Kreuzberger Heilpflanzenführung

Heil­pflan­zen in der Stadt sind oft unbe­ach­tet. Prak­tisch las­sen sie sich jedoch an sämt­li­chen Weg­rän­dern, Ufer­we­gen, Ver­kehrs­in­seln ent­de­cken. Denn in der Stadt haben Heil­pflan­zen noch Über­le­bens­chan­cen. Ganz im Gegen­satz zum “gesun­den” Land, wo der mas­sen­haf­te Ein­satz von Pes­ti­zi­den die Lebens­grund­la­ge der meis­ten wild wach­sen­der Pflan­zen zunich­te­macht. Was so alles an einem viel genutz­ten Ufer­weg wächst, zei­gen Lau­ra Cos­lar und Anwar Sid­di­que Inter­es­sier­ten wäh­rend eines Spa­zier­gangs im Rah­men des Ber­li­ner “LangenTagsderStadtnatur”[1].

Nah­erho­lung in Kreuzberg

Die bei­den Heil­prak­ti­ker haben sich für ihre Füh­rung das Paul-Lin­ke-Ufer in Kreuz­berg aus­ge­sucht. Die­ser Teil des Land­wehr­ka­nals wird wegen sei­nes Grüns nicht nur von den Bewoh­nern der umlie­gen­den, attrak­ti­ven Bür­ger­häu­ser genutzt. Tou­ris­ten oder die Bevöl­ke­rung angren­zen­der Stadt­tei­le sehen in den von Lin­den­bäu­men und Rasen­flä­chen umsäum­ten Ufer­we­gen eine gute Nah­erho­lungs­mög­lich­keit. Zu Beginn ihrer Füh­rung erzäh­len Cos­lar und Sid­di­que etwas über ihre Hin­ter­grün­de: Bei­de spe­zia­li­sier­ten sich wäh­rend ihrer Heil­prak­ti­ker-Aus­bil­dung auf die Pflan­zen­heil­kun­de (Phy­to­the­ra­pie). “Für mich war das ganz natür­lich, denn ich bin prak­tisch mit Heil­pflan­zen­tees auf­ge­wach­sen”, so Sid­di­que. Er führt dann noch aus, dass sei­ne Groß­mutter ihn damit ver­sorg­te. Cos­lar hin­ge­gen arbei­tet seit zehn Jah­ren als Kran­ken­schwes­ter. Doch mit zuneh­men­der Berufs­er­fah­rung stör­te sie sich an den rein all­o­pa­thisch aus­ge­rich­te­ten The­ra­pien. “Dabei bie­ten wirk­star­ke, tra­di­tio­nel­le Heil­pflan­zen häu­fig gute Alter­na­ti­ven”, erklärt Cos­lar. Sie arbei­tet mit einem beruf­li­chen Stand­bein noch als Kran­ken­schwes­ter. Doch wünscht sie sich, dass die gemein­sam mit Sid­di­que und einem Shi­atsu-The­ra­peu­ten ein­ge­rich­te­te Pra­xis, ihr bald eine Voll­zeit­ar­beit als Heil­prak­ti­ke­rin ermöglicht.

Schmerzlindernde Eichenrinde

Lau­ra Coslar

An der Brü­cke der Ohlau­er Stra­ße star­tet sie mit der Vor­stel­lung eines Eichen­bau­mes: “Die Rin­de des Bau­mes fin­det äußer­li­che Anwen­dung”, sagt sie. Die ent­hal­te­nen Gerb­stof­fe wir­ken zusam­men­zie­hend (adstrin­gie­rend). “Ich habe mich ein­mal am Ofen ver­brannt. Auf die schmer­zen­de Wun­de kam eine Eichen­rin­de-Tink­tur, die schnell und effek­tiv half. Kurz dar­auf­tat nichts mehr weh”, so Cos­lar. Dann erzählt sie noch, wie eine Tink­tur selbst her­ge­stellt wer­den kann: Von der jun­gen Rin­de eines Eichen­bau­mes muss etwa eine Hand­voll abge­schabt wer­den. Die­se kommt in eine dunk­le Fla­sche, dar­auf wird 96ig pro­zen­ti­ges Etha­nol gegos­sen. Die Fla­sche muss gut ver­schlos­sen wer­den und bleibt im Dunk­len (Schrank oder Kel­ler) vier Wochen ste­hen. Danach kann die Rin­de durch ein Sieb gege­ben und die fer­ti­ge Tink­tur zurück in die dunk­le Fla­sche gegos­sen wer­den. Wegen des Etha­no­los ist die Tink­tur unbe­grenzt halt­bar, wenn sie wei­ter­hin im Dunk­len gela­gert wird.

