Das Märchen, Johann Wolfgang von Goethe (Aus den “Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten” von 1795, zuerst erscheinen in der von Schiller hrsg. Zeitschrift “Die Horen”)

An dem gro­ßen Flus­se, der eben von einem star­ken Regen geschwol­len und über­ge­tre­ten war, lag in sei­ner klei­nen Hüt­te, müde von den Anstren­gun­gen des Tages, der alte Fähr­mann und schlief. Mit­ten in der Nacht weck­ten ihn eini­ge lau­te Stim­men; er hör­te, daß Rei­sen­de über­ge­setzt sein wollten.

Als er vor die Tür hin­aus trat, sah er zwei gro­ße Irr­lich­ter über dem ange­bun­de­nen Kah­ne schwe­ben, die ihm ver­si­cher­ten, daß sie gro­ße Eile hät­ten und schon an jenem Ufer zu sein wünsch­ten. Der Alte säum­te nicht, stieß ab und fuhr, mit sei­ner gewöhn­li­chen Geschick­lich­keit, quer über den Strom, indes die Frem­den in einer unbe­kann­ten, sehr behen­den Spra­che gegen­ein­an­der zisch­ten und mit­un­ter in ein lau­tes Geläch­ter aus­bra­chen, indem sie bald auf den Rän­dern und Bän­ken, bald auf dem Boden des Kahns hin- und widerhüpften.

Der Kahn schwankt! rief der Alte; und wenn ihr so unru­hig seid, kann er umschla­gen; setzt euch, ihr Lichter!

Sie bra­chen über die­se Zumu­tung in ein gro­ßes Geläch­ter aus, ver­spot­te­ten den alten und waren noch unru­hi­ger als vor­her. Er trug ihre Unar­ten mit Geduld, und stieß bald am jen­sei­ti­gen Ufer an.

Hier ist für Eure Mühe! rie­fen die Rei­sen­den, und es fie­len, indem sie sich schüt­tel­ten, vie­le glän­zen­de Gold­stü­cke in den feuch­ten Kahn. Ums Him­mels wil­len, was macht ihr? rief der Alte. Ihr bringt mich ins größ­te Unglück! Wäre ein Gold­stück ins Was­ser gefal­len, so wür­de der Strom, der dies Metall nicht lei­den kann, sich in ent­setz­li­che Wel­len erho­ben, das Schiff und mich ver­schlun­gen haben, und wer weiß, wie es euch gegan­gen sein wür­de! Nehmt euer Geld wie­der zu euch!

Wir kön­nen nichts wie­der zu uns neh­men, was wir abge­schüt­telt haben, ver­setz­ten jene.

So macht ihr mir noch die Mühe, sag­te der Alte, indem er sich bück­te und die Gold­stü­cke in sei­ne Müt­ze las, daß ich sie zusam­men­su­chen, ans Land tra­gen und ver­gra­ben muß.

Die Irr­lich­ter waren aus dem Kah­ne gesprun­gen, und der Alte rief: Wo bleibt nun mein Lohn?

Wer kein Gold nimmt, mag umsonst arbei­ten! rie­fen die Irr­lich­ter. – Ihr müßt wis­sen, daß man sich nur mit den Früch­ten der Erde bezah­len kann. – Mit Früch­ten der Erde? Wir ver­schmä­hen sie, und haben sie nie genos­sen. – Und doch kann ich euch nicht los­las­sen, bis ihr mir ver­sprecht, daß ihr mir drei Kohl­häup­ter, drei Arti­scho­cken und drei gro­ße Zwie­beln liefert.

Die Irr­lich­ter woll­ten scher­zend davon­schlüp­fen, allein sie fühl­ten sich auf eine unbe­greif­li­che Wei­se an den Boden gefes­selt; es war die unan­ge­nehms­te Emp­fin­dung die sie jemals gehabt hat­ten. Sie ver­spra­chen sei­ne For­de­rung nächs­tens zu befrie­di­gen; er ent­ließ sie und stieß ab. Er war schon weit hin­weg als sie ihm nach­rie­fen: Alter! hört Alter! wir haben das Wich­tigs­te ver­ges­sen! Er war fort und hör­te sie nicht. Er hat­te sich an der­sel­ben Sei­te den Fluß hin­ab trei­ben las­sen, wo er in einer gebir­gi­gen Gegend, die das Was­ser nie­mals errei­chen konn­te, das gefähr­li­che Gold ver­schar­ren woll­te. Dort fand er zwi­schen hohen Fel­sen eine unge­heu­re Kluft, schüt­te­te es hin­ein und fuhr nach sei­ner Hüt­te zurück.

In die­ser Kluft befand sich die schö­ne grü­ne Schlan­ge, die durch die her­ab­klin­gen­de Mün­ze aus ihrem Schlaf geweckt wur­de. Sie ersah die kaum die leuch­ten­den Schei­ben, als sie sol­che auf der Stel­le mit gro­ßer Begier­de ver­schlang, und alle Stü­cke, die sich in dem Gebüsch uns zwi­schen den Fels­rit­zen zer­streut hat­ten, sorg­fäl­tig aufsuchte.

Kaum waren sie ver­schlun­gen, so fühl­te sie mit der ange­nehms­ten Emp­fin­dung das Gold in ihren Ein­ge­wei­den schmel­zen und sich durch ihren gan­zen Kör­per aus­brei­ten, und zur größ­ten Freu­de bemerk­te sie, daß sie durch­sich­tig und leuch­tend gewor­den war. Lan­ge hat­te man ihr schon ver­si­chert, daß die­se Erschei­nung mög­lich sei; weil sie aber zwei­fel­haft war, ob die­ses Licht lan­ge dau­ern kön­ne, so trieb sie die Neu­gier­de und der Wunsch, sich für die Zukunft sicher­zu­stel­len, aus dem Fel­sen her­aus, um zu unter­su­chen, wer das schö­ne Geld her­ein­ge­streut haben könn­te. Sie fand nie­man­den. Des­to ange­neh­mer war es ihr, sich selbst, da sie zwi­schen Kräu­tern und Gesträu­chen hin­kroch, und ihr anmu­ti­ges Licht, das sie durch das fri­sche Grün ver­brei­te­te, zu bewun­dern. Alle Blät­ter schie­nen von Sma­ragd, alle Blu­men auf das herr­lichs­te ver­klärt. Ver­ge­bens durch­strich sie die ein­sa­me Wild­nis; des­to mehr aber wuchs ihre Hoff­nung, als sie auf die Flä­che kam und von wei­tem einen Glanz, der dem ihri­gen ähn­lich war, erblick­te. Find’ ich doch end­lich mei­nes­glei­chen! rief sie aus und eil­te nach der Gegend zu. Sie ach­te­te nicht die Beschwer­lich­keit durch Sumpf und Rohr zu krie­chen; denn ob sie gleich auf tro­cke­nen Berg­wie­sen, in hohen Fels­rit­zen am liebs­ten leb­te, gewürz­haf­te Kräu­ter ger­ne genoß und mit zar­tem Tau und fri­schem Quell­was­ser ihren Durst gewöhn­lich still­te, so hät­te sie doch des lie­ben Gol­des wil­len und in Hoff­nung des herr­li­chen Lich­tes alles unter­nom­men, was man ihr auferlegte.

Sehr ermü­det gelang­te sie end­lich zu einem feuch­ten Ried, wo unse­re bei­den Irr­lich­ter hin- und wider­spie­gel­ten. Sie schoß auf sie los, begrüß­te sie, und freu­te sich so ange­neh­me Her­ren von ihrer Ver­wandt­schaft zu fin­den. Die Lich­ter stri­chen an ihr her, hüpf­ten über sie weg und lach­ten nach ihrer Wei­se. Frau Muh­me, sag­ten sie, wenn Sie schon von der hori­zon­ta­len Linie sind, so hat das doch nichts zu bedeu­ten; frei­lich sind wir nur von sei­ten des Scheins ver­wandt, denn sehen sie nur (hier mach­ten bei­de Flam­men indem sie ihre gan­ze Brei­te auf­op­fer­ten, sich so lang und spitz als mög­lich) wie schön uns Her­ren von der ver­ti­ka­len Linie die­se schlan­ke Län­ge klei­det; neh­men Sie“s uns nicht übel, mei­ne Freun­din, wel­che Fami­lie kann sich des rüh­men? So lang es Irr­lich­ter gibt, hat noch kei­nes weder geses­sen noch gelegen.

Die Schlan­ge fühl­te sich in der Gegen­wart die­ser Ver­wand­ten sehr unbe­hag­lich, denn sie moch­te den Kopf so hoch heben als sie woll­te, so fühl­te die doch, daß sie ihn wie­der zur Erde bie­gen muß­te, um von der Stel­le zu kom­men, und hat­te sie sich vor­her im dunk­len Hain außer­or­dent­lich wohl­ge­fal­len, so schien ihr Glanz in Gegen­wart die­ser Vet­tern sich jeden Augen­blick zu ver­min­dern, ja sie fürch­te­te, daß er end­lich gar ver­lö­schen wer­de. In die­ser Ver­le­gen­heit frag­te sie eilig, ob die Her­ren ihr nicht etwa Nach­richt geben könn­ten, wo das glän­zen­de Gold her­kom­me, das vor kur­zem in die Fels­kluft gefal­len sei; sie ver­mu­te, es sei ein Gold­re­gen, der unmit­tel­bar vom Him­mel träuf­le. Die Irr­lich­ter lach­ten und schüt­tel­ten sich, und es spran­gen eine gro­ße Men­ge Gold­stü­cke um sie her­um. Die Schlan­ge fuhr schnell danach sie zu ver­schlin­gen. Laßt es Euch schme­cken, Frau Muh­me, sag­ten die arti­gen Her­ren, wir kön­nen noch mit mehr auf­war­ten. Sie schüt­tel­ten sich noch eini­ge Male mit gro­ßer Behen­dig­keit, so daß die Schlan­ge kaum die kost­ba­re Spei­se schnell genug hin­un­ter­brin­gen konn­te. Sicht­lich fing ihr Schein an zu wach­sen, und sie leuch­te­te wirk­lich auf“s herr­lichs­te, indes die Irr­lich­ter ziem­lich mager und klein gewor­den waren, ohne jedoch von ihrer guten Lau­ne das min­des­te zu verlieren.

Ich bin euch auf ewig ver­bun­den, sag­te die Schlan­ge, nach­dem sie von ihrer Mahl­zeit wie­der zu Atem gekom­men war, for­dert von mir was ihr wollt; was in mei­nen Kräf­ten ist, will ich euch leisten.

Recht schön! rie­fen die Irr­lich­ter, sage, wo wohnt die schö­ne Lilie? Führ uns so schnell als mög­lich zum Palas­te und Gar­ten der schö­nen Lilie, wir ster­ben vor Unge­duld, uns ihr zu Füßen zu werfen.

Die­sen Dienst, ver­setz­te die Schlan­ge mit einem tie­fen Seuf­zer, kann ich euch sogleich nicht leis­ten. Die schö­ne Lilie wohnt lei­der jen­seits des Was­sers. – Jen­seits des Was­sers! Und wir las­sen uns in die­ser stür­mi­schen Nacht über­set­zen! Wie grau­sam ist der Fluß, der uns nun schei­det! Soll­te es nicht mög­lich sein, des Alten wie­der zu errufen?

