Was hat Artenvielfalt (Biodiversität) mit Friedhöfen zu tun? Sehr viel, meinen Experten. Denn auf Friedhöfen entstehen manchmal kleine Refugien, wo sich noch Artenreichtum entwickeln kann. Ganz im Gegensatz zur intensiv bewirtschafteten Kulturlandschaft Deutschlands: Dort hat eine artenreiche Flora und Fauna wegen des hohen Einsatzes von Düngern und Pestiziden kaum Überlebenschancen. Sie vernichten die Lebensgrundlagen der meisten Pflanzen- und Tierarten. Eine Exkursion auf dem alten Parkfriedhof Marzahn im Nord-Osten Berlins verdeutlicht, welche Biodiversität möglich ist.
Buschwindröschen (Anemone nemorosa)
Die Exkursion wird vom Botanischen Verein von Berlin und Brandenburg veranstaltet. Entsprechend der Jahreszeit Ende April lautet das Motto dieses Spaziergangs: Frühjahrsblüher und andere bemerkenswerte Pflanzenarten. Am Haupteingang des Parkfriedhofs Marzahn findet sich bei fast sommerlichen Temperaturen eine große Gruppe interessierter Menschen zusammen. Viele sind mit Notizblöcken und/oder Fotoapparaten aller bestens ausgestattet. Sie erwarten Bernd Machatzi, den Leiter dieses Rundgangs. Bald trifft Machatzi ein und begrüßt sämtliche Gruppenmitglieder wohlgelaunt per Handschlag. Es stellt sich heraus, dass der Biologe ist nicht nur für den Verein arbeitet, sondern auch als Mitarbeiter des Landesbeauftragten für Naturschutz und Landschaftspflege im Hause der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berlins tätig ist. Seine botanische Rund-um-die-Uhr-Beschäftigung macht dem Experten offensichtlich Spaß. Er verliert keine Zeit, sondern führt die Gruppe nach den einleitenden Worten in den Parkfriedhof hinein.
Der Friedhof liegt im Bezirk Hellersdorf/ Marzahn. Er wurde 1909 als Armenfriedhof angelegt. Doch seine Bestimmung wandelte sich im Laufe seines Bestehens. Ein Spaziergang über das 24 Hektar große Gelände wird zu einem Gang durch die Deutsche Geschichte: Auf dem Friedhof gibt es Soldatenfriedhöfe aus dem 1. und 2. Weltkrieg‚ ‚4600 Einzelgrabstellen von Opfern von Gewaltherrschaften. Verschiedene Denkmäler wurden zu Ehren der Opfer der Kriege, der Zwangsarbeit, des Faschismus oder des Spartakusaufstandes errichtet.
Sportliche Pflanzenbestimmung
Viele Pflanzen sind nur knieend zu sehen
Gleich in der Nähe befindet sich ein altes Rasenstück zu dem Machatzi die Gruppe führt. Dort liegen in Reih’ und Glied’ Grabsteine von gefallenen Soldaten aus dem ersten Weltkrieg. “Dieser Rasen ist für Gärtner, die eine reine Rasenfläche bevorzugen, ein Alptraum, für Biologen hingegen ein Kleinod”, sagt er. “Denn bei floristischen Kartierung in Berlin haben wir festgestellt, dass auf einem Quadratmeter dieses Rasens etwa 15 bis 20 Pflanzenarten wachsen!” Gemeinsam mit dem Experten gehen die Pflanzeninteressierten in die Kniee, und versuchen die Pflanzenarten auszumachen. Der relativ seltene, mittlere Wegerich (Plantago media) ist mit seinen breiten, flauschigen Blättern leicht zu bestimmen. Doch wesentlich schwieriger wird es dann schon bei der Sand-Schaumkresse (Cardaminopsis arenosa). Nachdem die Gruppe die Namen notiert oder die Pflanzen fotografiert hat, geht es weiter.
