Traditionelle Medizin Chinas – Indikationen von funktionellen Erkrankungen bis zur Anästhesie

Die tra­di­tio­nel­le chi­ne­si­sche Medi­zin (TCM) steht seit eini­gen Jahr­zehn­ten auch im Wes­ten im Mit­tel­punkt des all­ge­mei­nen und ärzt­li­chen Inter­es­ses. Nach­dem sie zunächst von der west­li­chen Schul­me­di­zin völ­lig ver­drängt wor­den und auch in Chi­na in Miss­kre­dit gera­ten war, hat in den 60iger Jah­ren eine Neu­be­le­bung der tra­di­tio­nel­len Heil­me­tho­den statt­ge­fun­den. Beson­ders bekannt wur­de im Wes­ten die Aku­punk­tur; aber auch ande­re chi­ne­si­sche Heil­prak­ti­ken haben bei uns Aner­ken­nung gefunden.

Die TCM war in ihrer ursprüng­li­chen Form zunächst rein magisch, wie alle alten Heil­me­tho­den. D. h., man behan­del­te mit Zau­ber­sprü­chen, Amu­let­ten, Exor­zis­mus usw. erst ab dem drit­ten vor­christ­li­chen Jahr­hun­dert wur­de begon­nen, eine gewis­se Sys­te­ma­tik zu ent­wi­ckeln, in beson­ders engem Zusam­men­hang mit der Leh­re von den fünf Wand­lungs­pha­sen (Fünf-Ele­men­te-Leh­re), der uralten Leh­re von den pola­ren Kräf­ten Yin und Yang und von der Lebens­en­er­gie Qi.

Blin­der Mas­seur bei der Arbeit

Im Lau­fe der Jahr­hun­der­te ent­wi­ckel­te sich ein fest gefüg­tes Gedan­ken­ge­bäu­de für die tra­di­tio­nel­le Medi­zin. Grund­la­ge dafür waren wie bereits beschrie­ben Yin und Yang, die sich gegen­sei­tig ergän­zen und stets im har­mo­ni­schen Gleich­ge­wicht sein müs­sen, wenn der Mensch gesund ist. Des wei­te­ren die kos­mi­sche Lebens­en­er­gie Qi — ein nicht-kor­pus­ku­lä­res Etwas, das in allen beleb­ten Wesen und unbe­leb­ten Din­gen vor­han­den ist und eben­falls in har­mo­ni­schem Gleich­ge­wicht sein muss. Auf eine Stö­rung die­ser drei Urprin­zi­pi­en las­sen sich letzt­end­lich alle Krank­hei­ten zurück­füh­ren: Sie ent­ste­hen durch eine Dis­har­mo­nie von Yin und Yang oder einen Man­gel an Qi. Meist sind die­se Stö­run­gen gleich­zei­tig vorhanden.

Stö­run­gen von Yin und Yang bzw. Qi kön­nen aus äuße­ren Ursa­chen ent­ste­hen, z. B. Kli­ma-Ein­wir­kun­gen wie Käl­te, Hit­ze, Tro­cken­heit, Feuch­tig­keit aber auch Ver­let­zun­gen. Oder aber sie ent­ste­hen aus inne­ren Ursa­chen wie Freu­de, Kum­mer, Ärger etc.

Auf­ga­be des Arz­tes ist es die Art und den Sitz des Übels im Kör­per zu erken­nen und erfolg­reich zu bekämp­fen. Zur Dia­gnos­tik stan­den ihm vier Mög­lich­kei­ten zur Verfügung:

  • das Sehen, d. h. Beob­ach­ten von Far­be, Beschaf­fen­heit der Haut, Augen
  • die Ana­mne­se
  • die Mög­lich­keit des Rie­chens und Hörens (Foe­tor ex ore, Dys­pnoe usw.
  • das Puls­füh­len

Pati­en­ten sind immer bekleidet

Eine manu­el­le Unter­su­chung des Pati­en­ten fand so gut wie nie statt, und schon gar nicht bei Pati­en­tin­nen, die der Arzt nicht ein­mal sehen durf­te. Vor­neh­me Pati­en­tin­nen hiel­ten sich hin­ter einem Wand­schirm auf, schil­der­ten dem Arzt ihre Beschwer­den, bzw. zeig­ten den Ort des Übels mit­tels (extra für die­sen Zweck ange­fer­tig­ten) Elfen­bein­püpp­chen an. — Bei kai­ser­li­chen Prin­zes­sin­nen durf­te der Arzt noch nicht ein­mal den Puls füh­len, son­dern nahm einen Sei­den­fa­den zwi­schen die Fin­ger­spit­zen, des­sen ande­ren Ende die Prin­zes­sin in der Hand hielt.

Die Puls­dia­gnos­tik wur­de im Lau­fe der Jahr­hun­der­te sehr aus­ge­baut und ver­fei­nert. Man unter­schied teil­wei­se bis zu 50 ver­schie­de­ne Puls­ar­ten, die an drei Stel­len der Arte­ria radia­lis beid­seits gefühlt wur­den und Rück­schlüs­se auf die erkrank­ten Orga­ne zuließen.