Sie wür­den sich ver­ge­bens bemü­hen, ver­setz­te die Schlan­ge, denn wenn Sie ihn ach selbst an dem dies­sei­ti­gen Ufer anträ­fen, so wür­de er Sie nicht ein­neh­men; er darf jeder­mann her­über, nie­mand hin­über brin­gen. – Da haben wir uns schön gebet­tet! Gibt es denn kein ande­res Mit­tel, über das Was­ser zu kom­men? – Noch eini­ge, nur nicht in die­sem Augen­blick. Ich selbst kann die Her­ren über­set­zen, aber erst in der Mit­tags­stun­de . – Das ist eine Zeit, in der wir nicht ger­ne rei­sen. – So kön­nen Sie abends auf dem Schat­ten des Rie­sen hin­über­fah­ren. – Wie geht das zu? – Der gro­ße Rie­se, der nicht weit von hier wohnt, ver­mag mit sei­nem Kör­per nichts; sei­ne Hän­de heben kei­nen Stroh­halm, sei­ne Schul­tern wür­den kein Reis­blatt tra­gen; aber sein Schat­ten ver­mag viel, ja alles. Des­we­gen ist er beim Auf­gang und Unter­gang der Son­ne am mäch­tigs­ten, und so darf man sich abends nur auf den Nacken sei­nes Schat­tens set­zen, der Rie­se geht als­dann sach­te gegen das Ufer zu und der Schat­ten bringt den Wan­de­rer über das Was­ser hin­über. Wol­len Sie aber um Mit­tags­zeit sich an jener Wal­de­cke ein­fin­den, wo das Gebüsch dicht ans Ufer stößt, so kann ich Sie über­set­zen und der schö­nen Lilie vor­stel­len; scheu­en Sie hin­ge­gen die Mit­tags­hit­ze, so dür­fen Sie nur gegen Abend in jener Fel­sen­bucht den Rie­sen auf­su­chen, der sich gewiß recht gefäl­lig zei­gen wird.

Mit einer leich­ten Ver­beu­gung ent­fern­ten sich die jun­gen Her­ren, und die Schlan­ge war zufrie­den von ihnen los­zu­kom­men, teils um sich in ihrem eig­nen Lich­te zu erfreu­en, teils eine Neu­gier­de zu befrie­di­gen, von der die schon lan­ge auf eine son­der­ba­re Wei­se gequält wird.

In den Fels­klüf­ten, in denen sie oft hin- und wider­kroch, hat­te sie an einem Orte eine selt­sa­me Ent­de­ckung gemacht. Denn ob sie gleich durch die­se Abgrün­de ohne ein Licht zu krie­chen genö­tigt war, so konn­te sie doch durch Gefühl die Gegen­stän­de recht wohl unter­schei­den. Nur unre­gel­mä­ßi­ge Natur­pro­duk­te war sie gewohnt über­all zu fin­den; bald schlang sie sich zwi­schen den Zacken gro­ßer Kris­tal­le hin­durch, bald fühl­te sie die Haken und Haa­re des gedie­ge­nen Sil­bers, und brach­te ein und den ande­ren Edel­stein mit ans Licht her­vor. Doch hat­te sie zu ihrer gro­ßen Ver­wun­de­rung in einem rings­um ver­schlos­se­nen Fel­sen Gegen­stän­de gefühlt, wel­che die bil­den­de Hand des Men­schen ver­rie­ten. Glat­te Wän­de, an denen sie nicht auf­stei­gen konn­te, schar­fe regel­mä­ßi­ge Kan­ten, wohl­ge­bil­de­te Säu­len und, was ihr am son­der­bars­ten vor­kam, mensch­li­che Figu­ren, um die sie sich mehr­mals geschlun­gen hat­te, und die für Erz oder äußerst polier­ten Mar­mor hal­ten muß­te. Alle die­se Erfah­run­gen wünsch­te sie noch zuletzt durch den Sinn des Auges zusam­men­zu­fas­sen und das, was sie nur mut­maß­te, zu bestä­ti­gen. Sie glaub­te sich nun fähig durch ihr eige­nes Licht die­ses wun­der­ba­re unter­ir­di­sche Gewöl­be zu erleuch­ten und hof­fe auf ein­mal mit die­sen son­der­ba­ren Gegen­stän­den völ­lig bekannt zu wer­den. Sie eil­te und fand auf dem gewohn­ten Weg bald die Rit­ze, durch sie in das Hei­lig­tum zu schlei­chen pflegte.

Als sie sich am Orte befand, sah sie sich mit Neu­gier um, und obgleich ihr Schein alle Gegen­stän­de der Roton­de nicht erleuch­ten konn­te, so wur­den ihr doch die nächs­ten deut­lich genug. Mit Erstau­nen und Ehr­furcht sah sie in eine glän­zen­de Nische hin­auf, in wel­cher das Bild­nis eines ehr­wür­di­gen Königs in lau­te­rem Gol­de auf­ge­stellt war. Dem Maß nach war die Bild­säu­le über Men­schen­grö­ße, der Gestalt nach aber das Bild­nis eher eines klei­nen als eines gro­ßen Man­nes. Sein wohl­ge­bil­de­ter Kör­per war mit einem ein­fa­chen Man­tel umge­ben, und ein Eichen­kranz hielt sei­ne Haa­re zusammen.

Kaum hat­te die Schlan­ge die­ses ehr­wür­di­ge Bild­nis ange­blickt, als der König zu reden anfing und frag­te: Wo kommst du her? – Aus den Klüf­ten, ver­setz­te die Schlan­ge, in denen das Gold wohnt. – Was ist herr­li­cher als Gold? frag­te der König. – Das Licht, ant­wor­te­te die Schlan­ge. – Was ist erquick­li­cher als Licht? frag­te jener. – Das Gespräch, ant­wor­te­te diese.

Sie hat­te unter die­sen Reden bei­sei­te geschielt und in der nächs­ten Nische ein ande­res herr­li­ches Bild gese­hen. In der­sel­ben saß ein sil­ber­ner König, von lan­ger und eher schmäch­ti­ger Gestalt; sein Kör­per war mit einem ver­zier­ten Gewan­de über­deckt, Kro­ne, Gür­tel und Zep­ter mit Edel­stei­nen geschmückt; er hat­te die Hei­ter­keit des Stol­zes in sei­nem Ange­sich­te und schien eben reden zu wol­len, als an der nor­ma­len Wand eine Ader, die dun­kel­far­big hin­durch­lief, auf ein­mal hell ward und ein ange­neh­mes Licht durch den gan­zen Tem­pel ver­brei­te­te. Bei die­sem Licht sah die Schlan­ge den drit­ten König, der von Erz in mäch­ti­ger Gestalt dasaß, sich auf sei­ne Keu­le lehn­te, mit einem Lor­beer­kranz geschmückt war, und eher einem Fel­sen als einem Men­schen glich. Sie woll­te sich nach dem vier­ten umse­hen, der in der größ­ten Ent­fer­nung vor ihr stand, aber die Mau­er öff­ne­te sich, indem die erleuch­te­te Ader wie ein Blitz zuck­te und verschwand.

Ein Mann von mitt­le­re Grö­ße, der her­aus­trat, zog die Auf­merk­sam­keit der Schlan­ge auf sich. Er war als ein Bau­er geklei­det und trug eine klei­ne Lam­pe in der Hand, in deren stil­le Flam­me man ger­ne hin­ein­sah, und die auf eine wun­der­sa­me Wei­se, ohne auch nur einen Schat­ten zu wer­fen, den gan­zen Dom erhellte.

War­um kommst du, da wir Licht haben? frag­te der gol­de­ne König. ‑Ihr wißt, daß ich das Dunk­le nicht erleuch­ten darf. ‑Endigt sich mein Reich? frag­te der sil­ber­ne König. – Spät oder nie, ver­setz­te der Alte.

Mit einer star­ken Stim­me fing der ehe­ren König an zu fra­gen: Wann wer­de ich auf­stehn? – Bald, ver­setz­te der Alte. – Mit wem soll ich mich ver­bin­den? frag­te der König. – Mit dei­nen älte­ren Brü­dern, sag­te der Alte. – Was wird aus dem jüngs­ten wer­den? frag­te der König. – Er wird sich set­zen, sag­te der Alte.

Ich bin nicht müde, rief der vier­te König mit einer rau­hen stot­tern­den Stimme.

Die Schlan­ge war, indes­sen jene rede­ten, in dem Tem­pel lei­se her­um­ge­schli­chen, hat­te alles betrach­tet und besah nun­mehr den vier­ten König in der Nähe. Er stand an eine Säu­le gelehnt, und sei­ne ansehn­li­che Gestalt war eher schwer­fäl­lig als schön. Allein das Metall, wor­aus er gegos­sen war, konn­te man nicht leicht unter­schei­den. Genau genom­men war eine Mischung der drei Metal­le, aus denen sei­ne Brü­der gebil­det waren. Aber beim Gus­se schie­nen die­se Mate­ri­en nicht recht zusam­men­ge­schmol­zen zu sein; gold­ne und sil­ber­ne Adern lie­fen unre­gel­mä­ßig durch eine eher­ne Mas­se hin­durch, und gaben dem gan­zen ein unan­ge­neh­mes Ansehn.

Indes­sen sag­te der gold­ne König zum Man­ne: Wie viel Geheim­nis weißt du? – Drei, ver­setz­te der Alte. – Wel­ches ist das wich­tigs­te? frag­te der sil­ber­ne König. – Das offen­ba­re, ver­setz­te der Alte. – Willst du es auch uns eröff­nen? frag­te der eher­ne. – Sobald ich das vier­te weiß, sag­te der Alte. – Was kümmerts“s mich! mur­mel­te der zusam­men­ge­setz­te König vor sich hin.

Ich weiß das vier­te, sag­te die Schlan­ge, näher­te sich dem Alten und zisch­te ihm etwas ins Ohr. – Es ist an der Zeit! rief der Alte mit gewal­ti­ger Stim­me. Der Tem­pel schall­te wider, die metal­le­nen Bild­säu­len klan­gen, und in dem Augen­bli­cke ver­sank der Alte nach Wes­ten und die Schlan­ge nach Osten, und jedes durch­strich mit gro­ßer Schnel­le die Klüf­te der Felsen.

Alle Gän­ge, durch die der Alte hin­durch wan­del­te, füll­ten sich hin­ter ihm sogleich mit Gold, denn sei­ne Lam­pe hat­te die wun­der­ba­re Eigen­schaft, alle Stei­ne in Gold, alles Holz in Sil­ber, tote Tie­re in Edel­stei­ne zu ver­wan­deln, und alle Metal­le zu ver­nich­ten; die­se Wir­kung zu äußern muß­te sie aber ganz allein leuch­ten. Wenn ein ander Licht neben ihr war, wirk­te sie nur einen schö­nen Schein, und alles Leben­dig­keit ward immer durch sie erquickt.

Der Alte trat in sei­ne Hüt­te, die an dem Ber­ge ange­bau­et war, und fand sein Weib in der größ­ten Betrüb­nis. Sie saß am Feu­er und wein­te und konn­te sich nicht zufrie­den geben. Wie unglück­lich bin ich, rief sie aus, wollt” ich dich heu­te doch nicht fort­las­sen! – Was gibt es denn? frag­te der Alte ganz ruhig.

Kaum bist du weg, sag­te sie mit Schluch­zen, so kom­men zwei unge­stü­me Wan­de­rer vor die Türe; unvor­sich­tig las­se ich sie her­ein, es schie­nen ein paar arti­ge recht­li­che Leu­te; sie waren in leich­te Flam­men geklei­det, man hät­te sie für Irr­lich­ter hal­ten kön­nen: kaum sind sie im Hau­se, so fan­gen sie an, auf eine unver­schäm­te Wei­se, mit Wor­ten zu schmei­cheln, und wer­den so zudring­lich, daß ich mich schä­me dar­an zu denken.

Nun, ver­setz­te der Mann lächelnd, die Her­ren haben wohl gescherzt; denn dei­nem Alter nach soll­ten sie es wohl bei der all­ge­mei­nen Höf­lich­keit gelas­sen haben.

