Anthroposophische Medizin

Rudolf Stei­ner

Die anthro­po­so­phi­sche Medi­zin erwei­tert die Schul­me­di­zin um alter­na­ti­ve Heil­me­tho­den. Sie behan­delt den Men­schen in sei­ner Ganz­heit und ver­steht Krank­heit auch in einem spi­ri­tu­el­len Sinn. Ihr zu Grun­de liegt Rudolf Stei­ners Welt- und Menschenbild.

Die anthro­po­so­phi­sche Medi­zin ver­ste­he Krank­heit als eine Abwei­chung oder Dys­re­gu­la­ti­on eines Ord­nungs­zu­stan­des, sagt der Neu­ro­lo­ge und Psy­cho­the­ra­peut Chris­ti­an Schop­per. Schop­per lei­tet die Psy­cho­so­ma­ti­schen Kli­ni­ken Son­nen­eck im deut­schen Baden­wei­ler, führt in Zürich eine Pri­vat­pra­xis mit Schwer­punkt anthro­po­so­phi­sche Psy­cho­so­ma­tik und Schmerz und ist Dozent für anthro­po­so­phi­sche Medi­zin am Insti­tut für Natur­heil­kun­de der Uni­ver­si­tät Zürich. Eine sol­che Abwei­chung kann sich laut Schop­per auf ver­schie­de­nen Ebe­nen des mensch­li­chen Seins ent­wi­ckeln: Kör­per, See­le und Geist kön­nen erkran­ken oder an einem Krank­heits­pro­zess betei­ligt sein. Sofern mög­lich wird bei der anthro­po­so­phi­schen Medi­zin die natur­wis­sen­schaft­lich ori­en­tier­te Schul­me­di­zin inte­griert, dabei aber um unter­schied­lichs­te kom­ple­men­tär­me­di­zi­sche und alche­mis­tisch-spa­gy­ri­sche Ele­men­te erwei­tert. Auf der Grund­la­ge die­ses kom­ple­xen Medi­zin­ge­bäu­des, das in gewis­ser Wei­se der indi­vi­du­el­len Viel­ge­stal­tig­keit mensch­li­cher Schick­sa­le ent­spricht, kön­nen sich anthro­po­so­phi­sche Ärz­te ver­schie­dens­ter the­ra­peu­ti­scher Mass­nah­men bedie­nen. Aus­ge­spro­chen posi­tiv beur­teilt Chris­ti­an Schop­per die­se breit gefä­cher­ten Mög­lich­kei­ten der Patientenbehandlung.

Innere Müllhalden

Amei­se

Genau­so wie beim Schul­me­di­zi­ner steht am Anfang einer anthro­po­so­phi­schen Behand­lung die Ana­mne­se. “Dar­in liegt zunächst das Erken­nen des Gewor­de­nen”, sagt Schop­per. In der anschlies­sen­den Dia­gno­se ver­sucht der Arzt den ganz­heit­li­chen Pro­zess zu begrei­fen, in dem sich der Pati­ent gera­de befin­det. Die Her­an­ge­hens­wei­se und das erwei­ter­te Krank­heits­ver­ständ­nis erläu­tert er am Bei­spiel einer arthri­ti­schen Rheu­ma­er­kran­kung: “In den Gelen­ken wer­den Stof­fe abge­la­gert, die der Kör­per nicht mehr rich­tig ver­ar­bei­tet. Bild­lich gespro­chen ent­steht so etwas wie eine inne­re Müll­hal­de.” Er ver­weist auf die Amei­sen, die als eine Art Gesund­heits­po­li­zei über­all dort auf­tauch­ten, wo sich Abge­la­ger­tes und Ver­we­sen­des fin­de. “Amei­sen tra­gen zusam­men, ver­wer­ten oder fres­sen auch Abfall auf und imp­fen den Boden mit ihrer Amei­sen­säu­re.” Schop­per, der auch als klas­si­scher Homöo­path aus­ge­bil­det ist, ver­schreibt des­halb Rheu­ma­pa­ti­en­ten ger­ne poten­zier­te Amei­sen­säu­re, um kör­per­li­che Pro­zes­se des Abla­gerns zu unter­bre­chen und den Selbst­hei­lungs­pro­zess in Gang zu brin­gen. “Rheu­ma­er­kran­kun­gen gehen häu­fig auch mit star­ken Schmer­zen ein­her” erklärt der Arzt. Dies sei für ihn zunächst ein­mal ein Hin­weis oder eine War­nung, um anste­hen­de see­li­sche oder kör­per­li­che Pro­ble­me anzu­pa­cken. Da hef­ti­ger Dau­er­schmerz jedoch zu einer Über­for­de­rung des gesam­ten Orga­nis­mus füh­ren kann, gehen Anthro­po­so­phen prag­ma­tisch vor: “In sol­chen Fäl­len muss dem Lei­den­den zunächst der Schmerz abge­nom­men wer­den. Wir behan­deln mit schul­me­di­zi­ni­schen Mass­nah­men und ver­ab­rei­chen Schmerz­mit­tel, wo immer sie sinn­voll sind”, sagt Schop­per. Aus­ge­spro­chen wich­tig ist ihm in der wei­te­ren Behand­lung jedoch, das “Leib­ver­ständ­nis zu ver­än­dern”. Er wür­de dem Rheu­ma­pa­ti­en­ten spe­zi­el­le Ölbä­der ver­ord­nen, damit er sich in sei­nem Kör­per wie­der woh­ler zu füh­len beginnt. Eben­falls als geeig­ne­te Mass­nah­me erach­tet Schop­per die rhyth­mi­sche Mas­sa­ge, um den so genann­ten Ener­gie­kör­per­be­reich zu stärken.

