2010/​2: Trockenwiesen-Schätze: Augentrost und Silbergras

Augen­trost (Euphra­sia)

Das Gelän­de eines alten Was­ser­werks am Ran­de Ber­lins ist ein Refu­gi­um beson­de­rer Art: Sei­ne Mager- und Tro­cken­wie­sen bie­ten sel­te­nen (Heil-)Pflanzen einen Lebens­raum, der sonst kaum noch in Deutsch­land zu fin­den ist.

Dr. Jochen Half­mann

Am Ber­li­ner Müg­gel­see im Stadt­teil Fried­richs­ha­gen steht das ‚Alte Was­ser­werk’. Das Gelän­de zieht sich nörd­lich ent­lang des Sees und birgt archi­tek­to­ni­sche wie bota­ni­sche Schät­ze. Nur ein­mal im Jahr ist der Lebens­raum der Öffent­lich­keit zugäng­lich. Beim “Lan­ger­Tag der StadtNatur”[1] wer­den die Tore geöff­net. Dr. Jochen Half­mann, Bio­lo­ge, lei­tet eine 20 köp­fi­ge Grup­pe bota­nisch Inter­es­sier­ter auf das streng bewach­te Gelän­de. “Wir haben die Gele­gen­heit, die wert­volls­ten Tro­cken­ra­sen sehen zu kön­nen, die wir in Ber­lin über­haupt noch haben”, beginnt Half­mann. Er erläu­tert die Beson­der­heit der geo­gra­fi­schen Bege­ben­hei­ten anhand einer topo­gra­fi­schen Kar­te, die er hoch­hält: Zu sehen ist, wie der Müg­gel­see nörd­lich von Hoch­flä­chen umrahmt ist. Dann geht es hin­ab zu den Spree­nie­de­run­gen, die sich bis zu den Ufern des Müg­gel­sees zie­hen. Die­se Nie­de­run­gen waren frü­her über­wie­gend ver­moort. Sie wur­den im 19. Jahr­hun­dert durch mas­si­ve Land­schafts­um­ge­stal­tun­gen tro­cken gelegt. Das nahe gele­ge­ne, ste­tig expan­die­ren­de Ber­lin brauch­te gro­ße Men­gen Trink­was­ser. Ein Was­ser­werk wur­de im neo­go­ti­schen Stil errich­tet und mit den dama­li­gen tech­ni­schen Neue­run­gen aus­ge­stat­tet. Gro­ße Tei­le des Gelän­des, die als rie­si­ge Auf­fang­be­cken zum Rei­ni­gen des Roh­was­sers dien­ten, waren wäh­rend der Bau­zeit völ­lig vege­ta­ti­ons­frei. Für die Grün­flä­chen auf den aus­ge­dehn­ten Dach­stand­or­ten jedoch wur­de Saat­gut aus dem umge­ben­den Natur­raum her­bei­ge­schafft und ange­sie­delt. “Wir haben das Glück, das bis heu­te noch Arten aus frü­he­ren Zei­ten erhal­ten geblie­ben sind”, erklärt Half­mann. Des­halb ist das Gelän­de auch von hohem, wis­sen­schaft­li­chem Inter­es­se. “Sol­che Sand­tro­cken­ra­sen sind wegen inten­siv betrie­be­ner Land­wirt­schaft in Deutsch­land fast völ­lig ver­lo­ren gegan­gen”, so der Bota­ni­ker wei­ter. Ein Grund liegt in ihrer Erhal­tung, der nicht ohne arbeits­in­ten­si­ve Pfle­ge­ein­sät­ze mög­lich ist. “Wird nicht regel­mä­ßig gemäht, wächst an sol­chen Stand­or­ten sofort Wald auf”, erklärt Half­mann, “so wie auf die­sem Gelän­de”. Er zeigt um sich her­um auf ver­schie­de­ne Pio­nier­pflan­zen: Ein klei­nes Wäld­chen ist schon gewach­sen mit Bir­ken, Ahorn oder Sträu­chern wie den Schneebeeren.

Kultur- Kontra Wildpflanzen

Glatt­ha­fer (Arrhen­ather­um ela­ti­us)

Ein zwei­ter Grund für die gerin­ge Aus­brei­tung von Sand­tro­cken­ra­sen ist die inten­si­ve land­wirt­schaft­li­che Nut­zung von Flä­chen in Deutsch­land. Selbst für Wie­sen mit dem Glatt­ha­fer (Arrhen­ather­um ela­ti­us), der frü­her zur klas­si­schen Mäh­wie­se gehör­te, ist heu­te oft kein Platz mehr. Der Wis­sen­schaft­ler pflückt einen Halm ab und lässt in der Grup­pe her­um­ge­hen. “Das Fut­ter der klas­si­schen Mäh­wie­sen ist den moder­nen Hoch­leis­tungs­kü­hen viel zu hart”, erklärt Half­mann. Um die Kühe mit ent­spre­chen­dem Fut­ter zu ver­sor­gen, müs­sen ande­re, wei­che Gras­sor­ten ange­baut wer­den. Sie wach­sen so schnell, dass Bau­ern fünf bis sie­ben Mal im Jahr mähen kön­nen. Um die­se Art der inten­si­ven Nut­zung auf­recht erhal­ten zu kön­nen, wird inten­siv gedüngt. Frucht­wech­sel oder brach­lie­gen­des Land gehö­ren vie­ler­orts nicht in das Kon­zept. Die­se stark stick­stoff­an­ge­rei­cher­ten Böden las­sen nur noch Kul­tur­pflan­zen wach­sen, wild­wach­se­ne Pflan­zen haben kei­ne Über­le­bens­chan­ce mehr. Des­halb gibt es in den meis­ten länd­li­chen Regio­nen Deutsch­lands kei­ne bun­ten Wie­sen mehr zu bewun­dern, son­dern nur noch ein­tö­ni­ge Grünflächen.

Überlebenskünstler Löwenzahn

Die­se sind nur noch unter­bro­chen durch das gold­gelb des blü­hen­den Löwen­zahns (Tar­a­xa­cum). Die­ser Heil­pflan­ze machen die che­mi­schen Keu­len nichts aus. Im Gegen­teil: Der Löwen­zahn mit sei­nen 120 Arten hat eine effek­ti­ve Über­le­bens­stra­te­gie ent­wi­ckelt: Half­mamm hält eine Pflan­ze mit lan­ger Pfahl­wur­zel in die Höhe, “die Tar­a­xa­cum­ar­ten kom­men durch ihre Nuss­früch­te (bekann­ter als Pus­te­blu­men) und der Ver­brei­tung über den Wind prak­tisch über­all hin”, so der Bio­lo­ge. Mas­sen­haft auf­tre­ten­der Löwen­zahn gilt als Anzei­ger für stick­stoff­hal­ti­ge, über­düng­te Böden. Ein paar Schrit­te wei­ter steht die Grup­pe dann vor einem rie­si­gen, mit gro­ßen Stein­plat­ten aus­ge­leg­tem Becken. Der Becken­rand ist unge­fähr einen hal­ben Meter hoch. Die Flä­che selbst bedeckt unge­fähr ein hal­bes Fuß­ball­feld. “Frü­her wur­de in die­sem Becken der Fil­ter­sand aus dem Was­ser­werk gela­gert und zur Wie­der­ver­wen­dung auf­be­rei­tet”, erklärt Half­mann. Zur Trink­was­ser­auf­be­rei­tung des 19. Jahr­hun­derts wur­de Was­ser aus dem Müg­gel­see gepumpt und anschlie­ßend über gro­ße Sand­flä­chen gelei­tet. Die­se fil­ter­ten und rei­nig­ten das Was­ser. Um sei­ne Funk­ti­on erhal­ten zu kön­nen, muss­te der Fil­ter­sand ab und zu selbst gerei­nigt wer­den, was in die­sen ange­leg­ten Becken geschah.

Vielgestaltigkeit trotz Nährstoffarmut

Sand­stroh­blu­me (Helich­ry­sum arenarium)

Mit der Ein­füh­rung neu­er Tech­nik sind die Becken funk­ti­ons­los gewor­den. Sie wur­den sich selbst über­las­sen. Die Natur erober­te sich die Flä­chen zurück: Beim zwei­ten Blick über das Becken zeigt sich in allen Spal­ten Grün in ver­schie­de­nen Farb­schat­tie­rung oder far­ben­fro­he Blü­ten. Pflan­zen sie­del­ten sich an, die einen äußerst nähr­stoff­ar­men Sand­bo­den zum Über­le­ben benö­ti­gen. Half­mann führt die Grup­pe ins Becken. “Dies ist die Hei­de­nel­ke (Dian­thus del­to­ides). Sie ist eine sel­te­ne attrak­ti­ve und des­halb geschütz­te Pflan­ze. Sie darf nicht gepflückt wer­den”, sagt Half­mann. Er zeigt auf die pur­pur­far­ben, zar­ten Blü­ten mit deut­lich erkenn­ba­ren Punk­ten. Sie sit­zen auf strauch­ar­tig wach­sen­den, hart aus­se­hen­den Stän­geln mit weni­gen Blät­tern. Ihre inten­si­ve Far­be leuch­tet weit­hin. Gleich dane­ben wach­sen Sand­stroh­blu­men (Helich­ry­sum are­na­ri­um). Ihre Blät­ter sind hell­grün und von zar­tem Flaum bedeckt. Vie­le Blü­ten sind noch zusam­men­ge­rollt, nur ein­zel­ne las­sen die hell­gelb far­bi­gen Blü­ten erken­nen. “Der zar­te Flaum ist ein Abwehr­me­cha­nis­mus gegen die Aus­trock­nung der Pflan­zen”, erläu­tert Half­mann. Auch das Sil­ber-Fin­ger­kraut (Poten­til­la argen­tea) mit ihrer stark silb­ri­gen Behaa­rung an den Blatt­un­ter­sei­ten greift auf die­sen Schutz­me­cha­nis­mus zurück.

Mauerpfeffer macht seinem Namen Ehre

Mau­er­pfef­fer (Sedum)

Das Sil­ber­gras (Cory­ne­pho­rus cane­s­cens) ist eben­falls ein Erst­be­sied­ler von Tro­cken­wie­sen (und auch von Dünen). Sei­ne Blät­ter sind wachs­ar­tig über­zo­gen und eine Art Stroh­man­tel schützt ihn wie­der­um vor Aus­trock­nung. Wei­te­re Pflan­zen sind Knor­pel­lat­tich (Chond­ril­la jun­cea), Grau­kres­se (Ber­te­roa inca­na) oder Zypres­sen­wolfs­milch-Arten (Euphor­bia cypa­ris­si­as). Auch der Mau­er­pfef­fer (Sedum) mit sei­nen dick­flei­schi­gen Blät­tern hat sich eini­ge Plät­ze gesi­chert. Er blüht gera­de mit leuch­tend son­nig-gel­ben Blü­ten. “Mau­er­pfef­fer hat einen schar­fen Geschmack”. Die Kost­pro­be ergibt tat­säch­lich eine pfeff­ri­ge Schär­fe, die recht lan­ge im Mund verbleibt.

Berliner Florenschutz

Zum Schluss bekommt die Grup­pe noch eine beson­de­re Pflan­ze zu sehen: Augen­trost (Euphra­sia). Sie ist unschein­bar, höchs­tens 15 Zen­ti­me­ter hoch, ein­stie­lig und hat klei­ne Blät­ter. Ihre attrak­ti­ven Blü­ten sind lei­der noch nicht zu sehen. “Eigent­lich wäre nun ihre Blü­te­zeit, doch wegen des kal­ten Mai sind die Blü­ten noch nicht aus­ge­bil­det”, erzählt Half­mann. Augen­trost ist in Deutsch­land sehr sel­ten gewor­den, weil die Pflan­ze nur noch wenig Lebens­räu­me hat. “Auf die­sen Tro­cken­wie­sen haben wir im letz­ten Jahr noch rund 2000 Pflan­zen gezählt”, so der Bota­ni­ker. Die Tro­cken­wie­sen gehö­ren zum Pro­jekt des ‚Ber­li­ner Flo­ren­schut­zes’. “Mitt­ler­wei­le gibt es in Deutsch­land von man­chen Pflan­zen­ar­ten nur noch sehr weni­ge Pflan­zen. Das Pro­blem: Wür­den sie bei uns aus­ster­ben, gäbe es oft auch welt­weit kei­ne mehr. Des­halb haben wir eine gro­ße Ver­ant­wor­tung und müs­sen die letz­ten Arten vor dem Aus­ster­ben zu schüt­zen.”, so Half­mann. Inner­halb des Ber­li­ner Flo­ren­schut­zes wer­den Stand­or­te wie die­se Tro­cken­wie­sen erhal­ten, um unter ande­rem dem äußerst emp­find­li­chen Augen­trost sei­nen Lebens­raum zu bewah­ren. Die Pflan­ze braucht nähr­stoff­ar­men Sand­bo­den mit nied­ri­gem Bewuchs und auch beson­de­ren Schutz vor kon­kur­renz­star­ken Arten: Denn wür­den sich Pio­nier­pflan­zen wie Bir­ke, Ahorn oder sogar nur Glatt­ha­fer breit­ma­chen, hat Augen­trost nicht mehr genü­gend Licht zum Überleben.

Ebenfalls bedroht: Fledermäuse

Funk­ti­ons­häus­chen

Für den Bio­lo­gen gäbe es noch zahl­rei­che ande­re Pflan­zen vor­zu­stel­len. Zu sei­nem Ver­gnü­gen ist das Inter­es­se groß, denn vie­le Fra­gen wer­den ihm gestellt. Doch die Zeit ist um. Die nächs­te Grup­pe drängt unter den Argus­au­gen des Betriebs­per­so­nals auf die Flä­che. Sie wol­len Fle­der­mäu­se besu­chen. Die scheu­en Tie­re haben in den lee­ren Funk­ti­ons­häu­sern des Was­ser­werks eine men­schen­fer­ne Blei­be gefun­den. Auch sie den genie­ßen den Schutz die­ses beson­de­ren Geländes.

[1] Die Stif­tung Natur­schutz Ber­lin ver­an­stal­tet seit 2006 im Juni ein “Natur-Wochen­en­­de”. Bür­ger­initia­ti­ven, Ver­ei­ne, Stadt­grup­pie­run­gen oder auch Pri­vat­leu­te rich­ten ein bun­tes Pro­gramm rund um die Natur inner­halb der Stadt aus. Der Ver­an­stal­ter die­ser Füh­rung ist der Bota­ni­sche Ver­ein von Ber­lin und Bran­den­burg. Wei­te­re Infos:

www.botanischer-verein-brandenburg.de

www.langertagderstadtnatur.de

Autorin
• Mari­on Kaden, Heil­pflan­­zen-Welt (2010).

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