Das Voynich-Manuskript – Eine Welt voller großer und kleiner Geheimnisse

Dass die Welt von Geheim­nis­sen durch­zo­gen ist (Goe­the), dass Ebe­nen des Daseins nur schwer ent­rät­sel­bar von­ein­an­der durch­drun­gen sind (Para­cel­sus) oder dass mit Weih­nach­ten der Beginn einer der rät­sel­haf­tes­ten Meta­mor­pho­sen der Geschich­te gefei­ert wird (Neu­es Tes­ta­ment) zeigt: Wun­dern und Stau­nen sind ele­men­ta­re Antei­le unse­res Lebens, sind klas­si­sche, ganz­heit­li­che Erkennt­nis­we­ge, sind ange­mes­se­ne Reak­tio­nen auf die Welt in der wir leben.

Und eben nicht – wie ideo­lo­gi­sier­te Ver­tre­ter der Natur­wis­sen­schaft oft andeu­ten – Aus­druck von blö­der Tumbheit, kind­li­cher Igno­ranz oder man­geln­der Intel­li­genz. Hier ist etwas zum Wun­dern und Stau­nen: Das vom Umfang wohl kleins­te, aber irri­tie­rends­te Kabi­nett­stück euro­päi­scher Kul­tur­ge­schich­te, das seit über 400 Jah­ren vie­le Men­schen in sei­nen bis heu­te unge­lös­ten Rät­seln ver­strickt hat, ist das soge­nann­te Voy­nich-Manu­skript. Erwäh­nung bei Heilpflanzen-Welt.de fin­det es, weil Pflan­zen, viel­leicht sogar Heil­pflan­zen, einen wesent­li­chen Anteil an dem Werk haben. Und zudem ihre bota­ni­sche Zuord­nung weit­ge­hend unbe­kannt und der beschrei­ben­de Text voll­stän­dig unent­rät­selt ist.

Umfang

Das Manu­skript bestand ursprüng­lich aus ver­mut­lich 116 beid­sei­tig beschrie­be­nen Per­ga­ment-Bögen, von denen heu­te noch 102 vor­han­den sind. Die Sei­ten sind in einem unbe­schrif­te­ten Leder­ein­band zusam­men­ge­fasst, der knapp die Grö­ße eines DIN-A4-Blat­tes hat. Da man­che Sei­ten auf­grund der groß­flä­chi­gen Zeich­nun­gen deut­lich grö­ßer sind, wur­den sie mehr­mals gefal­tet. Ent­spre­chend der vie­len far­bi­gen Zeich­nun­gen lässt sich die inhalt­li­che Glie­de­rung des Buches in etwa erahnen:

  • Pflan­zen­kun­de mit Abbil­dun­gen von Gewäch­sen, die zwar uns bekann­ten Pflan­zen ähn­lich sehen, sich jedoch häu­fig durch ent­schei­den­de Details unterscheiden.
  • Astro­no­mie und Astro­lo­gie mit ganz­sei­ti­gen Zeich­nun­gen von Stern­kreis­bil­dern, sowie Son­ne, Mond und Ster­nen­an­ord­nun­gen, die häu­fig von nack­ten Frau­en gehal­ten werden.
  • Ver­mut­lich Ana­to­mie mit Abbil­dun­gen von nack­ten Frau­en in Röh­ren­sys­te­men, die wahr­schein­lich Orga­ne dar­stel­len sollen.
  • Pflan­zen­kun­de mit ähn­lich unbe­kann­ten Abbil­dun­gen von klei­nen Gewäch­sen und Wurzeln.
  • Even­tu­ell etwas wie Rezep­te mit kur­zen Text­ab­schnit­ten, die jeweils mit einem Stern ein­ge­lei­tet wer­den (in die­sem Abschnitt gibt es jedoch kei­ne Abbildungen).

Illustre Besitzer

Die Rei­he der illus­tren Besit­zer des Voy­nich-Manu­skrip­tes ist lang und umfasst unter ande­rem den Alche­mis­ten und Heil­pflan­zen­kun­di­gen Jakub Hor­ci­cky de Tepenec (1575–1622) oder den eso­te­risch hoch­in­ter­es­sier­ten Kai­ser Jakub Rudolf II. von Habs­burg (1552–1612). Der letz­te Besit­zer vor dem jet­zi­gen Eigen­tü­mer, der US-ame­ri­ka­ni­schen Yale Uni­ver­si­tät, war der Namens­ge­ber Jakub Wil­frid Micha­el Voy­nich (1865–1930), ein pol­nisch­stäm­mi­ger US-ame­ri­ka­ni­scher Anti­quar mit bemer­kens­wer­ter Lebens­ge­schich­te als Unter­grund­kämp­fer gegen das zaris­ti­sche Russ­land, der das Doku­ment 1912 ita­lie­ni­schen Jesui­ten abge­kauft haben will. Behaup­tun­gen, dass Doku­ment las­se sich sogar auf den “Doc­tor mira­bi­lis” Jakub Roger Bacon (1214–1292) zurück­füh­ren, wird durch die Abbil­dung einer Son­nen­blu­me ent­kräf­tet – Son­nen­blu­men wur­den erst­mals 1493 von Kolum­bus aus Mit­tel­ame­ri­ka nach Euro­pa impor­tiert. Eine Radio­car­bon-Alters­be­stim­mung wur­de offen­bar bis­lang nicht durch­ge­führt, sodass das Alter des Wer­kes ent­spre­chend ver­schie­de­ner Besit­zer-Ein­trä­ge der­zeit mit “min­des­tens 400 Jah­ren” ange­ge­ben wird.

