Eine Kräuterwanderung im Val d’Err, Savognin, im Schweizer Kanton Graubünden ist etwas Besonderes: Diese bringt Einheimischen und Touristen die faszinierende Bergwelt mit seiner Flora und vor allem Fauna näher. Astrid Thurner bietet schon seit Jahrzehnten diese Wanderungen an. Dabei lässt sie ihr Wissen und Erfahrungen als Drogistin einfließen.
Talblick ins Val d’Err
Chrütli-Tour im Val d’Err – das klingt nicht nur spannend, sondern fasst alles Wesentliche zusammen: ‘Chrütlis’ heisst Kräuter im Schweizerischen. Das Val d’Err ist ein Tal im größten Naturschutzpark der Schweiz, dem Parc Ela. Dort bietet Astrid Thurner, Drogistin, aus Savognin/ Graubünden ihre Kräuter- beziehungsweise botanische Touren an. Diese sind immer mit ausgiebigen Wanderungen verbunden. Denn viele spezielle oder selten gewordene, alpine Pflanzen haben besondere Standorte auf Almen, in Hochmooren oder im kargen Gebirge. Die vorgesehene, achtstündige Chrütli-Tour hat verschiedene Ziele: “Wir werden eine Edelweiss-Wiese aufsuchen, selten gewordene Feuerlilien sehen, an einem Adlerhorst vorbeikommen und vieles mehr”, verspricht Thurner am Treffpunkt in Savognin.
Gemeinsame Pflanzenbestimmung
Elf Interessierte haben sich zusammen gefunden, ausgerüstet mit Wanderschuhen, Stöcken, Proviant und Rucksäcken. Ein Kleinbuss bringt die Gruppe zum Ausgangspunkt des Val d’Err. Die Gruppe ist bunt zusammen gewürfelt: Graubündner aus der Region, Schweizer und deutsche Urlauber sind dabei. Folglich muss sich zunächst einmal auf die gemeinsame Sprache geeinigt werden. Denn das Rhätoromanisch (eine Mundart der Romanischen Sprachen) mit dem Thurner die Begrüßungsworte spricht, verstehen selbst die meisten Schweizer trotz ihrer Vielsprachigkeit nicht. Ganz zu schweigen von den Deutschen, die bei dem ungewöhnlich klingenden Rhätoromanisch große Augen machen. Zuletzt wird sich auf Schweizerdeutsch geeinigt, dass für Deutsche nach einigem Einhören gut verständlich ist. “Sollte ich zu sehr ins Schweizerdeutsch verfallen, sind Nachfragen auf Hochdeutsch jeder Zeit möglich”, sagt Thurner lachend.
Park Ela:
Mit 548 Quadratkilometern ist Park Ela der größte Naturpark der Schweiz. Seine Besonderheiten liegen in der vielfäligen Landschaft und ursprünglicher Natur. 19 Parkgemeinden haben sich zusammen getan, um die Natur und Landschaft zu schützen wie die regionale Wirtschaft zu stärken. Durch geführte, sehr sportliche Wandertouren, wie ein Tourismusbroschüre Auskunft gibt, ist es im Park Ela möglich, Murmeltiere, Gämsen, Hirsche oder Steinböcke zu beobachten. Neben der Natur gilt es für die Gemeinden auch das dreisprachige kulturelle zu bewahren: In der Region wird Rhätoromanisch, Italienisch und Deutsch gesprochen. Die Ursprünge für die kulturelle Vielfalt wurde vor 2000 Jahren von römischen Kaisern begründet: Sie nutzten die Pässe wie Julier oder Septimer, um mit ihren Heeren oder Händlern die nördlichen Regionen von den Alpen zu erobern.
Weitere Informationen zum Park unter: www.parc-ela.ch. Kulturprogramm, sportliche, botanische Aktivitäten unter: Web-parc-ela_broschure_2012.pdf.
Schützenswerte Wild- und Heilkräuter
Rauschender, kristallklarer Gebirgsbach
Der Wanderweg ins Val d’Err startet mit der Überquerung einer Holzbrücke. Er führt über einen rauschenden, wilden Gebirgsbach. Der Morgen im strahlendem Sonnenschein verspricht einen wunderschönen Tag. “Der Parc Ela ist ein bedeutendes Naturschutzgebiet wegen seiner seltenen Flora wie auch Fauna”, beginnt Thurner, “gut trainierte Wanderer können geführte Touren ins Hochgebirge machen und mit ein bisschen Glück Murmeltiere, Gämsen oder Steinböcke beobachten. Doch wir widmen uns heute ausschließlich der Flora”. Schon nach ein paar Schritten bleibt Thurner stehen. Sie weist auf Orchideen, die zahlreich am Wegesrand stehen. So das breitblättrige Knabenkraut (Dactylorhiza majalis) oder das Fuchs-Knabenkraut (Dactylorhiza fuchsii). “Die Orchideen sind die jüngsten Pflanzen, die sich in der Evolution ausgebildet haben, weshalb ihre Bestimmung oft auch schwierig ist, wegen ihrer Kreuzungen”, so Thurner.