Brenn­nes­sel-Nüss­chen

Blut­auf­bau­en­de Brennnessel

Ein paar Schrit­te wei­ter steht eine Kolo­nie von Brenn­nes­sel-Pflan­zen, die schon aus­ge­bil­de­te Samen (Nüss­chen) hat. Die sonst sehr vital erschei­nen­de Pflan­ze sieht wegen der Hit­ze und des man­geln­den Regens ziem­lich ein­ge­staubt und trau­rig aus. “Brenn­nes­sel befin­det sich in fast jedem zwei­ten Tee”, erklärt Sid­di­que und fügt an, dass “die wich­ti­ge Heil­pflan­ze vie­le Mine­ra­li­en ent­hält. Wis­sen­schaft­ler fan­den her­aus, das Chlo­ro­phyll eine ähn­lich che­mi­sche Struk­tur wie die der Blut­bau­stei­ne des mensch­li­chen Blu­tes hat”. Des­halb wird die Brenn­nes­sel zum “Blut­auf­bau” ver­wen­det. “Für Früh­jahrs­ku­ren ist sie ein muss”, so der Heil­prak­ti­ker. Außer­dem ist ihm noch die Bemer­kung wich­tig, “dass die Pflan­ze die Nie­ren anregt. Und: Beim Pin­keln gehen die Mine­ra­li­en nicht ver­lo­ren!” Sid­di­que knipst ein paar Nüss­chen ab und gibt sie in die Run­de. “Die Samen sind sehr ener­gie­reich”, sagt er wei­ter. Sie kön­nen nach Erkran­kun­gen geges­sen wer­den und hel­fen damit, den Betrof­fe­nen wie­der schnel­ler auf die Beine.

Heil­pflan­zen-Inter­es­sier­te

Nur in unbe­las­te­ten Regio­nen sammeln

Der nächs­te Baum ist eine Lin­de. “Lin­den waren die Ver­samm­lungs­bäu­me bei den Ger­ma­nen”, so Cos­lar. “Die duf­ten­den Lin­den­blü­ten wer­den gesam­melt und getrock­net, um im Herbst und Win­ter einen wirk­sa­men Heil­tee zu haben”. Hei­ßer Lin­den­blü­ten­tee wirkt beru­hi­gend und schmerz­stil­lend bei Hus­ten. Außer­dem unter­stützt er bei fie­ber­haf­ten Erkäl­tun­gen durch sei­nen schweiß­trei­ben­den Effekt. Und nicht zuletzt sind, so stell­ten Wis­sen­schaf­ter kürz­lich fest, im Lin­den­blü­ten­tee noch immun för­dern­de Wirk­stof­fe. “Kön­nen wir eigent­lich Lin­den­blü­ten in der Stadt sam­meln und selbst trock­nen?”, will eine Besu­che­rin in Anbe­tracht des Lin­den­baum-umsäum­ten Land­wehr­ka­nals wis­sen. Davon rät Cos­lar jedoch drin­gend ab. “Mit­ten in Kreuz­berg ist die Luft und Umwelt zu stark belas­tet. Wir möch­ten die vie­len Heil­pflan­zen hier nur vor­stel­len. Sie soll­ten nur in unbe­denk­li­chen Gegen­den gesam­melt wer­den”, erwi­dert Cos­lar. Dann ent­deckt sie am Ufer­rand einen Stein­klee-Busch. Sie pflückt eini­ge Blü­ten, “sie rie­chen gut”, meint die Heil­prak­ti­ke­rin. Die Pflan­ze ist mit dem Wald­meis­ter ver­wandt, erklärt sie wei­ter, wes­halb die­se Kuma­ri­ne ent­hält. “Stein­klee wird bei Venen­pro­ble­men in den Bei­nen ver­wen­det. Die Wirk­stof­fe repa­rie­ren klei­ne Gefä­ße und ver­stär­ken den Lymph­fluss”, so Cos­lar weiter.