Was Alter! rief die Frau; soll ich immer von mei­nem Alter hören? Wie alt bin ich denn? Gemei­ne Höf­lich­keit! Ich weiß doch was ich weiß. Und sieh dich nur um, wie die Wän­de aus­se­hen; sieh nur die alten Stei­ne, die ich seit hun­dert Jah­ren nicht mehr gese­hen habe; alles Gold haben sie her­un­ter­ge­leckt, du glaubst nicht mit wel­cher Behen­dig­keit, und sie ver­si­cher­ten immer, es schme­cke viel bes­ser als gemei­nes Gold. Als die Wän­de rein gefegt hat­ten, schie­nen sie sehr guten Mutes, und gewiß, sie waren auch in kur­zer Zeit sehr viel grö­ßer, brei­ter und glän­zen­der gewor­den. Nun fin­gen sie ihren Mut­wil­len von neu­em an, strei­chel­ten mich wie­der, hie­ßen mich ihre Köni­gin, schüt­tel­ten sich und eine Men­ge Gold­stü­cke spran­gen her­um; du siehst noch, wie sie dort unter der Bank leuch­ten; aber welch ein Unglück! Unser Mops fraß eini­ge davon und sieh, da liegt er am Kami­ne tot; das arme Tier! Ich kann mich nicht zufrie­den geben. Ich sah es erst, da sie fort waren, denn sonst hät­te ich nicht ver­spro­chen, ihre Schuld beim Fähr­mann abzu­tra­gen.- Was sind sie schul­dig? frag­te der Alte. – Drei Kohl­häup­ter, sag­te die Frau, drei Arti­scho­cken und drei Zwie­beln: wenn es Tag wird, habe ich ver­spro­chen, sie an den Fluß zu tragen.

Du kannst ihnen den Gefal­len tun, sag­te der Alte; denn sie wer­den uns gele­gent­lich auch wie­der dienen.

Ob sie uns die­nen wer­den, weiß ich nicht, aber ver­spro­chen und beteu­ert haben sie es.

Indes­sen war das Feu­er im Kami­ne zusam­men­ge­brannt, der Alte über­zog die Koh­len mit vie­ler Asche, schaff­te die leuch­ten­den Gold­stü­cke bei­sei­te, und nun leuch­te­te sein Lämp­chen wie­der allein, in dem schö­nen Glan­ze, die Mau­ern über­zo­gen sich mit Gold und der Mops war zu dem schöns­ten Onyx gewor­den, den man sich den­ken konn­te. Die Abwechs­lung der brau­nen und schwar­zen Far­be des kost­ba­ren Gesteins mach­te ihn zum sel­tens­ten Kunstwerke.

Nimm dei­nen Korb, sag­te der Alte, und stel­le den Onyx hin­ein; als­dann nimm die drei Kohl­häup­ter, die drei Arti­scho­cken und die drei Zwie­beln, lege sie umher und tra­ge sie zum Flus­se. Gegen Mit­tag laß dich von der Schlan­ge über­set­zen und besu­che die schö­ne Lilie, bring ihr den Onyx, sie wird ihn durch ihre Berüh­rung leben­dig machen, wie sie alles Leben­di­ge durch ihre Berüh­rung tötet; sie wird einen treu­en Gefähr­ten an ihm haben. Sage ihr, sie sol­le nicht trau­ern, ihre Erlö­sung sei nahe, das größ­te Unglück kön­ne sie als das größ­te Glück betrach­ten, denn es sei an der Zeit.Â

Die Alte pack­te ihren Korb und mach­te sich, als es Tag war, auf den weg. Die auf­ge­hen­de Son­ne schien hell über den Fluß her­über, der in der Fer­ne glänz­te; das Weib ging mit lang­sa­mem Schritt, denn der Korb drück­te sie aufs Haupt, und es war doch nicht der Onyx, der so las­te­te. Alles Tote was sie trug fühl­te sie nicht, viel­mehr hob sich als­dann der Korb in die Höhe und schweb­te über ihrem Haup­te. Aber ein fri­sches Gemü­se oder ein klei­nes leben­di­ges Tier zu tra­gen, war ihr äußerst beschwer­lich. Ver­drieß­lich war sie eine Zeit­lang hin­ge­gan­gen, als sie auf ein­mal, erschreckt, stil­le stand; denn sie hät­te bei­na­he auf den Schat­ten des Rie­sen getre­ten, der sich über die Ebe­ne bis zu ihr hin erstreck­te. Und nun sah sie erst den gewal­ti­gen Rie­sen, der sich im Fluß geba­det hat­te, aus dem Was­ser her­aus­stei­gen, und sie wuß­te nicht, wie sie ihm aus­wei­chen soll­te. Sobald er sie gewahr war, fing er an sie scherz­haft zu begrü­ßen, und die Hän­de sei­nes Schat­tens grif­fen sogleich in den Korb. Mit Leich­tig­keit und Geschick­lich­keit nah­men sie ein Kohl­haupt, eine Arti­scho­cke und eine Zwie­bel her­aus und brach­ten sie dem Rie­sen zum Mun­de, der sodann wei­ter den Fluß hin­auf ging und dem Wei­be den Weg frei ließ.

Sie bedach­te, ob sie nicht lie­ber zurück­ge­hen und die feh­len­den Stü­cke aus ihrem Gar­ten wie­der erset­zen soll­te, und ging unter die­sen Zwei­feln immer wei­ter vor­wärts, so daß sie bald an dem Ufer des Flus­ses ankam. Lan­ge saß sie in Erwar­tung des Fähr­manns, den sie end­lich mit einem son­der­ba­ren Rei­sen­den her­über­schif­fen sah. Ein jun­ger, edler, schö­ner Mann, den sie nicht genug anse­hen konn­te, stieg aus dem Kahne.

Was bringt ihr? rief der Alte. – Es ist das Gemü­se, das Euch die Irr­lich­ter schul­dig sind, ver­setz­te die Frau und wies ihre Ware hin. Als der Alte von jeder Sor­te nur zwei fand, ward er ver­drieß­lich und ver­si­cher­te, daß er sie nicht anneh­men kön­ne. Die Frau bat ihn instän­dig, erzähl­te ihm, daß sie jetzt nicht nach Hau­se gehen kön­ne und daß ihr die Last auf dem Wege, den sie vor sich habe, beschwer­lich sei. Er blieb bei sei­ner abschlä­gi­gen Ant­wort, indem er ihr ver­si­cher­te, daß es nicht ein­mal von ihm abhan­ge. Was mir gebührt, muß ich neun Stun­den zusam­men las­sen, und ich darf nichts anneh­men, bis ich dem Fluß ein Drit­teil über­ge­ben habe. Nach vie­lem Hin- und Wider­re­den ver­setz­te end­lich der Alte: Es ist noch ein Mit­tel. Wenn Ihr Euch gegen den Fluß ver­bürgt und Euch als Schuld­ne­rin beken­nen wollt, so nehm” ich die sechs Stü­cke zu mir, es ist aber eini­ge Gefahr dabei. – Wenn ich mein Wort hal­te, so lau­fe ich doch kei­ne Gefahr? – Nicht die gerings­te. Steckt Eure Hand in den Fluß, fuhr der Alte fort, und ver­sprecht, daß Ihr in vier­und­zwan­zig Stun­den die Schuld abtra­gen wollt.

Die Alte tat“s, aber wie erschrak sie nicht, als sie ihre Hand kohl­schwarz wie­der aus dem Was­ser zog. Sie schalt hef­tig auf den Alten, ver­si­cher­te, daß ihre Hän­de immer das Schöns­te an ihr gewe­sen wären, und daß sie, unge­ach­tet der har­ten Arbeit, die­se edlen Gemü­ter weiß und zier­lich zu erhal­ten gewußt habe. Sie besah die Hand mit gro­ßem Ver­drus­se und rief ver­zweif­lungs­voll aus: Das ist noch schlim­mer! Ich sehe, sie ist gar geschwun­den, sie ist viel klei­ner als die andere.

Jetzt scheint es nur so, sag­te der Alte; wenn ihr aber nicht Wort hal­tet, kann es wahr wer­den. Die Hand wird nach und nach schwin­den und end­lich ganz ver­schwin­den, ohne daß ihr den Gebrauch der­sel­ben ent­behrt. Ihr wer­det alles damit ver­rich­ten kön­nen, nur daß sie nie­mand sehen wird. – Ich woll­te lie­ber, ich könn­te sie nicht brau­chen und man säh“s mir“s nicht an, sag­te die Alte; indes­sen hat das nichts zu bedeu­ten, ich wer­de mein Wort hal­ten, um, die­se schwar­ze Haut und die­se Sor­ge bald los zu wer­den. Eilig nahm sie dar­auf den Korb, der sich von selbst über ihren Schei­tel erhob und frei in die Höhe schweb­te, und eil­te dem jun­gen Man­ne nach, der sach­te und in Gedan­ken a, Ufer hin­ging. Sei­ne herr­li­che Gestalt und sein son­der­ba­rer Anzug hat­ten sich der Alten tief eingedruckt.

Sei­ne Brust war mit einem glän­zen­den Har­nisch bedeckt, durch den alle Tei­le sei­nes schö­nen Lei­bes sich durch beweg­ten. Um sei­ne Schul­tern hing ein Pur­pur­man­tel, um sein unbe­deck­tes Haupt wall­ten brau­ne Haa­re in schö­nen Locken; sein hol­des Gesicht war den Strah­len der Son­ne aus­ge­setzt, so wie sei­ne schön gebau­ten Füße. Mit nack­ten Soh­len ging er gelas­sen über den hei­ßen Sand hin, und ein tie­fer Schmerz schien alle äuße­ren Ein­drü­cke abzustumpfen.

Die gesprä­chi­ge Alte such­te ihn zu einer Unter­re­dung zu brin­gen, allein er gab ihr mit kur­zen Wor­ten wenig Bescheid, so daß sie end­lich, unge­ach­tet sei­ner schö­nen Augen, müde war ihn immer ver­ge­bens anzu­re­den, von ihm Abschied nahm und sag­te: Ihr geht mir zu lang­sam, mein Herr, ich darf den Augen­blick nicht ver­säu­men, um über die grü­ne Schlan­ge den Fluß zu pas­sie­ren und der schö­nen Lilie das vor­treff­li­che Geschenk von mei­nem Man­ne zu über­brin­gen. Mit die­sen Wor­ten schritt sie eilends fort und eben­so schnell ermann­te sich der schö­ne Jüng­ling und eil­te ihr auf dem Fuße nach. Ihr geht zur schö­nen Lilie! rief er aus, da gehen wir einen Weg. Was ist das für ein Geschenk, das ihr tragt?

Mein Herr, ver­setz­te die Frau dage­gen, es ist nicht bil­lig, nach­dem ihr mei­ne Fra­gen so ein­sil­big abge­lehnt habt, Euch mit sol­cher Leb­haf­tig­keit nach mei­nen Geheim­nis­sen zu erkun­di­gen. Wollt ihr aber einen Tausch ein­ge­hen und Eure Schick­sa­le erzäh­len, so will ich Euch nicht ver­ber­gen, wie es mit mir und mei­nem Geschen­ke steht. Sie wur­den bald einig; die Frau ver­trau­te ihm ihre Ver­hält­nis­se, die Geschich­te des Hun­des, und ließ ihn dabei das wun­der­vol­le Geschenk betrachten.

Er hob sogleich das natür­li­che Kunst­werk aus dem Kor­be und nahm den Mops, der sanft zu ruhen schien, in sei­ne Arme. Glück­li­ches Tier! rief er aus, du wirst von ihren Hän­den berührt, du wirst von ihr belebt wer­den, anstatt daß Leben­di­ge vor ihr flie­hen, um nicht ein trau­ri­ges Schick­sal zu erfah­ren. Doch was sage ich trau­rig! ist es nicht viel betrüb­ter und bäng­li­cher durch ihre Gegen­wart gelähmt zu wer­den, als es sein wür­de von ihrer Hand zu ster­ben! Sieh mich an, sag­te er zu der Alten; in mei­nen Jah­ren, welch eine elen­den Zustand muß ich erdul­den. Die­sen Har­nisch, den ich mit Ehren im Krie­ge getra­gen, die­sen Pur­pur, den ich durch eine wei­se Regie­rung zu ver­die­nen such­te, hat mir das Schick­sal gelas­sen, jene als eine unnö­ti­ge Last, die­sen als eine unbe­deu­ten­de Zier­de. Kro­ne, Zep­ter und Schwert sind hin­weg, ich bin im übri­gen so nackt und bedürf­tig, als jeder ande­re Erden­sohn, denn so unse­lig wir­ken ihre schö­nen blau­en Augen, daß sie allen leben­di­gen Wesen ihre Kraft neh­men, und daß die­je­ni­gen, die ihre berüh­ren­de Hand nicht tötet, sich in den Zustand leben­dig wan­deln­der Schat­ten ver­setzt fühlen.