Ein Paradies für seltene Pflanzen
Die europäischen Orchideen gehören zu den stark gefährdeten Pflanzen. Sie benötigen wie viele selten gewordene Wildkräuter oder Heilpflanzen besondere Umgebungen (Habitate). Bei der veränderten ländlichen Bewirtschaftung ist wenig Platz für beispielsweise Trockenrasen, Hochmoore oder karge Böden. Die Ausbringung von Gülle bis zu den hochgelegenen Almen wie die intensive Beweidung derselben machen der heimischen Flora das Leben schwer. Der Schweizer Bund versucht, diese Tendenz aufzuhalten. “Bauern werden finanziell unterstützt, die ihre Almen bis zum 15. Juli nicht mähen. Dies bedeutet nämlich, den Wildpflanzen die nötige Zeit zu geben, ihre Samenstände auszubilden”, erzählt Thurner. Die Höhe der finanziellen Prämien hängt von der Vielzahl spezieller Pflanzen wie Feuer- Pardieslilien, Enziane oder Ordideen (wie Wild- und Heilkräutern) ab, die vor dem Heuen auf einem Ar (100 Quadratmeter) gezählt werden können. Die höchste Prämie bekommen Bauern, wenn sie ihre Bergwiesen im Inventar als Trockenwiese registrieren lassen.
Biodiversität
Der Schweizer Bundesrat legte 2008 fest, sich im Rahmen der Erhaltung der Biodiversität auf internationaler Ebene anzuschließen (UNO-Generalversammlung 2006) und auch auf kantonaler Ebene etwas zu tun. Nun bekommen Bauern Prämien, die aufs Gülle oder Pestizide verspritzen verzichten. Sie verpflichten sich bis zum 15.07. die Pflanzen auf den Almen stehen zu lassen. Das ist der Zeitpunkt, wo die Pflanzen ihre Samenbildung abgeschlossen haben (im Unterland bis zum 15.06). Erst danach erfolgt die erste Mahd.
Erkältungs-Heilpflanzen
Pestwurz (Petasites officinalis)
Der Wanderweg begleitet das Val d’Err U‑förmig entlang der eingrenzen Berge. Während des langsamen, dreistündigen Aufstieges zur Edelweiss-Hang am Ende des Tals bleibt Thurner häufig stehen. Pflanzen, die nicht geschützt sind, pflückt sie und erklärt die Unterschiede. So hält sie schwer unterscheidbare Doldenblütler in die Höhe, “der wohlschmeckende Kerbel (Anthriscus) lässt sich durch die Behaarung an seinen Stengel gut von dem Kälberkropf (Chaerophyllum) unterscheiden”, so Thurner. “Der Kälberkropf hat zudem leicht rosa blühende Blüten und ist nicht essbar!”. Als die Gruppe an einem Bach vorbeikommt, der eine Bergwand herabstürzt, bleibt Thurner vor einer Pflanze mit großen, weichen Blättern stehen: Dem Pestwurz (Petasites officinalis). Die Pflanze schätzt Schatten und Feuchtigkeit, weshalb sie am Bach gute Wachstumsbedingungen vorfindet. “Pestwurz ist eine Heilpflanze. Ihre Wirkstoffe sind krampflösend und werden zur Linderung von Reizhusten und Krampfschmerzen eingesetzt”, so Thurner. Die Wurzeln des Pestwurzes werden getrocknet und Teemischungen hinzugefügt. Ein anderes, wichtiges Hustenkraut steht gleich ein paar Schritte weiter. Allerdings in der Sonne. Denn Thymian (Thymus vulgaris) braucht viel Wärme, um seine ätherischen Öle zu bilden. Thurner beugt sich zu der Pflanze hinunter, die sich auf weisem Kalkstein angesiedelt hat. Der Felsen speichert die Sonnenwärme, weshalb der Thymian auch dann noch “warme Füße” haben wird, wenn die nächste Regenschauer kommt. Sie zupft ein paar Stengel und gibt diese in die Runde. “Riechen Sie mal! Was für ein aromatisches Kraut!”, schwärmt Thurner. Sie führt weiter aus, dass Thymianöle medizinisch bedeutsam sind, weil sie Bakterien eindämmend wie auch entzündungshemmend wirken und deshalb in der Erkältungszeit gerne eingesetzt werden.