Anwar Sid­di­que

Schöll­kraut-War­zen-Kur

An einem Mau­er­vor­sprung wächst fast unbe­ach­tet das Schöll­kraut. Doch Sid­di­que hat es ent­deckt: “Schöll­kraut ist heu­te ein wenig in Ver­ruf gera­ten”, sagt er. Das Kraut wur­de jahr­hun­der­te­lang für Leber- und Gal­len­pro­ble­me ver­wen­det. Moder­ne Wis­sen­schaft­ler wol­len eine Leber­schä­di­gung her­aus­ge­fun­den haben. Doch die schul­me­di­zi­ni­sche Kri­tik an man­geln­der Heil­pflan­zen-Wir­kung will Sid­di­que so nicht gel­ten las­sen: “Schließ­lich wer­den seit mehr als vier­tau­send Jah­ren erfolg­reich Heil­pflan­zen ange­wandt”, sagt er. “Es kommt immer auf die Dosis und die Anwen­dung an.” Er zupft eine Blü­te ab, wor­auf sofort der gel­be Milch­saft sicht­bar wird. “Bekann­ter ist das Schöll­kraut als soge­nann­tes War­zen­kraut”, meint er wei­ter. “Der Schöll­kraut­saft wirkt anti­bak­te­ri­ell und anti­vi­ral”. Aller­dings ist zu einer Kur mit Schöll­kraut Geduld nötig. Denn vor­han­de­ne War­zen müs­sen mehr­mals täg­lich mit fri­schen Pflan­zen­saft betupft wer­den. Bei hart­nä­cki­gen War­zen kann die Kur sogar meh­re­re Wochen dau­ern, warnt Siddique.

Hüb­sche Notizen

Par­cours der Heilpflanzen

Die Grup­pe kommt immer nur ein paar Meter vor­wärts. Erstaun­li­cher­wei­se gibt es auf Schritt und Tritt eine Heil­pflan­ze inmit­ten in der Stadt zu ent­de­cken: Es sind Hecken­ro­se, Eibe, Maho­nie, Löwen­zahn, Weiß­dorn, Holun­der, Hop­fen, Spitz­we­ge­rich, Königs­ker­ze die von den Heil­prak­ti­ker jeweils abwech­selnd vor­ge­stellt wer­den. Sie haben sich einen rich­ti­gen klei­nen Par­cours zusam­men­ge­stellt und zücken bei Unsi­cher­heit klei­ne, gel­be Merk­kar­ten als Gedächt­nis­stüt­zen. In der Grup­pe gibt es min­des­tes drei Inter­es­sier­te, die sich Noti­zen machen. Eine jun­ge Frau zupft nach der Vor­stel­lung einer ihr unbe­kann­ten Heil­pflan­ze dann immer noch eine Blü­te oder Blät­ter ab. “Um Zuhau­se noch mal im Bestim­mungs­buch nach­zu­se­hen oder selbst noch etwas zu lesen”, wie sie lächelnd erzählt. Und so hat sich in der Ring­buch­hal­te­rung ein hüb­sches, klei­nes Sträuß­chen angesammelt.