Vielfalt bedingt Artenreichtum
Acker-Gelbstern (Gagea villosa)
Am Rande des Friedhofs, wo sich unter Buchen ein wunderhübscher Buschwindröschen-Teppich (Anemone nemorosa) entwickeln konnte, bleibt der Biologe stehen. “Diese Frühblüher wachsen eigentlich in Wäldern”, sagt Machatzi und verweist auf die Besonderheit des alten Parkfriedhofs. Denn auf dem etwa 24 Hektar großen Gelände konnten sich im Laufe von über hundert Jahren die vielfältigsten Pflanzen erhalten und ansiedeln. Der Landschaftsplaner benennt die wesentlichen Voraussetzungen: Durch das Alter des Geländes, seiner Ungestörtheit konnte sich Artenreichtum auf diesem Friedhof entwickeln. Weitere Faktoren sind unterschiedliche Gesteinsuntergründe, Erden oder Böden und ein spezielles, überwiegend waldartiges Mikroklima. Genauso bedeutsam ist die Größe des Geländes, sein alter Baumbestand und die vielen verschiedenen Materialien der Grabsteine und ‑Einfassungen oder Wegebaumaterialien. Nicht zuletzt ist die weniger intensive Nutzung von Teilflächen von Bedeutung, um der Artenvielfalt Chancen zu liefern. Unter den alten Buchen, wo sich die Gruppe gerade versammelt hat, entwickelte sich beispielsweise im Laufe von Jahrzehnten ein kleiner Wald. Auf dem humusreichen Waldboden gedeihen nun die Buschwindröschen besonders gut. Dort wächst auch der in Berlin gefährdete Goldschopf-Hahnenfuß (Ranunculus auricomus). “Wie schön! Hier hat sich der seltene Acker-Gelbstern (Gagea villosa) angesiedelt”, ruft Machatzi aus, “diese Pflanze steht auf der Roten Liste. Sie überdauert jedoch erfreulicherweise noch auf Friedhöfen”. Da er in der Nähe noch einen Wiesengelbstern (Gagea pratensis) entdeckt, werden die botanischen Unterschiede zwischen den beiden Pflanzen erklärt: Der Acker-Gelbstern (Gagea villosa) ist behaart und lässt seine vielen Blüten immer offen stehen. Der Wiesengelbstern hingegen ist unbehaart. Er schützt seine Blüten durch rechtzeitiges Schließen vor Regen oder Kälte in der Nacht.
Paradiesische Verhältnisse
Unwegsames Gelände wichtig für Flora und Fauna
Doch nicht nur auf den Boden richtet Machatzi seine Aufmerksamkeit. Im Buchenwäldchen zeigt er mit dem Finger in die Höhe. An einem kräftigen Buchenstamm ist ein großer, schwarzer Kasten mit einem Schlitz angebracht: “Das ist ein künstliches Winterquartier für Fledermäuse”, erklärt er. Weil die seltenen Tiere kaum noch Unterschlupf finden, wurde ihnen ein mit Dämmmaterial ausgekleideter Kasten beachtlichen Ausmaßes zur Überwinterung angeboten. “Der Artenreichtum dieses Friedhofs bezieht sich also nicht nur auf Pflanzen, sondern natürlich auch auf Vögel, Säugetiere und Insekten”, sagt Machatzi, “wegen des geschützten Raumes und wegen des strikten Hundeverbots haben viele Tiere eine gute Möglichkeit, ihren Nachwuchs durchzubringen”. Ein Zilpzalp meldet sich aus den Baumkronen in dem Moment lautstark zu Wort. Es scheint, als wolle er die Worte Machatzis eifrig unterstützen. Naturschützer haben 25–30 verschiedene Brutarten auf dem Friedhofsgelände gezählt, so berichtet der Biologe weiter. Der Weg verläuft dann an einem völlig unzugänglichen Areal entlang: Viele kleine Bäume sind dort gewachsen, dichte Büsche versperren die Sicht. Auch umgefallene Bäume sind zu sehen. Sie dürfen als Totholz liegen bleiben, werden von Pilzen und Kleinstlebewesen besiedelt und langsam zersetzt. Das Totholz schafft folglich Lebensraum und Nahrung für seltene Tier- und Pflanzenarten. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, ist dieses überwucherte, im Sinne von Gärtnern ‚ungepflegte’ Gelände ausgesprochen wichtig und Teil eines großen Kreislaufs.
Kooperative Friedhofsverwaltung
Bernd Machatzi
Die Gruppe geht zurück zum Hauptweg an frischen Gräbern vorbei. Dabei erklärt Machatzi, dass der größte Teil des Geländes von der Gemeinde Hellersdorf/ Marzahn als Friedhof genutzt wird. “Der Parkfriehof Marzahn zählt in Berlin zu den wenigen Friedhöfen mit Zuwachsraten bei den Beerdigungen”, so der Landschaftsplaner. “Aus diesem Grund müssen für die eigentliche Bestimmung des Geländes auch alte Abteilungen neu angelegt werden. Dabei kann Artenvielfalt beeinträchtigt und verringert werden. Da dies immer nur auf kleinen Teilflächen umgesetzt wird, ist der negative Einfluss solcher notwendigen Maßnahmen auf die gesamte Artenvielfalt des gesamten Friedhofgeländes jedoch relativ gering. “Die Friedhofsverwaltung pflegt bereits seit vielen Jahren größere Teilflächen extensiv als Wiesen oder lichte Waldbestände. Teilbereiche, die sich selbst überlassen wurden entwickeln sich waldartig. Erfreulicherweise sind Leitung und Mitarbeiter des Friedhofes auch am Erhalt der Artenvielfalt auf ihrem Gelände interessiert, so dass die neuen Erkenntnisse über besonders erhaltenswerte Pflanzenvorkommen bei der Pflege des Geländes berücksichtigt werden können”, so Machatzi. Dann führt der Spaziergang an riesigen Laub- und Abfallbergen alter Grabbepflanzungen vorbei. Im Vorübergehen bemerkt der Experte: “Zum Glück werden auf diesem Friedhof derartige Kompostierungen nicht als Dünger auf die Flächen ausgebracht, dann wäre es nämlich vorbei mit der Artenvielfalt”.
Seltene Orchideenarten
Großes Zweiblatt (Listera ovata)
In einem kleinen, lichtdurchfluteten Birkenwäldchen bleibt er dann wieder stehen. “Durch Kompostierung angereicherte Böden mögen Pflanzen wie dieses Nordische Labkraut (Galium boreale), die Kukucks-Lichtnelke (Silene flos-cuculi) oder das wunderhübsche Wiesen-Schaumkraut (Cardamine pratensis) nicht. Sie hätten keine Überlebenschance mehr”, sagt er und zeigt auf ein Pflänzchen: “Auch dieses Große Zweiblatt (Listera ovata), eine seltene Orchideenart, würde eingehen”. Um die Pflanze sehen zu können, müssen sich wieder alle hinknien. Nur aus der Nähe sind die drei bis vier Zentimeter hohen Blättchen und mittig der Ansatz der Blüte erkennbar. “Das Große Zweiblatt hat grünliche Blüten, ist eigentlich recht unscheinbar, aber dennoch sehr schön”, schwärmt Marchatzi. Zwei Frauen aus dem Stadtteil Marzahn zeichnen sich einen kleinen Plan auf. Sie wollen in zwei Wochen wiederkommen, um sich die Orchidee in voller Blüte anzusehen.
Mahnmal für Sowjetische Soldaten
Der Spaziergang endet auf einer größeren Wiese in der Nähe Ehrendenkmals für gefallene sowjetische Soldaten. Auch hier wird wieder vor den Pflanzen gekniet. Machatzi stellt die Dichtährige Segge (Carex spicata) vor, eine Sauergrasart, die häufig nur alte Rasenflächen besiedelt. Er zeigt der Gruppe die Wiesen-Margarite (Leucanthemum ircutianum), das kleine Habichtskraut (Hieracium pilosella) oder die ersten Heide-Nelken (Dianthus deltoides). Etwas weiter hat er außerdem Thymian (Thymus pulegioides) entdeckt. Die Blätter des Heilkrauts riechen beim Zerreiben zwischen den Fingern sehr appetitanregend und aromatisch. “Auf dem Gelände des Parkfriedhofs Marzahn kommen vermutlich über 300 verschiedene Pflanzenarten vor. Es würde sich lohnen, einmal eine vollständige Bestandsaufnahme durchzuführen, da bereits nach einer ersten Begehung zahlreiche außergewöhnliche und bemerkenswerte Pflanzenarten gefunden wurden”, so der Experte. “Vielleicht werden wir vom botanischen Verein aus eine zweite Begehung in diesem Jahr organisieren!” Machatzi beendet den Rundgang und und empfiehlt beim Abschied, sich auf dem Rückweg die eine oder andere neu hinzugelernte Pflanze nochmals in Ruhe anzuschauen.
Friedhöfe sind mehr als nur Begräbnisstätten oder Gedenkstätten von Toten. Sie sind zu erholsamen Räumen innerhalb belebter Städte geworden. Sie bieten Menschen Orte der Stille und des Rückzugs. In Berlin gibt es 228 Friedhöfe mit einer Gesamtfläche von 1.400 Hektar. Die Gebiete tragen unter anderem auch zur Verbesserung der Luftqualität bei. Denn der unversiegelte Boden kann das Regenwasser aufnehmen. Über Bäume, Sträucher und Pflanzen wird das Wasser aufgenommen und teilweise als Feuchtigkeit wieder in die Luft abgegeben. Die Bäume und Sträucher vermögen auch Kohlendioxyd und Staub zu binden. Friedhöfen sind zudem Refugien für wildwachsende oder verwilderte Pflanzenarten. Botaniker fanden heraus, dass in Berlin etwa 10 Prozent der Pflanzen zu gefährdeten Arten der Roten Liste gehören. Die Hecken, Büsche, alte Baumbestände von Friedhöfen bieten nicht zuletzt seltenen und gefährdeten Vögeln Lebensraum und Schutz. In den dichten, alten Hecken finden sogar Waldvögel und Bodenbrüter in den Städten gute Bedingungen für ihre Brut. Längst stehen Friedhöfe im Fokus von Naturschützern, die erkannten, wie wichtig der Erhalt dieser Lebensräume für die Artenvielfalt sind. Bereits seit vielen Jahren gibt es in Berlin zahlreiche Aktivitäten der Naturschutzverbände und es Landesbeauftragten für Naturschutz.
Autorin
• Marion Kaden, Heilpflanzen-Welt (2011).
weitere Infos
• https://www.botanischer-verein-brandenburg.de
• https://www.stadtentwicklung.berlin.de/natur_gruen/lb_naturschutz/download/publikationen/lebensraum_friedhof.pdf