Sportliche Wanderung
Edelweiss
Der Weg schlängelt sich an felsigen Hängen entlang, der immer wieder wunderschöne Ausblicke auf das Tal oder die gegenüber liegenden hohen Berge ermöglicht. Er wird von Kiefernwäldern unterbrochen, von Wiesen oder Feuchtgebieten. Am Ende des Tals führt er wieder über eine Brücke undzwar über den Gebirgsbach, der am Tal-Eingang die Gruppe mit seinem Rauschen begrüßte. Wegen der Schneeschmelze in den Bergen führt er viel Wasser, das brodelnd ins Tal tobt. Der Schritt Thurners ist zügig. In den kleinen Pausen pflückt die Drogistin immer neue Pflanzen, die sie auch mit Hilfe einer Lupe botanisiert. Das Bergansteigen wird nach drei Stunden anstrengend für jene, die nicht so gut trainiert sind. “Bald sind wir oben auf dem Edelweiss-Hang, da machen wir eine richtige Pause”, verspricht die fitte Drogeristin.
Astrid Thurner
Doch vorher muss noch richtig gekrackselt werden. Auf der Almwiese angekommen, belohnt ein atemberaubender Ausblick auf das gesamte Val d’ Err die Mühen. Die Gruppe lässt sich zufrieden auf die Wiese nieder – Zeit für eine kleine Mittagspause. Der Proviant wird ausgepackt und hungrig verspeist. Die Sonne brennt in dieser Höhenlage besonders intensiv. Wer die Blicke von der grandiosen Landschaft nehmen kann und auf die Wiese schaut, kann weitere Schätze entdecken: Die gelbblühende Arnika (Arnica montana) beispielsweise. Die wichtige Heilpflanze für Verletungen aller Art (Quetschungen, Prellungen, Blutergüsse) ist ein Einzelgänger. Denn sie steht – im Gegensatz zu Anpflanzungen in botanischen Gärten – als einzelne Pflanze auf der Wiese. Auch das zauberhafte Edelweiss (Leontopodium alpinum) mit seinen pelzigen Blüten steht eher vereinzelnt. Bergklee (Trifolium montanum), Acker-Schachtelhalm (Equisetum arvense) oder das seltene Katzenpfötchen (Antennaria dioica) hingegen stehen steht immer in einer größeren Gruppen.
Heilkräuter der Almbewohner
Gelber Enzian, noch ohne Blütenbildung
Beim gemütlichen Ausruhen erzählt Thurner noch mehr: “Die Einheimischen haben früher mit Meisterwurz (Peucedanum ostruthium), dem gelben Enzian (Gentiana lutea) und Arnika alles geheilt”. Sie hält einen kräftigen Meisterwurz samt Wurzel in die Höhe. “Tote wurden früher drei Tage lang aufgebahrt, damit die Lebenden Abschied nehmen konnten. Um den entstehenden Geruch zu vertreiben, wurden getrocknete Meisterwurz-Wurzeln geräuchert”, so Thurner. Er wurde allerdings auch als Tabakersatz, als Tee bei Magen-Darmleiden oder Leber-und Gallenleiden oder als Zugsalbe verwendet. Der kräftig wachsende, gelbe Enzian auf der Wiese steht noch nicht Blüte. Seine Blätter haben eine ausdrucksvolle Struktur, die denen des weissen Germers (Veratrum album) ähnlich ist. “Bitte nicht verwechseln!”, warnt Thurner, denn der Germer ist giftig. Verwechslungsgefahr dürfte allerdings kein Problem sein. Denn der gelbe Enzian steht in Graubünden unter strengem Naturschutz. Seine Wurzeln werden zu Magenbittern verarbeitet. Wobei die Hersteller derselben ihre Rohstoffe oft entweder aus Kulturen oder Wildsammlungen außerhalb Europas beziehen. Die alpinen Enzianschnäpse haben es in sich: Der im Enzian enthaltene Bitterstoff Secoridoid gehört zu den bittersten Naturstoffen überhaupt.
Schöne Feuerlilien
Feuerlilien
Nach der erholsamen Pause kann es weitergehen. Der Rückweg schlängelt sich nun genau an der gegenüberliegenden Seite des Aufstiegs. Auf der Südseite der Berghänge stehen Feuerlilien auf den Almwiesen. Tatsächlich machen sie ihrem Namen alle Ehre und strahlen feuerrot mit einem orangenen Muster in der Mitte. “Dieses Jahr ist die Blüte recht spät. In anderen Jahren gibt es auf dieser Wiese einen roten Feuerlilien-Teppich”, so Thurner. So hat die Gruppe Glück, wenigstens eine Anmutung des Schauspiels zu erleben. Ohnehin ist das Alpenklima speziell. Nicht selten liegt bis Anfang Juni noch Schnee in den Bergen – so wie dieses Jahr: Deshalb haben alpine Pflanzen oft nur einen Monat Zeit, um vom ersten Knospen, zur Blüte zur Samenbildung und damit zur Arterhaltung zu gelangen.
Murmeltiere: Des Adlers Lieblingsspeise
Kräuter
Dann führt ein schmaler Pfad auf halber Berghöhe über unwegsameres Gelände. Die Gruppe muss sich auf den Pfad konzentrieren: Dreimal wird ein Geröllfeld überquert – wie gut dass es Stöcker gibt! Oder ein feucht, glitschig-steiniges Gelände, dass aussieht, als würde es sich in Regenzeiten zu einem reissenden Bach verwandeln. Die Sonne brennt, weshalb das Eintauchen in ein Waldgebiet als kühlend und angenehm empfunden wird. Unter einer schroffen, geraden Felswand bleibt Thurner stehen und zeigt nach oben: “Dort ist ein Adlerhorst, doch sind die Eltern ausgeflogen und auf Futtersuche”. Viele Kräuterinteressierte haben nicht nur eine eigene Lupe, sondern auch noch ein Fernglas dabei. Damit suchen sie die Felswände ab. In schwindelnder Höhe in einer Art Höhle ist nach genauem Hinsehen der Horst auszumachen. Bald darauf zieht ein Adler in der Nähe seine luftigen Kreise und sucht die Almen ab. “Er ist auf der Jagd nach Murmelis”, sagt Thurner und meint damit die Murmeltiere. Junge, unerfahrene Murmelis sind die Hauptspeise des Adler-Nachwuchses.
Bewahrung der Schweizer Landschaft nötig
Einfache Hütten
Eine zweite Rast wird auf der Alm Bartg eingelegt. Das sind hochgelegene Holzhütten, in denen die Bergbauern im Sommer zum einen selbst lebten oder in Ställen ihr Vieh unterbrachten. Die Almhütten verstrahlen eine gemütliche Atmosphäre. Beim zweiten Blick zeigt sich jedoch ihre Einfachheit. Das Leben auf den Almen war und ist auch heute noch wegen der schweren körperlichen Arbeit nicht leicht und häufig auf unrentabel für die Bauern. Deshalb wurden viele sommerliche Almbetriebe aufgegeben und in den 70iger Jahren aus- und für touristische Zwecke umgebaut. “Doch seit einigen Jahren unterliegen die Hütten strengen Auflagen des Landschaftschutzes”, erklärt Thurner. Der Schweizer Bund versucht durch umfassende Maßnahmen des Schutzes der Landschaft, Pflanzen und Tiere die Ursprünglichkeit der Schweizer Heimat zu bewahren. Häufig ist dieses Vorhaben eine schwierige Gradwanderung zwischen wirtschaftlichen und touristischen Interessen, von denen zahlreiche Schweizer leben.
Kräuterwissen geht verloren
Wundklee (Anthyllis)
An einem Brunnen der Alm wird frisches Bergwasser in die mitgebrachten Trinkflaschen gefüllt. Das eisige Bergwasser ist erfrischend und köstlich. “Des schmöckt guat”, heisst es unisono in der Runde – genau die richtige Abkühlung für die überhitzten Kräuter-Wanderer. Thurner findet selbstverständlich auch an diesem Platz weitere Pflanzen zum Botanisieren. “Wundklee (Anthyllis) war früher eine wichtige Heilpflanze. Dann wurde sie wegen der ähnlichen Wirkmechanismen von der Kamille (Matricaria chamomilla) abgelöst. Und heute haben wir Novartis”, weist sie ironisch auf eines der weltweit agierenden Schweizer Pharma-Unternehmen hin. Auch wenn die Schweizer durch ihre grandiose Natur der Naturheilkunde sehr viel näher stehen als die Deutschen, so deutet sich Thurners Bemerkung auch eine Veränderung bei den Schweizern an: Ältere Generationen haben allerorten noch viel Kräuterwissen, dass auch im Krankheitsfalle zum Einsatz kommt. “Bei den Jüngeren ist leider viel weniger Wissen da, auch vertrauen sie häufiger auf allopathische Mittel”, bedauert Thurner. Deswegen bietet sie seit vielen Jahren Kräuterwanderungen an, um möglichst vielen Menschen Kenntnisse über heilsame Wild- und Heilpflanzen näher zu bringen. Damit trägt sie auch zur Wertschätzung und dem Wissens-Erhalt dieses großen Schweizerischen Schatzes bei.
Autorin
• Marion Kaden, Heilpflanzen-Welt (2012).
Quellen
Kräuterwanderungen in Savognin/ Val d’Err: Tourismuszentrale
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