Blut­stil­len­des Hirtentäschel

“Hir­ten­tä­schel ist eine tol­le Heil­pflan­ze”, erklärt Cos­lar. Sie zeigt auf eine sehr unschein­ba­re Pflan­ze. “Hir­ten­tä­schel bekam ihren Namen wegen der bemer­kens­wer­ten Blät­ter­form, die einer Hir­ten­ta­sche ähneln soll”, so Cos­lar. Frau­en, die an star­ken andau­ern­den Mens­trua­ti­ons­blu­tun­gen lei­den, kön­nen das Kraut als Tee mehr­mals täg­lich trin­ken. Der Tee wirkt blut­stil­lend genau­so wie eine Tink­tur, die auf Wun­den äußer­lich auf­ge­bracht wer­den kann. “Hir­ten­tä­schel ent­hält Senf­öl­gly­ko­si­de, genau wie schwar­zer Senf oder Meer­ret­tich jedoch nicht in einem so hohem Maß, ist also auch nicht so aggre­siv oder scharf. Die Heil­pflan­ze wird des­halb ger­ne in der Kin­der­heil­kun­de ange­wen­det, qua­si als pflanz­li­ches Anti­bio­ti­kum für Kin­der”, sagt die jun­ge Heilpraktikerin.

Allem zum Trotz: Über­le­ben des Vogelknöterichs

Zum Ende der Füh­rung hat die Grup­pe viel­leicht eine Weg­stre­cke von 350 Metern inner­halb von zwei Stun­den zurück­ge­legt. Auf einer wei­te­ren Brü­cke bleibt Sid­di­que ste­hen und lächelt her­aus­for­dernd: “Hier kom­men wir nun zu unse­rer letz­ten Pflan­ze”, sagt er. Ver­wun­dert bli­cken sich alle um. Die ver­kehrs­be­ru­hig­te Brü­cke ist nur Fuß­gän­gern zugäng­lich und von Jugend­li­chen bevöl­kert. Sie haben es sich ent­we­der auf dem Gelän­der oder sogar mit­ten auf der Stra­ße gemüt­lich gemacht. Schwat­zend, Musik hörend und trin­kend genie­ßen sie den hei­ßen Som­mer­tag. Sid­di­que weist auf die mit Teer gefüll­ten Fugen der Sta­sen­be­pflas­te­rung: Dort zwi­schen ein­ge­tre­te­nen, metal­le­nen Bier­de­ckeln wächst Vogel­knö­te­rich. “Ich bin immer wie­der fas­zi­niert, von der Wider­stands­fä­hig­keit die­ser Pflan­ze”, bekennt er. “Kein Ort scheint lebens­feind­lich genug, um der reich an kie­sel­säu­re­hal­ti­gen Pflan­ze trotz­dem Lebens­raum zu bie­ten”. Vogel­knö­te­rich­kraut in getrock­ne­ter Form als Tee hilft gegen Durch­fall oder ist bin­de­ge­webs­stär­kend und hilft dem Kör­per beim Auf­bau von Haut und Haa­ren. Zum Abschluss laden die bei­den Heil­prak­ti­ker die Grup­pe noch in ihre neu­en Pra­xis­räu­me ein. Die meis­ten fol­gen ger­ne und besu­chen die “Gesund­heits­re­mi­se”, einem klei­nen lie­be­voll reno­vier­ten Gar­ten­häus­chen in einem Kreuz­ber­ger Hin­ter­hof. Hier kann sich die Grup­pe aus­ru­hen, bei selbst geba­cke­nen Kek­sen aus ver­schie­de­nen Heil­kräu­tern, – Tee oder sogar pro­be­wei­se gereich­ten Brennnessel-Frischsaft.

[1] Die Stif­tung Natur­schutz Ber­lin ver­an­stal­tet seit 2006 im Juni ein “Natur-Wochen­en­­de”. Bür­ger­initia­ti­ven, Ver­ei­ne, Stadt­grup­pie­run­gen oder auch Pri­vat­leu­te rich­ten ein bun­tes Pro­gramm rund um die Natur inner­halb der Stadt aus. Der Ver­an­stal­ter die­ser Füh­rung ist die “Gesund­heits­re­mi­se Kreuz­berg”. Wei­te­re Infos:

www.naturheilpraxis-coslar.de

www.langertagderstadtnatur.de

Autorin
• Mari­on Kaden, Heil­pflan­­zen-Welt (2010).

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