Heilende Bewegung

Rhyth­mi­sche Massage

Die rhyth­mi­sche Mas­sa­ge ist eine Wei­ter­ent­wick­lung der klas­si­schen Mas­sa­ge unter beson­de­rer Berück­sich­ti­gung der Bio­rhyth­men. Nach anthro­po­so­phi­schem Ver­ständ­nis sind sol­che Rhyth­men – etwa die Jah­res­zei­ten oder Tag-Nacht-Wech­sel – von aus­ser­or­dent­li­cher Bedeu­tung. Sie sol­len bei Lebens­vor­gän­gen takt­ge­bend oder auch lebens­er­hal­tend (Aus- und Ein­at­mung, Herz­schlag) sein. Funk­tio­nie­ren Lebens­funk­tio­nen nicht ihren natür­li­chen Rhyth­men ent­spre­chend, kön­nen dem­zu­fol­ge Befind­lich­keits­stö­run­gen, Krank­hei­ten oder gar der Tod auf­tre­ten. Die spe­zi­ell aus­ge­bil­de­ten The­ra­peu­ten ver­su­chen, die gestör­ten Rhyth­men wie­der her­zu­stel­len, indem sie mit rhyth­misch krei­sen­den, wel­len­för­mi­gen Grif­fen und voll­kom­men ohne Druck über die Haut und Mus­ku­la­tur des Pati­en­ten kne­ten, wal­ken und strei­chen. In anthro­po­so­phi­scher Dik­ti­on wird dadurch das Gewe­be gewei­tet und der Flüs­sig­keits­haus­halt the­ra­peu­tisch ange­regt und der Äther­leib, der Trä­ger der Lebens­funk­tio­nen, posi­tiv beein­flusst. Unter­stüt­zend ver­wen­det der anthro­po­so­phi­sche The­ra­peut dazu pflanz­li­che Heil­öle. Mit sei­nem Wis­sen und sei­ner Erfah­rung sucht er ein heil­sa­mes und kein den Pro­zess hin­dern­des Öl aus. “Über die Haut kann vie­les bewirkt wer­den”, sagt Schop­per. “Mit der rhyth­mi­schen Mas­sa­ge und dem Ein­satz eines indi­vi­du­el­len, dem Pati­en­ten in sei­ner Situa­ti­on ange­mes­se­nen Heil­öls kann eine mas­si­ve Beru­hi­gung statt­fin­den, so dass in man­chen Fäl­len sogar ganz auf Schmerz­mit­tel ver­zich­tet wer­den kann.” Auch die man­geln­de Beweg­lich­keit eines Rheu­ma­pa­ti­en­ten muss Berück­sich­ti­gung fin­den. Das tönt bei Schop­per dann so: “Die inne­re Beweg­lich­keit die­ser Pati­en­ten ist gross, die äus­se­re gering. Das ent­ste­hen­de Span­nungs­feld soll­te aus­ge­gli­chen wer­den.” Er hat dabei mit der Cra­ni­o­sa­kral­the­ra­pie gute Erfah­run­gen gemacht. Denk­bar sei aber auch die anthro­po­so­phi­sche Heil­eu­ryth­mie, um eine Reak­ti­vie­rung der Gelen­ke zu errei­chen. Nach Auf­fas­sung der Anthro­po­so­phie ist Bewe­gung das leben­di­ge Ver­hält­nis des Men­schen zum Raum und damit eine zen­tra­le Grund­la­ge des Lebens. Ist die­ses Ver­hält­nis gestört, ent­steht Krank­heit. Die Heil­eu­rhyth­mie soll den Men­schen mit spe­zi­ell ent­wi­ckel­ten Bewe­gungs­ab­läu­fen wie­der in sei­nen Bewe­gungs­raum inte­grie­ren und zur Hei­lung bei­tra­gen. Die anthro­po­so­phi­sche Medi­zin setzt die­se Bewe­gungs­the­ra­pie bei aku­ten, chro­ni­schen oder dege­ne­ra­ti­ven Erkran­kun­gen des Bewe­gungs­ap­pa­rats, des Ner­ven- oder Herz-Kreis­lauf-Sys­tems oder Stoff­wech­sel­stö­run­gen ein. Beson­de­re Bedeu­tung hat die Heil­eu­ryth­mie bei der unter­stüt­zen­den Behand­lung kind­li­cher Ent­wick­lungs­stö­run­gen und wird häu­fig an Stein­erschu­len angeboten.