Für die The­ra­pie gab es ver­schie­den­ar­ti­ge Metho­den, die auch heu­te noch prak­ti­ziert werden:

  • Hydro­the­ra­pie, die der Behand­lungs­me­tho­de des S. Kneipp entspricht
  • Mas­sa­ge, für die die Chi­ne­sen und Japa­ner berühmt sind. Sie wird bis heu­te häu­fig von Blin­den ausgeübt.
  • Diät­vor­schrif­ten, die z. T. sehr kom­pli­ziert sind und auch auf den Prin­zi­pi­en des Yin und Yang basieren
  • Medi­ta­ti­ons- und Ver­sen­kungs­übun­gen, die z. T. aus dem Bud­dhis­mus über­nom­men wur­den und die eben­falls Har­mo­nie bewir­ken sollen
  • Qi Gong, eine Art von Atem- und Bewe­gungs­übun­gen zur Locke­rung und Har­mo­ni­sie­rung des Menschen
  • Kräu­ter­the­ra­pie, die bereits im alten Chi­na fein aus­ge­ar­bei­tet war und bis heu­te über­ra­schen­de Wir­kun­gen zeigt. Meh­re­re 100 Pflan­zen wer­den ver­wen­det: Gin­seng, Ing­wer, Süß­holz, Ane­mo­ne, Chrysanteme
  • Mine­ra­li­sche und tie­ri­sche Arz­nei­mit­tel (Schlan­gen­gal­le als Augen­the­ra­peu­ti­kum, pul­ve­ri­sier­te Tiger­kral­le als Tonikum)
  • Aku­punk­tur und Akupressur
  • Moxi­bus­ti­on

Die drei letz­ten Metho­den müs­sen zusam­men genannt wer­den, da sie auf dem glei­chen Prin­zip beru­hen. Bei der Aku­punk­tur sticht man fei­ne Nadeln in die Haut, bei der Aku­pres­sur wer­den die Reiz­punk­te mit dem Fin­ger gedrückt, bei der Moxi­bus­ti­on brennt man an den glei­chen Stel­len klei­ne Kegel aus pul­ve­ri­sier­tem Wie­sen­bei­fuss (Arte­me­sia vul­ga­ris) ab, um so einen Reiz­ef­fekt zu erzielen.

Ursprüng­lich gab es auf jeder Kör­per­hälf­te 360 Aku­punk­tur­punk­te, die auf 12 Leit­bah­nen (= Meri­dia­nen) ange­ord­net sind. In der Zwi­schen­zeit sind noch zwei wei­te­re Meri­dia­ne (je einer ven­tral und dor­sal in Kör­per­mit­te) und zahl­rei­che Aku­punk­tur­punk­te hin­zu­ge­kom­men. Die zwölf Meri­dia­ne tra­gen jeweils den Namen eines Kör­per­or­gans mit dem sie in Ver­bin­dung ste­hen sol­len. Die chi­ne­si­schen Ärz­te sagen, daß die Meri­dia­ne den Weg des Qi durch den Kör­per dar­stel­len. Das Qi beginnt sei­nen Kreis­lauf im Lun­gen­me­ri­di­an, durch­strömt nach­ein­an­der sämt­li­che Meri­dia­ne, bis es nach 24 Stun­den im Lun­gen­me­ri­di­an wie­der ankommt.

Zu den wich­tigs­ten Krank­heits­ur­sa­chen gehö­ren, wie wir bereits sahen, Über­fluss oder Man­gel an Qi. So bewirkt eine Fül­le von Yang-Qi Hit­ze und Fie­ber. Ein Man­gel führt zu Käl­te­ge­fühl. Ein Über­fluss an Yin-Qi ist u. a. die Ursa­che für Frös­teln und Kreis­lauf­schwä­che. Der the­ra­peu­ti­sche Sinn der Aku­punk­tur ist es nun, die­sem Über­fluss oder Man­gel abzu­hel­fen, indem man das Qi durch Ein­ste­chen an bestimm­ten Punk­ten “ablässt” oder “auf­füllt”, d. h. den Kör­per disper­siert oder tonisiert.

Frü­her ver­wen­de­te man zum Toni­sie­ren Gold­na­deln; zum Disper­sie­ren Sil­ber­na­deln. Heu­te nimmt man nur noch Stahl­na­del, die rich­tig gesetzt, den glei­chen toni­sie­ren­den oder disper­sie­ren­den Effekt auslösen.

Für vie­le Erkran­kun­gen gibt es meh­re­re Aku­punk­tur­punk­te, die gleich­zei­tig oder nach­ein­an­der gena­delt wer­den. So setzt der gute Aku­punk­teur stets eine Nadel am Magen­me­ri­di­an 36 (unter­halb des Knies zwi­schen Tibia und Fibu­la). