Augentrost (Euphrasia)
Das Gelände eines alten Wasserwerks am Rande Berlins ist ein Refugium besonderer Art: Seine Mager- und Trockenwiesen bieten seltenen (Heil-)Pflanzen einen Lebensraum, der sonst kaum noch in Deutschland zu finden ist.
Dr. Jochen Halfmann
Am Berliner Müggelsee im Stadtteil Friedrichshagen steht das ‚Alte Wasserwerk’. Das Gelände zieht sich nördlich entlang des Sees und birgt architektonische wie botanische Schätze. Nur einmal im Jahr ist der Lebensraum der Öffentlichkeit zugänglich. Beim “LangerTag der StadtNatur”[1] werden die Tore geöffnet. Dr. Jochen Halfmann, Biologe, leitet eine 20 köpfige Gruppe botanisch Interessierter auf das streng bewachte Gelände. “Wir haben die Gelegenheit, die wertvollsten Trockenrasen sehen zu können, die wir in Berlin überhaupt noch haben”, beginnt Halfmann. Er erläutert die Besonderheit der geografischen Begebenheiten anhand einer topografischen Karte, die er hochhält: Zu sehen ist, wie der Müggelsee nördlich von Hochflächen umrahmt ist. Dann geht es hinab zu den Spreeniederungen, die sich bis zu den Ufern des Müggelsees ziehen. Diese Niederungen waren früher überwiegend vermoort. Sie wurden im 19. Jahrhundert durch massive Landschaftsumgestaltungen trocken gelegt. Das nahe gelegene, stetig expandierende Berlin brauchte große Mengen Trinkwasser. Ein Wasserwerk wurde im neogotischen Stil errichtet und mit den damaligen technischen Neuerungen ausgestattet. Große Teile des Geländes, die als riesige Auffangbecken zum Reinigen des Rohwassers dienten, waren während der Bauzeit völlig vegetationsfrei. Für die Grünflächen auf den ausgedehnten Dachstandorten jedoch wurde Saatgut aus dem umgebenden Naturraum herbeigeschafft und angesiedelt. “Wir haben das Glück, das bis heute noch Arten aus früheren Zeiten erhalten geblieben sind”, erklärt Halfmann. Deshalb ist das Gelände auch von hohem, wissenschaftlichem Interesse. “Solche Sandtrockenrasen sind wegen intensiv betriebener Landwirtschaft in Deutschland fast völlig verloren gegangen”, so der Botaniker weiter. Ein Grund liegt in ihrer Erhaltung, der nicht ohne arbeitsintensive Pflegeeinsätze möglich ist. “Wird nicht regelmäßig gemäht, wächst an solchen Standorten sofort Wald auf”, erklärt Halfmann, “so wie auf diesem Gelände”. Er zeigt um sich herum auf verschiedene Pionierpflanzen: Ein kleines Wäldchen ist schon gewachsen mit Birken, Ahorn oder Sträuchern wie den Schneebeeren.
Kultur- Kontra Wildpflanzen
Glatthafer (Arrhenatherum elatius)
Ein zweiter Grund für die geringe Ausbreitung von Sandtrockenrasen ist die intensive landwirtschaftliche Nutzung von Flächen in Deutschland. Selbst für Wiesen mit dem Glatthafer (Arrhenatherum elatius), der früher zur klassischen Mähwiese gehörte, ist heute oft kein Platz mehr. Der Wissenschaftler pflückt einen Halm ab und lässt in der Gruppe herumgehen. “Das Futter der klassischen Mähwiesen ist den modernen Hochleistungskühen viel zu hart”, erklärt Halfmann. Um die Kühe mit entsprechendem Futter zu versorgen, müssen andere, weiche Grassorten angebaut werden. Sie wachsen so schnell, dass Bauern fünf bis sieben Mal im Jahr mähen können. Um diese Art der intensiven Nutzung aufrecht erhalten zu können, wird intensiv gedüngt. Fruchtwechsel oder brachliegendes Land gehören vielerorts nicht in das Konzept. Diese stark stickstoffangereicherten Böden lassen nur noch Kulturpflanzen wachsen, wildwachsene Pflanzen haben keine Überlebenschance mehr. Deshalb gibt es in den meisten ländlichen Regionen Deutschlands keine bunten Wiesen mehr zu bewundern, sondern nur noch eintönige Grünflächen.
Überlebenskünstler Löwenzahn
Diese sind nur noch unterbrochen durch das goldgelb des blühenden Löwenzahns (Taraxacum). Dieser Heilpflanze machen die chemischen Keulen nichts aus. Im Gegenteil: Der Löwenzahn mit seinen 120 Arten hat eine effektive Überlebensstrategie entwickelt: Halfmamm hält eine Pflanze mit langer Pfahlwurzel in die Höhe, “die Taraxacumarten kommen durch ihre Nussfrüchte (bekannter als Pusteblumen) und der Verbreitung über den Wind praktisch überall hin”, so der Biologe. Massenhaft auftretender Löwenzahn gilt als Anzeiger für stickstoffhaltige, überdüngte Böden. Ein paar Schritte weiter steht die Gruppe dann vor einem riesigen, mit großen Steinplatten ausgelegtem Becken. Der Beckenrand ist ungefähr einen halben Meter hoch. Die Fläche selbst bedeckt ungefähr ein halbes Fußballfeld. “Früher wurde in diesem Becken der Filtersand aus dem Wasserwerk gelagert und zur Wiederverwendung aufbereitet”, erklärt Halfmann. Zur Trinkwasseraufbereitung des 19. Jahrhunderts wurde Wasser aus dem Müggelsee gepumpt und anschließend über große Sandflächen geleitet. Diese filterten und reinigten das Wasser. Um seine Funktion erhalten zu können, musste der Filtersand ab und zu selbst gereinigt werden, was in diesen angelegten Becken geschah.
Vielgestaltigkeit trotz Nährstoffarmut
Sandstrohblume (Helichrysum arenarium)
Mit der Einführung neuer Technik sind die Becken funktionslos geworden. Sie wurden sich selbst überlassen. Die Natur eroberte sich die Flächen zurück: Beim zweiten Blick über das Becken zeigt sich in allen Spalten Grün in verschiedenen Farbschattierung oder farbenfrohe Blüten. Pflanzen siedelten sich an, die einen äußerst nährstoffarmen Sandboden zum Überleben benötigen. Halfmann führt die Gruppe ins Becken. “Dies ist die Heidenelke (Dianthus deltoides). Sie ist eine seltene attraktive und deshalb geschützte Pflanze. Sie darf nicht gepflückt werden”, sagt Halfmann. Er zeigt auf die purpurfarben, zarten Blüten mit deutlich erkennbaren Punkten. Sie sitzen auf strauchartig wachsenden, hart aussehenden Stängeln mit wenigen Blättern. Ihre intensive Farbe leuchtet weithin. Gleich daneben wachsen Sandstrohblumen (Helichrysum arenarium). Ihre Blätter sind hellgrün und von zartem Flaum bedeckt. Viele Blüten sind noch zusammengerollt, nur einzelne lassen die hellgelb farbigen Blüten erkennen. “Der zarte Flaum ist ein Abwehrmechanismus gegen die Austrocknung der Pflanzen”, erläutert Halfmann. Auch das Silber-Fingerkraut (Potentilla argentea) mit ihrer stark silbrigen Behaarung an den Blattunterseiten greift auf diesen Schutzmechanismus zurück.
Mauerpfeffer macht seinem Namen Ehre
Mauerpfeffer (Sedum)
Das Silbergras (Corynephorus canescens) ist ebenfalls ein Erstbesiedler von Trockenwiesen (und auch von Dünen). Seine Blätter sind wachsartig überzogen und eine Art Strohmantel schützt ihn wiederum vor Austrocknung. Weitere Pflanzen sind Knorpellattich (Chondrilla juncea), Graukresse (Berteroa incana) oder Zypressenwolfsmilch-Arten (Euphorbia cyparissias). Auch der Mauerpfeffer (Sedum) mit seinen dickfleischigen Blättern hat sich einige Plätze gesichert. Er blüht gerade mit leuchtend sonnig-gelben Blüten. “Mauerpfeffer hat einen scharfen Geschmack”. Die Kostprobe ergibt tatsächlich eine pfeffrige Schärfe, die recht lange im Mund verbleibt.
Berliner Florenschutz
Zum Schluss bekommt die Gruppe noch eine besondere Pflanze zu sehen: Augentrost (Euphrasia). Sie ist unscheinbar, höchstens 15 Zentimeter hoch, einstielig und hat kleine Blätter. Ihre attraktiven Blüten sind leider noch nicht zu sehen. “Eigentlich wäre nun ihre Blütezeit, doch wegen des kalten Mai sind die Blüten noch nicht ausgebildet”, erzählt Halfmann. Augentrost ist in Deutschland sehr selten geworden, weil die Pflanze nur noch wenig Lebensräume hat. “Auf diesen Trockenwiesen haben wir im letzten Jahr noch rund 2000 Pflanzen gezählt”, so der Botaniker. Die Trockenwiesen gehören zum Projekt des ‚Berliner Florenschutzes’. “Mittlerweile gibt es in Deutschland von manchen Pflanzenarten nur noch sehr wenige Pflanzen. Das Problem: Würden sie bei uns aussterben, gäbe es oft auch weltweit keine mehr. Deshalb haben wir eine große Verantwortung und müssen die letzten Arten vor dem Aussterben zu schützen.”, so Halfmann. Innerhalb des Berliner Florenschutzes werden Standorte wie diese Trockenwiesen erhalten, um unter anderem dem äußerst empfindlichen Augentrost seinen Lebensraum zu bewahren. Die Pflanze braucht nährstoffarmen Sandboden mit niedrigem Bewuchs und auch besonderen Schutz vor konkurrenzstarken Arten: Denn würden sich Pionierpflanzen wie Birke, Ahorn oder sogar nur Glatthafer breitmachen, hat Augentrost nicht mehr genügend Licht zum Überleben.
Ebenfalls bedroht: Fledermäuse
Funktionshäuschen
Für den Biologen gäbe es noch zahlreiche andere Pflanzen vorzustellen. Zu seinem Vergnügen ist das Interesse groß, denn viele Fragen werden ihm gestellt. Doch die Zeit ist um. Die nächste Gruppe drängt unter den Argusaugen des Betriebspersonals auf die Fläche. Sie wollen Fledermäuse besuchen. Die scheuen Tiere haben in den leeren Funktionshäusern des Wasserwerks eine menschenferne Bleibe gefunden. Auch sie den genießen den Schutz dieses besonderen Geländes.
[1] Die Stiftung Naturschutz Berlin veranstaltet seit 2006 im Juni ein “Natur-Wochenende”. Bürgerinitiativen, Vereine, Stadtgruppierungen oder auch Privatleute richten ein buntes Programm rund um die Natur innerhalb der Stadt aus. Der Veranstalter dieser Führung ist der Botanische Verein von Berlin und Brandenburg. Weitere Infos:
Autorin
• Marion Kaden, Heilpflanzen-Welt (2010).