So fuhr er fort zu kla­gen und befrie­dig­te die Neu­gier­de der Alten kei­nes­wegs, wel­che nicht sowohl von sei­nem innern als von sei­nem äußern Zustan­de unter­rich­tet sein woll­te. Sie erfuhr weder den Namen sei­nes Vaters noch sei­nes König­rei­ches. Er strei­chel­te den har­ten Mops, den die Son­nen­strah­len und der war­me Busen des Jüng­lings, als wenn er leb­te, erwärmt hat­ten. Er frag­te viel nach dem Mann mit der Lam­pe, nach den Wir­kun­gen des hei­li­gen Lichts und schien sich davon für sei­nen trau­ri­gen Zustand künf­tig viel Gutes zu versprechen.

Unter die­sen Gesprä­chen sahen sie von fer­ne den majes­tä­ti­schen Bogen der Brü­cke, der von einem Ufer zum ande­ren hin­über reich­te, im Glanz der Son­ne auf das wun­der­bars­te schim­mern. Bei­de erstaun­ten, denn sie hat­te die­ses Gebäu­de noch nie so herr­lich gese­hen. Wie! rief der Prinz; war sie nicht schön genug, als sie vor unse­ren Augen wie von Jas­pis und Pra­sem gebaut dastand? Muß man nicht fürch­ten sie zu betre­ten, da sie aus Sma­ragd, Chry­so­pras und Chry­so­lith mit der anmu­tigs­ten Man­nig­fal­tig­keit zusam­men­ge­setzt erscheint? Bei­de wuß­ten nicht die Ver­än­de­rung, die mit der Schlan­ge vor­ge­gan­gen war: denn die Schlan­ge war es, die sich jeden Mit­tag über den Fluß hin­über bäum­te und in Gestalt einer küh­nen Brü­cke dastand. Die Wan­de­rer betra­ten sie mit Ehr­furcht und gin­gen schwei­gend hinüber.

Sie waren kaum am jen­sei­ti­gen Ufer, als die Brü­cke sich zu schwin­gen und zu bewe­gen anfing, in kur­zem die Ober­flä­che des Was­sers berühr­te und die grü­ne Schlan­ge in ihrer eigen­tüm­li­chen Gestalt den Wan­de­rern auf dem Lan­de nach­glei­te­te. Bei­de hat­ten kaum für die Erlaub­nis auf ihrem Rücken über den Fluß zu set­zen gedankt, als sie bemerk­ten, daß außer ihnen drei­en noch meh­re­re Per­so­nen in der Gesell­schaft sein müß­ten, die sie jedoch mit ihren Augen nicht erbli­cken konn­ten,. Sie hör­ten neben sich ein Gezisch, dem die Schlan­ge gleich­falls mit einem Gezisch ant­wor­te­te; sie horch­ten auf und konn­ten end­lich fol­gen­des ver­neh­men: Wir wer­den, sag­ten ein paar wech­seln­de Stim­men, uns erst inko­gni­to in dem Park der schö­nen Lilie umse­hen, und ersu­chen Euch, uns mit Anbruch der Nacht, sobald wir nur irgend prä­sen­ta­bel sind, der voll­kom­me­nen Schön­heit vor­zu­stel­len. An dem Ran­de des gro­ßen Seen wer­det Ihr uns antref­fen. Es bleibt dabei, ant­wor­te­te die Schlan­ge, und ein zischen­der Laut ver­lor sich in der Luft.

Unse­re drei Wan­de­rer bere­de­ten sich nun­mehr, in wel­cher Ord­nung sie bei der Schö­nen vor­tre­ten woll­ten, denn so vie­le Per­so­nen auch um sie sein konn­ten, so durf­ten sie doch nur ein­zeln kom­men und gehen, wenn sie nicht emp­find­li­che Schmer­zen erdul­den sollten.

Das Weib mit dem ver­wan­del­ten Hun­de im Kor­be nah­te sich zuerst dem Gar­ten und such­te ihre Gön­ne­rin auf, die leicht zu fin­den war, weil sie eben zur Har­fe sang; die lieb­li­chen Töne zeig­ten sich erst als Rin­ge auf der Ober­flä­che des stil­len Sees, dann wie ein leich­ter Hauch setz­ten sie Gras und Büsche in Bewe­gung. Auf einem ein­ge­schlos­se­nen grü­nen Plat­ze, in dem Schat­ten einer herr­li­chen Grup­pe man­nig­fal­ti­ger Bäu­me, saß sie und bezau­ber­te beim ers­ten Anblick aufs neue die Augen, das Ohr und das Herz des Wei­bes, das sich ihr mit Ent­zü­cken näher­te und bei sich selbst schwur, die Schö­ne sei wäh­rend ihrer Abwe­sen­heit nur immer schö­ner gewor­den. Schon von wei­tem rief die gute Frau dem lie­bens­wür­di­gen Mäd­chen Gruß und Lob zu. Welch ein Glück Euch anzu­se­hen, welch einen Him­mel ver­brei­tet Eure Gegen­wart um Euch her! Wie die Har­fe so rei­zend in Eurem Scho­ße lehnt, wie Eure Arme sie so sanft umge­ben, wie sie sich nach Eurer Brust zu seh­nen scheint und wie sie unter der Berüh­rung Eurer schlan­ken Fin­ger so zärt­lich klingt! Drei­fach glück­li­cher Jüng­ling, der du ihren Platz ein­neh­men konntest!

Unter die­sen Wor­ten war sie näher gekom­men; die schö­ne Lilie schlug die Augen auf, ließ die Hän­de sin­ken und ver­setz­te: Betrü­be mich nicht durch ein ein unzei­ti­ges Lob, ich emp­fin­de nur des­to stär­ker mein Unglück. Sieh, hier zu mei­nen Füßen liegt der arme Kana­ri­en­vo­gel tot, der sonst mei­ne Lie­der auf das ange­nehms­te beglei­te­te; er war gewöhnt auf mei­ner Har­fe zu sit­zen, und sorg­fäl­tig abge­rich­tet mich nicht zu berüh­ren; heu­te, indem ich vom Schlaf erquickt, ein ruhi­ges Mor­gen­lied anstim­me, und mein klei­ner Sän­ger mun­te­rer als jemals sei­ne har­mo­ni­schen Töne hören läßt, schießt ein Habicht über mei­nem Haup­te hin; das arme klei­ne Tier, erschro­cken, flüch­tet in mei­nen Busen und in dem Augen­blick fühl” ich die letz­ten Zuckun­gen sei­nes schei­den­den Lebens. Zwar von mei­nem Bli­cke getrof­fen schleicht der Räu­ber dort ohn­mäch­tig am Was­ser hin, aber was kann mir sei­ne Stra­fe hel­fen, mein Lieb­ling ist tot, und sein Grab wird nur das trau­ri­ge Gebüsch mei­nes Gar­tens vermehren.

Ermannt Euch, schö­ne Lilie! rief die Frau, indem sie selbst eine Trä­ne abtrock­ne­te, wel­che ihr die Erzäh­lung des unglück­li­chen Mäd­chens aus den Augen gelockt hat­te, nehmt Euch zusam­men, mein Alter läßt Euch sagen, Ihr sollt Eure Trä­ne mäßi­gen, das größ­te Unglück als Vor­bo­te des größ­ten Glücks anse­hen; denn es sei an der zeit; und wahr­haf­tig, fuhr die Alte fort, es geht bunt in der Welt zu. Seht nur mei­ne Hand wie sie schwarz gewor­den ist! Wahr­haf­tig sie ist schon um vie­les klei­ner, ich muß eilen, eh” sie gar ver­schwin­det! War­um mußt” ich den Irr­lich­tern eine Gefäl­lig­keit erzei­gen, war­um mußt” ich dem Rie­sen begeg­nen und war­um mei­ne Hand in den Fluß tau­chen? Könnt Ihr mir nicht ein Kohl­haupt, eine Arti­scho­cke und eine Zwie­bel geben? so bring ich sie dem Flus­se und mei­ne Hand ist weiß wie vor­her, so daß ich sie fast neben die Euri­ge hal­ten könnte.

Kohl­häup­ter und Zwie­beln könn­test du allen­falls noch fin­den: aber Arti­scho­cken suchest du ver­ge­bens. Alle Pflan­zen in mei­nem gro­ßen Gar­ten tra­gen weder Blü­ten noch Früch­te; aber jedes Reis, das ich bre­che und auf das Grab eines Lieb­lings pflan­ze, grünt sogleich und schießt hoch auf. Alle die­se Grup­pen, die­se Büsche, die­se Hai­ne habe ich lei­der wach­sen sehen. Die Schir­me die­ser Pini­en, die Obe­lis­ken die­ser Zypres­sen, die Kolos­se von Eichen und Buchen, alles waren klei­ne Rei­ser, als ein trau­ri­ges Denk­mal von mei­ner Hand in einen sonst unfrucht­ba­ren Boden gepflanzt.

Die Alte hat­te auf die­se Rede wenig acht gege­ben und nur ihre Hand betrach­tet, die in der Gegen­wart der schö­nen Lilie immer schwär­zer und von Minu­te zu Minu­te klei­ner zu wer­den schien. Sie woll­te ihren Korb neh­men und eben fort­ei­len, als sie fühl­te, daß sie das Bes­te ver­ges­sen hat­te. Sie hub sogleich den ver­wan­del­ten Hund her­aus und setz­te ihn nicht weit von der Schö­nen ins Gras. Mein Mann, sag­te sie, schickt Euch die­ses Andenken, Ihr wißt, daß Ihr die­sen Edel­stein durch Eure Berüh­rung bele­ben könnt. Das arti­ge treue Tier wird Euch gewiß viel Freu­de machen, und die Betrüb­nis, daß ich ihn ver­lie­re, kann nur durch den Gedan­ken auf­ge­hei­tert wer­den, daß Ihr ihn besitzt.

Die schö­ne Lilie sah das arti­ge Tier mit Ver­gnü­gen und, wie es schien, mit Ver­wun­de­rung an. Es kom­men vie­le Zei­chen zusam­men, sag­te sie, die mir eini­ge Hoff­nung ein­flö­ßen; aber ach! ist es nicht bloß ein Wahn unse­rer Natur, daß wir dann, wenn vie­les Unglück zusam­men­trifft, uns vor­bil­den das Bes­te sei nah.

Was hel­fen mir die vie­len guten Zeichen?Des Vogels Tod, der Freun­din schwar­ze Hand?Der Mops von Edel­stein, hat er wohl seinesgleichen?Und hat ihn nicht die Lam­pe mir gesandt?Entfernt vom süßen mensch­li­chen Genusse,Bin ich doch mit dem Jam­mer nur vertraut.Ach! war­um steht der Tem­pel nicht am Flusse!Ach! war­um ist die Brü­cke nicht gebaut!

Unge­dul­dig hat­te die gute Frau die­sem Gesan­ge zuge­hört, den die schö­ne Lilie mit den ange­neh­men Tönen ihrer Har­fe beglei­te­te und er jeden ande­ren ent­zückt hät­te. Eben woll­te sie sich beur­lau­ben, als sie durch die Ankunft der grü­nen Schlan­ge aber­mals abge­hal­ten wur­de. Die­se hat­te die letz­ten Zei­len des Lie­des gehört und sprach des­halb der schö­nen Lilie sogleich zuver­sicht­lich Mut ein.

Die Weis­sa­gung von der Brü­cke ist erfüllt! rief sie aus; fragt nur die­se gute Frau wie herr­lich der Bogen gegen­wär­tig erscheint. Was sonst undurch­sich­ti­ger Jap­sis, was nur eine Pra­sem war, durch den das Licht höchs­tens auf den Kan­ten durch­schim­mer­te, ist nun durch­sich­ti­ger Edel­stein gewor­den. Kein Breyll ist so klar und kein Sma­ragd so schönfarbig.