Anthroposophie

Die anthro­po­so­phi­sche Welt­an­schau­ung wur­de Anfang des 20. Jahr­hun­derts von Rudolf Stei­ner auf der Grund­la­ge unter ande­rem der Theo­so­phie ent­wor­fen. Der Phi­lo­soph und Päd­ago­ge ver­stand sei­ne ganz­heit­lich gepräg­te Leh­re als Gegen­ent­wurf zu ein­sei­tig über­bor­den­den natur­­wis­­sen­­schaf­t­­lich-mate­­ria­­lis­­ti­­schen Vor­stel­lun­gen der Welt. Stei­ner bedien­te sich dabei aus­ge­wähl­ter Ele­men­te ver­schie­dens­ter Kul­tu­ren oder Phi­lo­so­phien, um die Anthro­po­so­phie aus­zu­for­men. Dabei ent­stand, wie er es for­mu­lier­te, “ein Erkennt­nis­weg, der das Geis­ti­ge im Men­schen­we­sen zum Geis­ti­gen im Welt­all füh­ren möch­te”. Stei­ner beschäf­tig­ten Fra­gen nach dem Schick­sal der Men­schen, ihrer Ethik oder dem Leben vor und nach dem Tode. Bedeut­sam sind in der Anthro­po­so­phie auch indisch-phi­­lo­­so­­phi­­sche Ele­men­te wie Kar­ma und Reinkar­na­ti­on. Ver­schie­de­ne phi­lo­so­phi­sche Dif­fe­ren­zie­run­gen erschwe­ren oft­mals das Ver­ständ­nis des Stein­erschen Kon­zep­tes. Zum einen nimmt die Drei­glie­de­rung des Men­schen in Kör­per, See­le und Geist Bezug auf klas­si­sche Vor­stel­lun­gen (christ­li­che Anschau­ung der Tri­ni­tät). Zum ande­ren bezieht sich die Vor­stel­lung von vier Wesens­glie­dern der Men­schen auf von Para­cel­sus for­mu­lier­te Beschrei­bun­gen in Kom­bi­na­ti­on mit christ­li­cher Ent­wick­lungs­phi­lo­so­phie (Neu­pla­to­nis­mus). Para­cel­sus wie Stei­ner beschrei­ben dabei den phy­si­schen Kör­per (mate­ri­ell, sicht­bar), den Äther­leib (Trä­ger der Lebens­funk­tio­nen und Lebens­kräf­te), den Ast­ral­leib (Trä­ger eher see­li­scher Funk­tio­nen) sowie das Ich (zen­tra­ler Wesens­kern, Trä­ger geis­ti­ger Grund­funk­tio­nen). Erläu­te­run­gen zum Ver­ständ­nis die­ser Begrif­fe und sei­ner gesam­ten Alter­na­tiv­kos­mo­lo­gie und “Wis­sen­schaft” leg­te Stei­ner in einem umfang­rei­chen Werk nie­der – des­sen Stu­di­um und “rich­ti­ges” Ver­ständ­nis Anthro­po­so­phen ohne wei­te­res ein Leben lang beschäf­tigt. Nach dem Ers­ten Welt­krieg begann Rudolf Stei­ner sich auch kon­kre­ter mit medi­zi­ni­schen Fra­gen aus­ein­an­der­zu­set­zen. In enger Zusam­men­ar­beit mit der hol­län­di­schen Ärz­tin Ita Weg­man und ande­ren Medi­zi­nern ent­stan­den in der Fol­ge die ers­ten Grund­zü­ge einer auf dem Stein­erschen Men­­schen- und Welt­bild basie­ren­den anthro­po­so­phi­schen Heilkunde.