Verständnis

Selbst nach so lan­ger Zeit konn­te kein ein­zi­ges Wort des Manu­skrip­tes ent­schlüs­selt wer­den. Zudem wur­de kein wei­te­res Schrift­stück in ähn­li­cher Schrift oder Spra­che gefun­den. Des­halb gibt es Zwei­fel an der Echt­heit des Manu­skripts (nicht zuletzt, weil Kai­ser Rudolf II. offen­bar bereit gewe­sen ist, sei­ner­zeit rund 600 Gold­du­ka­ten dafür aus­zu­ge­ben). Doch was bedeu­tet “Echt­heit” bei einem so alten Doku­ment die­ser ein­ma­li­gen Art über­haupt? Was soll­te denn echt sein – die Schrift, die Spra­che, die Abbil­dun­gen, die Bedeu­tung? Wird es “ech­ter” oder “wah­rer”, wäre es im Mit­tel­al­ter “gefälscht” wor­den oder erst im 20. Jahr­hun­dert von Voy­nich selbst? Wäre es das Doku­ment tat­säch­lich “gefälscht”, wäre es wenigs­tens noch ein ent­zü­cken­des Stück Kunst voll unge­wöhn­li­cher Krea­ti­vi­tät und Phan­ta­sie. Lin­gu­is­ten jeden­falls füh­len sich immer wie­der her­aus­ge­for­dert, das Voy­nich-Manu­skript zu ent­schlüs­seln. Doch ein Teil­erfolg, näm­lich die Beschrei­bung einer mög­li­chen Metho­dik wie der ange­nom­me­ne Kunst­text künst­lich ent­stan­den sein könn­te, schließt nicht aus, dass genau mit die­ser mit­tel­al­ter­li­chen Ver­schlüs­se­lungs­tech­nik doch geziel­te – aber eben nicht ent­schlüs­sel­te – Inhal­te geschrie­ben wor­den sind…

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“Der irdi­sche (Teil des Men­schen) hat den Auf­trag zu bau­en und die Hän­de zu gebrau­chen; dar­um ist ihm mehr an Ver­ständ­nis auf­ge­tra­gen als dem unsicht­ba­ren Kör­per. Wenn der äuße­re Leib han­delt, ent­ste­hen Wirk­lich­kei­ten; wenn aber der unsicht­ba­re han­delt, ent­ste­hen schat­ten­ähn­li­che Wir­kun­gen.” (Para­cel­sus: Fünf Bücher über die unsicht­ba­ren Krank­hei­ten. Fr. From­mann Ver­lag, Stutt­gart, 1923).
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Pflanzen

Man­che Heil­pflan­zen-Exper­ten haben die Pflan­zen des Voy­nich-Manu­skrip­tes als Phan­tas­ma­go­rien bezeich­net, als künst­li­che Dar­stel­lun­gen von Trug­bil­dern. Bemer­kens­wert ist, dass ein Groß­teil der Abbil­dun­gen kei­ner­lei Ent­spre­chun­gen in der Wirk­lich­keit hat. Anders als die Pflan­zen­ab­bil­dun­gen der gro­ßen Heil­pflan­zen-Bücher des Mit­tel­al­ters, die prak­tisch immer in bewun­derns­wer­ter Wei­se nahe an der Wirk­lich­keit waren, zum Bei­spiel Jakub Leon­hard Fuchs (1501–66). In den so fremd­ar­tig erschei­nen­den Abbil­dun­gen steckt also wohl eher Absicht denn Unfä­hig­keit. Die Fremd­ar­tig­keit erscheint eben­so groß wie natur­wis­sen­schaft­lich ori­en­tier­ten Phy­to­phar­ma­zeu­ten viel­leicht die mys­tisch ange­hauch­te, tra­di­tio­nel­le Signa­tu­renleh­re der Heil­pflan­zen­kun­de anmu­tet. Und doch hat(te) die­se einen star­ken Ein­fluss auf die Zusam­men­set­zung der Heil­pflan­zen-Arz­nei­bü­cher bis in die Neu­zeit hinein.

Autor
• Rai­ner H. Buben­zer, Heil­pflan­­zen-Welt (Dezem­ber 2006).
Quel­len
Ger­ry Ken­ne­dy, Rob Chur­chill: Der Voy­­­nich-Code. Das Buch, das nie­mand lesen kann. Ver­lag Zwei­tau­send­eins. ISBN 3–8077–1009–4 (Euro 24,00).
Zan­dber­gen R: The Voy­nich Manu­script. See­heim, 2004 (eng­lisch­sprach. Web­site – www.voynich.nu).
Digi­­tal-Scans des Voy­­­nich-Manu­skrip­­tes: Beine­cke Rare Book and Manu­script Libra­ry, Yale Uni­ver­si­ty (https://beinecke.library.yale.edu/dl_crosscollex).

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