Ich wün­sche Euch Glück dazu, sag­te die Lilie, allein ver­zei­het mir, wenn ich die Weis­sa­gung noch nicht erfüllt glau­be. Über den hohen Bogen Eurer Brü­cke kön­nen nur Fuß­gän­ger hin­über schrei­ten und es ist uns ver­spro­chen, daß Pfer­de und Wagen und Rei­sen­de aller Art zu glei­cher Zeit über die Brü­cke her­über und hin­über wan­dern sol­len. Ist nicht von den gro­ßen Pfei­lern geweis­sagt, die aus dem Flus­se selbst her­aus­stei­gen werden?

Die Alte hat­te ihre Augen immer auf die Hand gehef­tet, unter­brach hier das Gespräch und emp­fahl sich. Ver­weilt noch einen Augen­blick, sag­te die schö­ne Lilie, und nehmt mei­nen armen Kana­ri­en­vo­gel mit. Bit­tet die Lam­pe, daß sie ihn in einen schö­nen Topas ver­wand­le, ich will ihn durch mei­ne Berüh­rung bele­ben und er, mit Eurem guten Mops, soll mein mein bes­ter Zeit­ver­treib sein; aber eilt was ihr könnt, denn mit Son­nen­un­ter­gang ergreift unleid­li­che Fäul­nis das arme Tier und zer­reißt den schö­nen Zusam­men­hang sei­ner Gestalt auf ewig.

Die Alte leg­te den klei­nen Leich­nam zwi­schen zar­te Blät­ter in den Korb und eil­te davon.

Wie dem auch sei, sag­te die Schlan­ge, indem sie das abge­spro­che­ne Gespräch fort­setz­te, der Tem­pel ist erbauet.

Er steht aber noch im Flus­se, ver­setz­te die Schöne.

Noch ruht er in den Tie­fen der Erde, sag­te die Schlan­ge; ich habe die Köni­ge gese­hen und gesprochen.

Aber wann wer­den sie auf­stehn? frag­te Lilie.

Die Schlan­ge ver­setz­te: Ich hör­te die gro­ßen Wor­te im Tem­pel ertö­nen: es ist an der Zeit.

Eine ange­neh­me Hei­ter­keit ver­brei­te­te sich über das Ange­sicht der Schö­nen. Höre doch, sag­te sie, die glück­li­chen Wor­te schon heu­te zum zwei­ten­mal; wann wird der Tag kom­men, an dem ich sie drei­mal höre?

Sie stand auf und sogleich trat ein rei­zen­des Mäd­chen aus dem Gebüsch, das ihr die Har­fe abnahm. Die­ser folg­te eine and­re, die den elfen­bei­ner­nen geschnitz­ten Feld­stuhl, wor­auf die Schö­ne geses­sen hat­te, zusam­men­schlug und das sil­ber­ne Kis­sen unter den Arm nahm. Eine drit­te, die einen gro­ßen, mit Per­len gestick­ten Son­nen­schirm trug, zeig­te sich dar­auf, erwar­tend, ob Lilie auf einem Spa­zier­gan­ge etwa ihrer bedür­fe. Über allen Aus­druck schön und rei­zend waren die­se drei Mäd­chen, und doch erhöh­ten sie nur die Schön­heit der Lilie, indem sich jeder geste­hen muß­te, daß sie mit ihr gar nicht ver­gli­chen wer­den konnten.

Mit Gefäl­lig­keit hat­te indes die schö­ne Lilie den wun­der­ba­ren Mops betrach­tet. Sie beug­te sich, berühr­te ihn und in dem Augen­blick sprang er auf. Mun­ter sah er sich um, lief hin und wider und eil­te zuletzt sei­ne Wohl­tä­te­rin auf das freund­lichs­te zu begrü­ßen. Sie nahm ihn auf die Arme und drück­te ihn an sich. So kalt du bist, rief sie aus, und obgleich nur ein hal­bes Leben in dir wirkt, bist du mir doch will­kom­men; zärt­lich will ich dich lie­ben, artig mit dir scher­zen, freund­lich dich strei­cheln, und fest dich an mein Herz drü­cken. Sie ließ ihn dar­auf los, jag­te ihn von sich, rief ihn wie­der, scherz­te so artig mit ihm und trieb sich so mun­ter und unschul­dig mit ihm in dem Gra­se her­um, daß man mit neu­em Ent­zü­cken ihre Freu­de betrach­ten und teil dar­an neh­men muß­te, so wie kurz vor­her ihre Trau­ern­des Herz zum Mit­leid gestimmt hatte.

Die­se Hei­ter­keit, die­se anmu­ti­gen Scher­ze wur­den durch die Ankunft des trau­ri­gen Jüng­lings unter­bro­chen. Er trat her­ein, wie wir ihn schon ken­nen, nur schien die Hit­ze des Tages ihn noch mehr abge­mar­tert zu haben, und in der Gegen­wart der Gelieb­ten ward er mit jedem Augen­bli­cke bläs­ser. Er trug den Habicht auf sei­ner Hand, der wie eine Tau­be ruhig saß und die Flü­gel hän­gen ließ.

Es ist nicht freund­lich, rief Lilie ihm ent­ge­gen, daß du mir das ver­haß­te Tier vor die Augen bringst, das Unge­heu­rer, das mei­nen klei­nen Sän­ger heu­te getö­tet hat.

Schilt den unglück­li­chen Vogel nicht! ver­setz­te dar­auf der Jüng­ling; kla­ge viel­mehr dich an und das Schick­sal, und ver­gön­ne mir, daß ich mit dem Gefähr­ten mei­nes Elends Geschäf­te mache.

Indes­sen hör­te der Mops nicht auf, die Schö­ne zu necken, und sie ant­wor­te­te dem durch­sich­ti­gen Lieb­ling mit dem freund­li­chen Betra­gen. Sie klatsch­te mit den Hän­den, um ihn zu ver­scheu­chen; dann lief sie, um ihn wie­der nach sich zu zie­hen. Sie such­te ihn zu haschen, wenn er floh, und jag­te ihn von sich weg, wenn er sich an sie zu drän­gen ver­such­te. Der Jüng­ling sah still­schwei­gend und mit wach­sen­dem Ver­drus­se zu; aber end­lich, da sie häß­li­che Tier, das ihm ganz abscheu­lich vor­kam, auf den Arm nahm, an ihren wei­ßen Busen drück­te und die schwar­ze Schnau­ze mit ihren himm­li­schen Lip­pen küß­te, ver­ging ihm alle Geduld und er rief vol­ler Ver­zweif­lung aus: Muß­te ich, der durch ein trau­ri­ges Geschick vor dir, viel­leicht auf immer, in einer getrenn­ten Gegen­wart lebe, der ich durch dich alles, auch mich selbst, ver­lo­ren habe, muß ich vor dei­nen Augen sehen, daß eine so wider­na­tür­li­che Miß­ge­burt dich zur Freu­de rei­zen, dei­ne Nei­gung fes­seln und dei­ne Umar­mung genie­ßen kann! Soll ich noch län­ger nur so hin- und wie­der­ge­ben??? und den trau­ri­gen Kreis den Fluß her­über und hin­über abmes­sen? Nein, es ruht noch ein Fun­ke des alten Hel­den­mu­tes in mei­nem Busen; er schla­ge in die­sem Augen­blick zur letz­ten Flam­me auf! Wenn Stei­ne an dei­nem Busen ruhen kön­nen, so möge ich zu Stein wer­den; wenn dei­ne Berüh­rung tötet, so will ich in dei­nen Hän­den sterben.

Mit die­sen Wor­ten mach­te er eine hef­ti­ge Bewe­gung; der Habicht flog von sei­ner Hand, er aber stürz­te auf die Schö­ne los, sie streck­te die Hän­de aus, ihn abzu­hal­ten und berühr­te ihn nur des­to frü­her. Das Bewußt­sein ver­ließ ihn, und mit Ent­set­zen fühl­te sie die schö­ne Last an ihrem Busen. Mit einem Schrei trat sie zurück, und der hol­de Jüng­ling sank ent­seelt aus ihren Armen zur Erde.

Das Unglück war gesche­hen! Die süße Lilie stand unbe­weg­lich und blick­te starr nach dem ent­seel­ten Leich­nam. Das Herz schien ihr im Busen zu sto­cken und ihre Augen waren ohne Trä­nen. Ver­ge­bens such­te der Mops ihr eine freund­li­che Bewe­gung abzu­ge­win­nen; die gan­ze Welt war mit ihrem Freun­de aus­ge­stor­ben. Ihre stum­me Ver­zweif­lung sah sich nach Hül­fe nicht um, denn sie kann­te kei­ne Hülfe.

Dage­gen reg­te die Schlan­ge des­to emsi­ger; sie schien auf Ret­tung zu sin­nen, und wirk­lich dien­ten ihre son­der­ba­ren Bewe­gun­gen wenigs­tens die nächs­ten schreck­li­chen Fol­gen des Unglücks auf eine Zeit zu hin­dern. Sie zog mit ihrem geschmei­di­gen Kör­per einen wei­ten Kreis um den Leich­nam, faß­te das Ende ihres Schwan­zes mit den Zäh­nen und blieb ruhig liegen.

Nicht lan­ge, so trat eine der schö­nen Die­ne­rin­nen Lili­ens her­vor, brach­te den elfen­bei­ner­nen Feld­stuhl, und nötig­te, mit freund­li­chen Gebär­den, die Schö­ne sich zu set­zen; bald dar­auf kam die zwei­te, die einen feu­er­far­bi­gen Schlei­er trug und das Haupt ihrer Gebie­te­rin damit mehr zier­te als bedeck­te; die drit­te über­gab ihr die Har­fe, und kaum hat­te sie das präch­ti­ge Instru­ment an sich gedrückt, und eini­ge Töne aus den Sai­ten her­vor­ge­lockt, als die ers­te mit einem hel­len run­den Spie­gel zurück­kam, sich der Schö­nen gegen­über stell­te, ihre Bli­cke auf­fing und ihr das ange­nehms­te Bild, das in der Natur zu fin­den war, dar­stell­te. Der Schmerz erhöh­te ihre Schön­heit, der Schlei­er ihre Rei­ze, die Har­fe ihre Anmut, und so sehr man hoff­te ihre trau­ri­ge Lage ver­än­dert zu sehen, so sehr wünsch­te man ihr Bild ewig, wie es gegen­wär­tig erschien, festzuhalten.

Mit einem stil­len Blick nach dem Spie­gel lock­te die bald schmel­zen­de Töne aus den Sai­ten, bald schien ihr Schmerz zu stei­gen, und die Sai­ten ant­wor­te­ten gewalt­sam mit ihrem Jam­mer; eini­ge­mal eröff­ne­te sie den Mund zu sin­gen, aber die Stim­me ver­sag­te ihr, doch bald lös­te sich ihr Schmerz in Trä­nen auf, zwei Mäd­chen, faß­ten sie hülf­reich in die Arme, die Har­fe sank aus ihrem Scho­ße, kaum ergriff noch die schnel­le Die­ne­rin das Instru­ment und trug es beiseite.

Wer schafft uns den Mann mit der Lam­pe, ehe die Son­ne unter­geht? zisch­te die Schlan­ge lei­se, aber ver­nehm­lich; die Mäd­chen sahen ein­an­der an, und Lili­ens Trä­nen ver­mehr­ten sich. In die­sem Augen­bli­cke kam atem­los die Frau mit dem Kor­be zurück. Ich bin ver­lo­ren und ver­stüm­melt, rief sie aus! seht wie mei­ne Hand bei­na­he ganz weg­ge­schwun­den ist; weder der Fähr­mann noch der Rie­se woll­ten mich über­set­zen, weil ich noch eine Schuld­ne­rin des Was­sers bin; ver­ge­bens habe ich hun­dert Kohl­häup­ter und hun­dert Zwie­beln ange­bo­ten, man will nicht mehr als die drei Stü­cke, und kei­ne Arti­scho­cke ist nun ein­mal in die­sen Gegen­den zu finden.