Lebenslanges Lernen

Hecken­ro­se

Als größ­ten Man­gel der west­li­chen Schul­me­di­zin betrach­tet Schop­per, dass sie die Exis­tenz eines Äther­leibs voll­kom­men miss­ach­te. In den tra­di­tio­nel­len chi­ne­si­schen wie indi­schen Medi­zin­sys­te­men wer­de den Pati­en­ten auch über fein­stoff­li­che Heil­be­hand­lun­gen gehol­fen. “Ener­gie­haus­halt, Abläu­fe im Immun­sys­tem, Pro­zes­se von Wachs­tum und Hei­lung, die im Äther­leib behei­ma­tet sind, müs­sen eben­so behan­delt und beach­tet wer­den wie See­le, Gefüh­le und Erle­ben”, ist der Arzt über­zeugt. Um die tief­grün­di­gen Kräf­te eines Men­schen mit anzu­spre­chen, ver­ord­nen anthro­po­so­phi­sche Ärz­te daher auch Kunst­the­ra­pien. Ein gros­ses Plus der anthro­po­so­phi­schen Medi­zin sieht Schop­per zudem in den Kos­ten. “Rheu­ma, mul­ti­ple Skle­ro­se, Herz-Kreis­lauf-Erkran­kun­gen, Dia­be­tes – wir haben es mit so vie­len chro­ni­schen Erkran­kun­gen zu tun, die zukünf­tig nicht mehr bezahl­bar sein wer­den”, sagt er und ver­weist dar­auf, dass die Heil­mit­tel­kos­ten, die durch anthro­po­so­phi­sche Behand­lun­gen ent­ste­hen, um ein Viel­fa­ches gerin­ger sei­en. Schop­per hofft, ange­hen­de Medi­zi­ner mit sei­nen Semi­na­ren an der Uni­ver­si­tät schon wäh­rend ihres Stu­di­ums für die anthro­po­so­phi­sche Medi­zin begeis­tern zu kön­nen. Vor­aus­set­zung sei aller­dings, dass sie auf­ge­schlos­sen und neu­gie­rig sei­en – dann begin­ne ein lebens­lan­ges Ler­nen. Doch es loh­ne sich die­sen unge­wöhn­li­chen Weg zu beschrei­ten, ist Schop­per über­zeugt: “Die west­li­che Schul­me­di­zin mit ihrem ein­sei­ti­gen Men­schen­bild ist mei­ner Mei­nung nach längst in eine Sack­gas­se geraten.”

Ausbildung

Wer die anthro­po­so­phi­sche Medi­zin anwen­den will, braucht in jedem Fall ein Medi­zin­stu­di­um an einer Uni­ver­si­tät. Ärz­te kön­nen in die anthro­po­so­phi­sche Medi­zin zum einen durch Lear­ning by doing und ent­spre­chen­den Wochen­end­kur­sen ein­stei­gen. Eben­so sind berufs­be­glei­ten­de Wei­ter­bil­dun­gen in Kli­ni­ken oder bei anthro­po­so­phi­schen prak­ti­zie­ren­den Ärz­ten in Zeit­räu­men von einem Jahr bis fünf Jah­ren denk­bar. Danach erfolgt meis­tens ein eige­ner Weg, je nach Inter­es­sens­la­ge und Arbeits­schwer­punk­ten. Zum ande­ren kön­nen inter­es­sier­te Ärz­te gleich in anthro­po­so­phi­schen Kli­ni­ken ler­nen und arbeiten.

Wei­te­re Informationen:

www.anthroposophie.ch und www.goetheanum.org

Autorin
• Mari­on Kaden, natür­lich leben (2010).
wei­te­re Infos
Rhyth­mi­sche Massagen
Kom­ple­men­tä­re Tumor­t­he­ra­pie mit Mistelextrakten

Bitte Ihre Frage, Anmerkung, Kommentar im folgenden Feld eingeben