernähren. “Wenn also Nachtkerzenblüten aus purer Sammelwut komplett abgeerntet werden, wird das ökologische Gleichgewicht beeinträchtigt. “Deshalb ist es besser Wildpflanzen zum Beispiel aus dem Anbau zu beziehen oder im eigenen Garten anzusiedeln”, so die dringende Bitte der Heilpraktikerin. “Unter diesen Voraussetzungen wie auch mit Neugier und Respekt vor den Pflanzenlebewesen werdet ihr sicherlich spannende Erfahrungen machen”.
Autorin
• Marion Kaden, Heilpflanzen-Welt (2012).
Quellen
Kontakt und weitere Informationen: www.thea-harbauer.de
weitere Infos
• Löwenzahn macht fit
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• Melisse: Monographie
• Pfefferminze: Bewährtes Hausmittel