Ver­geßt Eure Not, sag­te die Schlan­ge, und sucht hier zu hel­fen; viel­leicht kann Euch zugleich mit­ge­hol­fen wer­den. Eilt was ihr könnt die Irr­lich­ter auf­zu­su­chen, es ist noch zu hell sie zu sehen, aber viel­leicht hört ihr sie lachen und flat­tern. Wenn sie eilen, so setzt sie der Rie­se noch über den Fluß, und sie kön­nen den Mann mit der Lam­pe fin­den und schicken.

Das Weib eil­te so viel sie konn­te, und die Schlan­ge schien eben­so unge­dul­dig als Lilie die Rück­kunft der bei­den zu erwar­ten. Lei­der ver­gol­de­te schon der Strahl der sin­ken­den Son­ne nur den höchs­ten Gip­fel der Bäu­me des Dickichts, und lan­ge Schat­ten zogen sich über See und Wie­se; die Schlan­ge beweg­te sich unge­dul­dig und Lilie zer­floß in Tränen.

In die­ser Not sah die Schlan­ge sich über­all um, denn sie fürch­te­te jeden Augen­blick, die Son­ne wer­de unter­ge­hen, die Fäul­nis den magi­schen Kreis durch­drin­gen und den schö­nen Jüng­ling unauf­halt­sam anfal­len. end­lich erblick­te sie hoch in den Lüf­ten, mit pur­pur­ro­ten Federn den Habicht, des­sen Brust die letz­ten Strah­len der Son­ne auf­fing. Sie schüt­tel­te sich vor Freu­den über das gute Zei­chen, und sie betrog sich nicht; denn kurz dar­auf sah man den Mann mit der Lam­pe über den See her­glei­ten, gleich als wenn er auf Schlitt­schu­hen ginge.

Die Schlan­ge ver­än­der­te nicht ihre Stel­le, aber die Lilie stand auf und rief ihm zu: Wel­cher gute Geist sen­det dich in dem Augen­blick, da wir so sehr nach dir ver­lan­gen und dei­ner so sehr bedürfen?

Der Geist mei­ner Lam­pe, ver­setz­te der Alte, treibt mich und der Habicht führt mich hier­her. Sie sprat­z­elt??? wenn man mei­ner bedarf, und ich sehe mich nur in den Lüf­ten nach einem Zei­chen um; irgend­ein Vogel oder Mete­or zeigt mir die Him­mels­ge­gend an, wohin ich mich wen­den soll. Sei ruhig, schöns­tes Mäd­chen! Ob ich hel­fen kann weiß ich nicht, ein ein­zel­ner hilft nicht, son­dern wer sich mit vie­len zur rech­ten Stun­de ver­ei­nigt. Auf­schie­ben wol­len wir und hof­fen. Hal­te dei­nen Kreis geschlos­sen, fuhr er fort, indem er sich an die Schlan­ge wen­de­te, sich auf einen Erd­hü­gel neben sie hin­setz­te und den toten Kör­per beleuch­te­te. Bringt den arti­gen Kana­ri­en­vo­gel auch her und leget ihn in den Kreis! Die Mäd­chen nah­men den klei­nen Leich­nam aus dem Kor­be, den die Alte ste­hen ließ, und gehorch­tem dem Manne.

Die Son­ne war indes­sen unter­ge­gan­gen, und wie die Fins­ter­nis zunahm, fing nicht allein die Schlan­ge und die Lam­pe des Man­nes nach ihrer Wei­se zu leuch­ten an, son­dern der Schlei­er Lili­ens gab auch ein sanf­tes Licht von sich, das wie eine zar­te Mor­gen­rö­te ihre blas­sen Wan­gen und ihr wei­ßes Gewand mit einer unend­li­chen Anmut färb­te. Man sah sich wech­sel­wei­se mit stil­ler Betrach­tung an, Sor­ge und Trau­er waren durch eine siche­re Hoff­nung gemildert.

Nicht unan­ge­nehm erschien daher das alte Weib in Gesell­schaft der bei­den mun­te­ren Flam­men, die zwar zeit­her sehr ver­schwen­det haben muß­ten, denn sie waren weder äußerst mager gewor­den, aber sich nur des­to arti­ger gegen die Prin­zes­sin und die übri­gen Frau­en­zim­mer betru­gen. Mit der größ­ten Sicher­heit und mit vie­lem Aus­druck sag­ten sie ziem­lich gewöhn­li­che Sachen, beson­ders zeig­ten sie sich sehr emp­fäng­lich für den Reiz, den der leuch­ten­de Schlei­er über Lili­en und ihre Beglei­te­rin­nen ver­brei­te­te. Beschei­den schlu­gen die Frau­en­zim­mer ihre Augen nie­der und das Lob ihrer Schön­heit ver­schö­ner­te sie wirk­lich. Jeder­mann war zufrie­den und ruhig bis auf die Alte. Unge­ach­tet der Ver­si­che­rung ihres Man­nes, daß ihre Hand nicht wei­ter abneh­men kön­ne solan­ge sie von sei­ner Lam­pe beschie­nen sei, behaup­te­te sie mehr als ein­mal, daß, wenn es so fort­ge­he, noch vor Mit­ter­nacht die­ses edle Glied völ­lig ver­schwin­den werde.

Der Alte mit der Lam­pe hat­te dem Gespräch der Irr­lich­ter auf­merk­sam zuge­hört und war ver­gnügt, daß Lilie durch die­se Unter­hal­tung zer­streut und auf­ge­hei­tert wor­den. Und wirk­lich war Mit­ter­nacht her­bei­ge­kom­men man wuß­te nicht wie. Der Alte sah nach den Ster­nen und fing dar­auf zu reden an: Wir sind zur glück­li­chen Stun­de bei­sam­men, jeder ver­rich­te sein Amt, jeder tue sei­ne Pflicht und ein all­ge­mei­nes Glück wird die ein­zel­nen Schmer­zen in sich auf­lö­sen, wie ein all­ge­mei­nes Unglück ein­zel­ne Freu­den verzehrt.

Nach die­sen Wor­ten ent­stand ein wun­der­ba­res Geräusch, denn alle gegen­wär­ti­gen Per­so­nen spra­chen für sich und drück­ten laut aus was sie zu tun hät­ten, nur die drei Mäd­chen waren stil­le; ein­ge­schla­fen war die eine neben der Har­fe, die ande­re neben dem Son­nen­schirm, die drit­te neben dem Ses­sel, und man konn­te es ihnen nicht ver­den­ken, denn es war spät. Die flam­men­den Jüng­lin­ge hat­ten nach eini­gen vor­über­ge­hen­den Höf­lich­kei­ten, die sie auch den Die­ne­rin­nen gewid­met, sich doch zuletzt nur an Lili­en, als die Aller­schöns­te, gehalten.

Fas­se, sag­te der Alte zum Habicht, den Spie­gel, und mit dem ers­ten Son­nen­strahl beleuch­te­te die Schlä­fe­rin­nen und weck­te sie mit zurück­ge­wor­fe­nem Lich­te aus der Höhe.

Die Schlan­ge fing nun­mehr an sich zu bewe­gen, lös­te den Kreis auf und zog lang­sam in gro­ßen Rin­gen nach dem Flus­se. Fei­er­lich folg­ten ihr die bei­den Irr­lich­ter, und man hät­te sie für die ernst­haf­tes­ten Flam­men hal­ten sol­len. Die Alte und der Mann ergrif­fen den Korb, des­sen sanf­tes Licht man bis­her kaum bemerkt hat­te, sie zogen von bei­den Sei­ten dar­an, und er ward immer grö­ßer und leuch­ten­der, sie hoben dar­auf den Leich­nam des Jüng­lings hin­ein und leg­ten ihm den Kana­ri­en­vo­gel auf die Brust, der Korb hob sich in die Höhe und schweb­te über dem Haup­te der Alten und sie folg­te den Irr­lich­tern auf dem Fuße. Die schö­ne Lilie nahm den Mops auf ihren Arm und folg­te der Alten, der Mann mit der Lam­pe beschlos?? den Zug, und die Gegend war von die­sen vie­ler­lei Lich­tern auf das son­der­bars­te erhellt.

Aber mit nicht gerin­ger Bewun­de­rung sah die Gesell­schaft, als sie zu dem Flus­se gelang­te, einen herr­li­chen Bogen über den­sel­ben hin­über­stei­gen, wodurch die wohl­tä­ti­ge Schlan­ge ihnen einen glän­zen­den Weg berei­te­te. Hat­te man bei Tage die durch­sich­ti­gen Edel­stei­ne bewun­dert, wor­aus die Brü­cke zusam­men­ge­setzt schien, so erstaun­te man bei Nacht über ihre leuch­ten­de Herr­lich­keit. Ober­wärts?? schnitt sich der hel­le Kreis scharf an dem dunk­len Him­mel ab, aber unter­wärts zuck­ten leb­haf­te Strah­len nach dem Mit­tel­punk­te zu und zeig­ten die beweg­li­che Fes­tig­keit des Gebäu­des. Der Zug ging lang­sam hin­über, und der Fähr­mann, der von fer­ne aus sei­ner Hüt­te her­vor­sah, betrach­te­te mit Stau­nen den leuch­ten­den Kreis und die son­der­ba­ren Lich­ter, die dar­über zogen.

Kaum waren sie dem ande­ren Ufer ange­langt, als der Bogen nach sei­ner Wei­se zu schwan­ken und sich wel­len­ar­tig dem Was­ser zu nähern anfing. Die Schlan­ge beweg­te sich bald dar­auf ans Land, der Korb setz­te sich zur Erde nie­der, und die Schlan­ge zog aufs neue ihren Kreis umher, der Alte neig­te sich vor ihr und sprach: Was hast du beschlossen?

Mich auf­zu­op­fern, ehe ich auf­ge­op­fert wer­de, ver­setz­te die Schlan­ge; ver­sprich mir, daß du kei­nen Stein am Lan­de las­sen willst.

Der Alte versprach“s und sag­te dar­auf zur schö­nen Lilie: Rüh­re die Schlan­ge mit der lin­ken Hand an und dei­nen Gelieb­ten mit der rech­ten. Lilie knie­te nie­der und berühr­te die Schlan­ge und den Leich­nam. Im Augen­bli­cke schien die­ser in das Leben über­zu­ge­hen, er beweg­te sich im Kor­be, ja er rich­te­te sich in die Höhe und saß; Lilie woll­te ihn umar­men, allein der Alte hielt sie zurück, er half dage­gen dem Jüng­ling auf­stehn und lei­te­te ihn, indem er aus dem Kor­be und dem Krei­se trat.

Der Jüng­ling stand, der Kana­ri­en­vo­gel flat­ter­te auf sei­ner Schul­ter, es war wie­der Leben in bei­den, aber der Geist war noch nicht zurück­ge­kehrt; der schö­ne Freund hat­te die Augen offen und sah nicht, wenigs­tens schien er alles ohne Teil­neh­mung anzu­sehn, und kaum hat­te sich die Ver­wun­de­rung über die­se Bege­ben­heit in etwas gemä­ßigt, als man erst bemerk­te, wie son­der­bar die Schlan­ge sich ver­än­dert hat­te. Ihr schö­ner schlan­ker Kör­per war in tau­send und tau­send leuch­ten­de Edel­stei­ne zer­fal­len; unvor­sich­tig hat­te die Alte, die nach ihrem Kor­be grei­fen woll­te, an sie gesto­ßen, und man sah nichts mehr von der Bil­dung der Schlan­ge, nur ein schö­ner Kreis leuch­ten­der Edel­stei­ne lag im Grase.

Der Alte mach­te sogleich Anstalt, die Stei­ne in den Korb zu fas­sen, wozu ihm sei­ne Frau behül­f­lich sein muß­te. Bei­de tru­gen dar­auf den Korb gegen das Ufer an einen erha­be­nen Ort, und er schüt­te­te die gan­ze Ladung, nicht ohne Wider­wil­len der Schö­nen und sei­nes Wei­bes, der ger­ne davon sich etwas aus­ge­sucht hät­ten, in den Fluß. Wie leuch­ten­de und blin­ken­de Ster­ne schwam­men die Stei­ne mit den Wllen hin, und man konn­te nicht unter­schei­den, ob sie sich in der Fer­ne ver­lo­ren oder untersanken.

Mei­ne Her­ren, sag­te dar­auf der Alte ehr­erbie­tig zu den Irr­lich­tern, nun­mehr zei­ge ich Ihnen den Weg und eröff­ne den Gang, aber Sie leis­ten uns den größ­ten Dienst, wenn Sie uns die Pfor­te des Hei­lig­tums öff­nen, durch die wir ein­mal ein­ge­hen müs­sen und die außer Ihnen nie­mand auf­schlie­ßen kann.

Die Irr­lich­ter neig­ten sich anstän­dig und blie­ben zurück. Der Alte mit der Lam­pe ging vor­aus in den Fel­sen, der sich vor ihm auf­tat; der Jüng­ling folg­te ihm, gleich­sam mecha­nisch; still und unge­wiß hielt sich Lilie in eini­ger Ent­fer­nung hin­ter ihm; die Alte woll­te nicht ger­ne zurück­blei­ben und streck­te ihre Hand aus, damit ja das Licht von ihres Man­nes Lam­pe sie erleuch­ten kön­ne. nun schlos­sen die Irr­lich­ter den Zug, indem sie die Spit­zen ihrer Flam­men zusam­men­neig­ten und mit­ein­an­der zu spre­chen schienen.

Sie waren nicht lan­ge gegan­gen, als der Zug sich vor einem gro­ßen eher­nen Tore befand, des­sen Flü­gel mit einem gol­de­nen Schloß ver­schlos­sen waren. Der Alte rief sogleich die Irr­lich­ter her­bei, die sich nicht lan­ge auf­mun­tern lie­ßen, son­dern geschäf­tig mit ihren spit­zes­ten Flam­men Schloß und Rie­gel aufzehrten.

Laut tön­te das Erz, als die Pfor­ten schnell auf­spran­gen und im Hei­lig­tum die wür­di­gen Bil­der der Köni­ge, durch die her­ein­tre­ten­den Lich­ter beleuch­tet, erschie­nen. jeder neig­te sich vor den ehr­wür­di­gen Herr­schern, beson­ders lie­ßen es die Irr­lich­ter an krau­sen Ver­beu­gun­gen nicht fehlen.

Nach eini­ger Pau­se frag­te der gol­de­ne König: Woher kommt ihr? – Aus der Welt, ant­wor­te­te der Alte. Wohin geht ihr? frag­te der sil­ber­ne König. – In die Welt, sag­te die Alte. – Was wollt ihr bei uns? frag­te der eher­ne König. – Euch beglei­ten, sag­te der Alte.

Der gemisch­te König woll­te eben zu reden anfan­gen, als der gold­ne zu den Irr­lich­tern, die ihm zu nahe gekom­men waren, sprach: Hebet euch weg von mir, mein Gold ist nicht für euren Gaum. Sie wand­ten sich dar­auf zum sil­ber­nen und schmieg­ten sich an ihn, sein Gewand glänz­te schön von ihrem gelb­li­chen Wider­schein. Ihr seid mir will­kom­men, sag­te er, aber ich kann euch nicht ernäh­ren; sät­tigt euch aus­wärts und bringt mir euer Licht. Sie ent­fern­ten sich und schli­chen, bei dem eher­nen vor­bei, der sie nicht zu bemer­ken schien, auf den zusam­men­ge­setz­ten los. Wer wird die Welt beherr­schen? rief die­ser mit stot­tern­der Stim­me. – Wer auf sei­nen Füßen steht, ant­wor­te­te der Alte.- Das bin ich! sag­te der gemisch­te König.- Es wird sich offen­ba­ren, sag­te der Alte, denn es ist an der Zeit.

Die schö­ne Lilie fiel dem Alten um den Hals und küß­te ihn aufs herz­lichs­te. Hei­li­ger Vater, sag­te sie, tau­send­mal dank” ich dir, denn ich höre das ahnungs­volls­te Wort zum drit­ten­mal. Sie hat­te kaum aus­ge­re­det, als sie sich noch fes­ter an den Alten anhielt, denn der Boden fing unter ihnen an zu schwan­ken, die Alte und der Jüng­ling hiel­ten sich auch anein­an­der, nur die beweg­li­chen Irr­lich­ter merk­ten nichts.

Man konn­te deut­lich füh­len, daß der gan­ze Tem­pel sich beweg­te, wie ein Schiff das sich sanft aus dem Hafen ent­fernt, wenn die Anker gelich­tet sind; die Tie­fen der Erde schie­nen sich vor ihm auf­zu­tun als er hin­durch zog. Er stieß nir­gends an, kein Fel­sen stand ihm in dem Weg.

Weni­ge Augen­bli­cke schien ein fei­ner Regen durch die Öff­nung der Kup­pel her­ein­zu­rie­seln; der Alte hielt die schö­ne Lilie fes­ter und sag­te zu ihr: Wir sind unter dem Flus­se und bald am Ziel. Nicht lan­ge dar­auf glaub­ten sie still­zu­stehn, doch sie betro­gen sich; der Tem­pel stieg aufwärts.

Nun ent­stand ein selt­sa­mes Getö­se über ihrem Haup­te. Bret­ter und Bal­ken, in unge­stal­ter Ver­bin­dung, began­nen sich zu der Öff­nung der Kup­pel kra­chend her­ein­zu­drän­gen. Lilie und der Alte spran­gen zur Sei­te, der Mann mit der Lam­pe faß­te den Jüng­ling und blieb ste­hen. Die klei­ne Hüt­te des Fähr­manns, denn sie war es, die der Tem­pel, im Auf­stei­gen, vom Boden abge­son­dert und in sich auf­ge­nom­men hat­te, sank all­mäh­lich her­un­ter und bedeck­te den Jüng­ling und den Alten.

Die Wei­ber schrien laut, und der Tem­pel schüt­ter­te wie ein Schiff, das unver­mu­tet ans Land stößt. Ängst­lich irr­ten die Frau­en in der Däm­me­rung um die Hüt­te, die Türe war ver­schlos­sen und auf ihr Pochen hör­te nie­mand. Sie poch­ten hef­ti­ger und wun­der­ten sich nicht wenig, als zuletzt das Holt zu klin­gen anfing. Durch die Kraft der ver­schlos­se­nen Lam­pe war die Hüt­te von innen her­aus zu Sil­ber gewor­den. Nicht lan­ge, so ver­än­der­te sie sogar ihre Gestalt; denn das edle Metall ver­ließ die zufäl­li­gen For­men der Bret­ter, Pfos­ten und Bal­ken, und dehn­te sich zu einem herr­li­chen Gehäu­se von getrie­be­ner Arbeit aus. Nun stand ein herr­li­cher klei­ner Tem­pel in der Mit­te des gro­ßen, oder wenn man will, ein Altar des Tem­pels würdig.

Durch eine Trep­pe, die von innen her­auf­ging, trat nun­mehr der edle Jüng­ling in die Höhe, der Mann mit der Lam­pe leuch­te­te ihm, und ein ande­rer schien ihn zu unter­stüt­zen, der in einem wei­ßen kur­zen Gewand her­vor­kam und ein sil­ber­nes Ruder in der Hand hielt; man erkann­te in ihm sogleich den Fähr­mann, den ehe­ma­li­gen Bewoh­ner der ver­wan­del­ten Hütte.

Die schö­ne Lilie stieg die äuße­rern Stu­fen hin­auf, die von dem Tem­pel auf den Altar führ­ten, aber noch immer muß­te sie sich von ihrem Gelieb­ten ent­fernt hal­ten. Die alte, deren Hand, solan­ge die Lam­pe ver­bor­gen gewe­sen, immer klei­ner gewor­den war, rief: Soll ich doch noch unglück­lich wer­den? Ihr Mann deu­te­te nach der offe­nen Pfor­te und sag­te: Sie­he, der Tag bricht an, eile und bade dich im Flus­se. – Welch ein Rat! rief sie, ich soll wohl ganz schwarz wer­den und ganz ver­schwin­den, habe ich doch mei­ne Schuld noch nicht bezahlt. – Gehe, sag­te der Alte, und fol­ge mir! Alle Schul­den sind abgetragen.

Die Alte eil­te weg, und in dem Augen­blick erschien das Licht der auf­ge­hen­den Son­ne an dem Kran­ze der Kup­pel, der Alte trat zwi­schen den Jüng­ling und die Jung­frau und rief mit lau­ter Stim­me: Drei sind die da herr­schen auf erden: die Weis­heit, der Schein und die Gewalt. Bei dem ers­ten Wor­te stand der gold­ne König auf, bei dem zwei­ten der sil­ber­ne und bei dem drit­ten hat­te sich der eher­ne lang­sam empor­ge­ho­ben, als der zusam­men­ge­setz­te König sich plötz­lich unge­schickt niedersetzte.

Wer ihn sah, konn­te sich, unge­ach­tet des fei­er­li­chen Augen­blicks, kaum des Lachens ent­hal­ten, denn er saß nicht, er lag nicht, er lehn­te sich nicht an, son­dern er war förm­lich zusammengesunken.

Die Irr­lich­ter, die sich bis­her um ihn beschäf­tigt hat­ten, tra­ten zur Sei­te; sie schie­nen, obgleich blaß beim Mor­gen­lich­te, doch wie­der gut genährt und wohl bei Flam­men; sie hat­ten auf eine geschick­te Wei­se die gol­de­nen Adern des kolos­sa­len Bil­des mit ihren spit­zen Zun­gen bis aufs inners­te her­aus­ge­leckt. Die unre­gel­mä­ßi­gen lee­ren Räu­me, die dadurch ent­stan­den waren, erhiel­ten sich eine Zeit­lang offen und die Figur blieb in ihrer vori­gen Gestalt. Als aber auch zuletzt die zar­tes­ten Äder­chen auf­ge­zehrt waren, brach auf ein­mal das Bild zusam­men und lei­der gera­de an den Stel­len, die ganz blei­ben, wenn der Mensch sich setzt; dage­gen blie­ben die Gelen­ke, die sich hät­ten bie­gen sol­len, steif. Wer nicht lachen konn­te, muß­te sei­ne Augen weg­wen­den; das Mit­tel­ding zwi­schen Form und Klum­pen war wider­wär­tig anzusehn.

Der Mann mit der Lam­pe führ­te nun­mehr den schö­nen, aber immer noch starr vor sich hin­bli­cken­den Jüng­ling vom Alta­re her­ab und gera­de auf den eher­nen König los. Zu den Füßen des mäch­ti­gen Fürs­ten lag ein Schwert, in eher­ner Schei­de. Der Jüng­ling gür­te­te sich. – Das Schwert an der Lin­ken, die Rech­te frei! rief der gewal­ti­ge König. Sie gin­gen dar­auf zum sil­ber­nen, der sein Zep­ter gegen den Jüng­ling neig­te. Die­ser ergriff es mit der lin­ken Hand, und der König sag­te mit gefäl­li­ger Stim­me: Wei­de die Scha­fe! Als sie zum gol­de­nen König kamen, drück­te er mit väter­lich seg­nen­der Gebär­de den Jüng­ling den Eichen­kranz aufs Haupt und sprach: Erken­ne das Höchste!

Der Alte hat­te wäh­rend die­ses Umgangs den Jüng­ling genau bemerkt. Nach umgür­te­ten Schwert hob sich sei­ne Brust, sei­ne Arme reg­ten sich und sei­ne Füße tra­ten fes­ter auf; indem er den Zep­ter in die Hand nahm, schien sich die Kraft zu mil­dern und durch einen unaus­sprech­li­chen Reiz noch mäch­ti­ger zu wer­den; als aber der Eichen­kranz sei­ne Locken zier­te, beleb­ten sich sei­ne Gesichts­zü­ge, sein Auge glänz­te von unaus­sprech­li­chem Geist, und das ers­te Wort sei­nes Mun­des war Lilie.

Lie­be Lilie! rief er, als ihr die sil­ber­nen Trep­pen hin­auf ent­ge­gen­eil­te; denn sie hat­te von der Zin­ne des Altars sei­ner rei­se zuge­sehn: lie­be Lilie! was kann der Mann, aus­ge­stat­tet mit allem, sich Köst­li­chers wün­schen als die Unschuld und die stil­le Nei­gung, die mir dein Busen ent­ge­gen­bringt? O! mein Freund, fuhr er fort, indem er sich zu der Alten wen­de­te und die drei hei­li­gen Bild­säu­len ansah, herr­lich und sicher ist das reich unse­rer Väter, aber du hast die vier­te Kraft ver­ges­sen, die noch füher, all­ge­mei­ner, gewis­ser die Welt beherrscht, die Kraft der Lie­be. Mit die­sen Wor­ten fiel er dem schö­nen Mäd­chen um den Hals; sie hat­te den Schlei­er weg­ge­wor­fen und ihre Wan­gen färb­ten sich mit der schöns­ten unver­gäng­li­chen Röte.

Hier­auf sag­te der Alte lächelnd: Die Lie­be herrscht nicht, aber sie bil­det, und das ist mehr.

Über die­ser Fei­er­lich­keit, dem Glück, dem Ent­zü­cken hat­te man nicht bemerkt, daß der Tag völ­lig ange­bro­chen war, und nun fie­len auf ein­mal durch die offe­ne Pfor­te ganz uner­war­te­te Gegen­stän­de der Gesell­schaft in die Augen. Ein gro­ßer mit Säu­len umge­ben­der Platz mach­te den Vor­hof, an des­sen Ende man eine lan­ge und präch­ti­ge Brü­cke sah, die mit vie­len Bogen über den Fluß hin­über reich­te; sie war an bei­den Sei­ten mit Säu­len­gän­gen für die Wan­de­rer bequem und präch­tig ein­ge­rich­tet, deren sich schon vie­le Tau­sen­de ein­ge­fun­den hat­ten, und emsig hin- und wider­gin­gen. Der gro­ße weg in der Mit­te war von Her­den und Maul­tie­ren, Rei­tern und Wagen belebt, die an bei­den Sei­ten, ohne sich zu hin­dern, strom­wei­se hin- und her­flos­sen. Sie schie­nen sich alle über die Bequem­lich­keit und Pacht zu ver­wun­dern, und der neue König mit sei­ner Gemah­lin war über die Bewe­gung und das Leben die­ses gro­ßen Vol­kes so ent­zückt, als ihre wech­sel­sei­ti­ge Lie­be sie glück­lich machte.

Geden­ke der Schlan­ge in Ehren, sag­te der Mann mit der Lam­pe, du bist ihr das Leben, dei­ne Völ­ker sind ihr die Brü­cke schul­dig, wodurch die­se nach­bar­li­chen Ufer erst zu Län­dern belebt und ver­bun­den wer­den. jene schwim­men­den und leuch­ten­den Edel­stei­ne, die Res­te ihrer auf­ge­op­fer­ten Kör­pers, sind die Grund­pfei­ler die­ser herr­li­chen Brü­cke, auf ihnen hat sie sich selbst erbaut und wird sich selbst erhalten.

Man woll­te eben die Auf­klä­rung die­ses wun­der­ba­ren Geheim­nis­ses von ihm ver­lan­gen, als vier schö­ne Mäd­chen zu der Pfor­te des Tem­pels her­ein­tra­ten. An der Har­fe, dem Son­nen­schirm und dem Fels­stuhl erkann­te man sogleich die Beglei­te­rin­nen Lili­ens, aber die vier­te, schö­ner als die drei, war eine Unbe­kann­te, die scher­zend schwes­ter­lich mit ihnen durch den Tem­pel eil­te und die sil­ber­nen Stu­fen hinanstieg.

Wirst du mir künf­tig mehr glau­ben, lie­bes Weib? sag­te der Mann mit der Lam­pe zu der Schö­nen; wohl dir und jedem Geschöp­fe, das sich die­sen Mor­gen im Flus­se badet!

Die ver­jüng­te und ver­schö­ner­te Alte, von deren Bil­dung kei­ne Spur mehr übrig war, umfaß­te mit beleb­ten jugend­li­chen Armen den Mann mit der Lam­pe, der ihre Lieb­ko­sun­gen mit Freund­lich­keit auf­nahm. Wenn ich dir zu alt bin, sag­te er lächelnd, so darfst du heu­te einen ande­ren Gat­ten wäh­len; von heu­te an ist kei­ne Ehe gül­tig, die nicht aufs neue geschlos­sen wird.

Weißt du denn nicht, ver­setz­te sie, daß auch jün­ger gewor­den bist? – Es freut mich, wenn ich in dei­nen jun­gen Augen als ein wack­rer Jüng­ling erschei­ne; ich neh­me dei­ne Hand von neu­em an, und mag gern mit dir in das fol­gen­de Jahr­tau­send hinüberleben.

Die Köni­gin bewill­komm­te ihre neue Freun­din und steig mit ihren und den übri­gen Gespie­lin­nen in den Altar hin­ab, indes der König in der Mit­te der bei­den Män­ner nach der Brü­cke hin­sah und auf­merk­sam das Gewim­mel des Volks betrachtete.

Aber nicht lan­ge dau­er­te sei­ne Zufrie­den­heit, denn er sah einen Gegen­stand, der ihm einen Augen­blick Ver­druß erreg­te. Der gro­ße Rie­se, der sich von sei­nem Mor­gen­schlaf noch nicht erholt zu haben schien, tau­mel­te über die Brü­cke her und ver­ur­sach­te daselbst gro­ße Unord­nung. Er war, wie gewöhn­lich schlaf­trun­ken auf­ge­stan­den und gedach­te sich in der bekann­ten Bucht des Flus­ses zu baden; anstatt der­sel­ben fand er fes­tes Land und tapp­te auf dem brei­ten Pflas­ter der Brü­cke hin. Ob er nun gleich zwi­schen Men­schen und Vieh auf das unge­schick­tes­te hin­ein­trat, so ward doch sei­ne Gegen­wart zwar von allen ange­staunt, doch von nie­mand gefühlt; als ihm aber die Son­ne in die Augen schien, und er die Hän­de auf­hub sie aus­zu­wi­schen, fuhr der Schat­ten sei­ner unge­heu­ren Fäus­te hin­ter ihm so kräf­tig und unge­schickt unter der Men­ge hin und wider, daß Men­schen und Tie­re in gro­ßen Mas­sen zusam­men­stürz­ten, beschä­digt wur­den und Gefahr lie­fen in den Fluß geschleu­dert zu werden.

Der König, als er die­se Untat erblick­te, fuhr mit einer unwill­kür­li­chen Bewe­gung nach dem Schwer­te, doch besann er sich und blick­te erst ruhig sein Zep­ter, dann die Lam­pe und das Ruder sei­ner Gefähr­ten an. Ich erra­te dei­ne Gedan­ken, sach­te der Mann mit der Lam­pe, aber wir und unse­re Kräf­te sind gegen die Ohn­mäch­ti­gen ohn­mäch­tig. Sei ruhig! er scha­det zum letz­ten­mal, und glück­li­cher­wei­se ist sein Schat­ten von uns abgekehrt.

Indes­sen war der Rie­se immer näher gekom­men, hat­te vor Ver­wun­de­rung über das, was er mit offe­nen Augen sah, die Hän­de sin­ken las­sen, tat kei­nem Scha­den mehr, und trat gaf­fend in den Vor­hof herein.

Gera­de ging er auf die Türe des Tem­pels zu, als auf ein­mal in der Mit­te des Hofes auf dem Boden fest­ge­hal­ten wur­de. Er stand als eine kolos­sa­le mäch­ti­ge Bild­säu­le, von röt­lich glän­zen­dem Stei­ne, da, und sein Schat­ten zeig­te die Stun­den, die in einem Kreis auf dem Boden um ihn her, nicht in Zah­len, son­dern in edlen und bedeu­ten­den Bil­dern, ein­ge­legt waren.

Nicht wenig erfreut war der König, den Schat­ten des Unge­heu­ers in nütz­li­cher Rich­tung zu sehen; nicht wenig ver­wun­dert war die Köni­gin, die als sie mit grö­ßer Herr­lich­keit geschmückt aus dem Alta­re, mit ihren Jung­frau­en, her­auf­stieg, das selt­sa­me Bild erblick­te, das die Aus­sicht aus dem Tem­pel nach der Brü­cke fast zudeckte.

Indes­sen hat­te sich das Volk dem Rie­sen nach­ge­drängt, da er still­stand, ihn umge­ben und sei­ne Ver­wand­lung ange­staunt. Von da wand­te sich die Men­ge nach dem Tem­pel, den sie erst jetzt gewahr zu wer­den schien und dräng­te nach der Tür.

In die­sem Augen­bli­cke schweb­te der Habicht mit dem Spie­gel hoch über dem Dom, fing das Licht der Son­ne auf und warf es über die auf dem Altar ste­hen­de Grup­pe. Der König, die Köni­gin und ihre Beglei­ter erschie­nen in dem däm­mern­den Gewöl­be des Tem­pels, von einem himm­li­schen Glan­ze erleuch­tet, und das Volk fiel auf sein Ange­sicht. Als die Men­ge sich wie­der erholt hat­te und auf­stand, war der König mit den Sei­ni­gen in den Altar hin­ab­ge­stie­gen, um durch ver­bor­ge­ne Hal­len nach sei­nem Palas­te zu gehen, und das Volk zer­streu­te sich in dem Tem­pel, sei­ne Neu­gier­de zu befrie­di­gen. Es betrach­te­te die drei auf­recht ste­hen­den Köni­ge mit Stau­nen und Ehr­furcht, aber es ward des­to begie­ri­ger zu wis­sen, was unter dem Tep­pi­che in der vier­ten Nische für ein Klum­pen ver­bor­gen sein möch­te; denn, wer es auch moch­te gewe­sen sein, wohl­mei­nen­de Beschei­den­heit hat­te eine präch­ti­ge Decke über den zusam­men­ge­sun­ke­nen König hin­ge­brei­tet, die kein Auge zu durch­drin­gen ver­mag und kei­ne Hand wagen darf wegzuheben.

Das Volk hät­te kein Ende sei­nes Schau­ens und sei­ner Bewun­de­rung gefun­den, und die zudrin­gen­de Men­ge hät­te sich in dem Tem­pel selbst erdrückt, wäre nicht ihre Auf­merk­sam­keit nicht wie­der auf den gro­ßen Platz gelenkt worden.

Unver­mu­tet fie­len Gold­stü­cke, wie aus der Luft, klin­gend auf die mar­mor­nen Plat­ten, die nächs­ten Wan­de­rer stürz­ten dar­über her, um sich ihrer zu bemäch­ti­gen, ein­zeln wie­der­hol­te sich dies Wun­der, und zwar bald hier und bald da. Man begreift wohl, daß die abzie­hen­den Irr­lich­ter sich hier noch­mals eine Lust mach­ten und das Gold aus den Glie­dern des zusam­men­ge­sun­ke­nen Königs auf eine lus­ti­ge Wei­se ver­geu­de­ten. Begie­rig lief das Volk noch eine Zeit­lang hin und wider, dräng­te und zer­riß sich, auch noch da kei­ne Gold­stü­cke mehr her­ab­fie­len. end­lich ver­lief es sich all­mäh­lich, zog sei­ne Stra­ße, und bis auf den heu­ti­gen Tag wim­melt die Brü­cke von Wan­de­rern, und der Tem­pel ist der besuch­tes­te auf der gan­zen Erde.

Autor
• J. W. Goe­the, Wei­mar (1795).

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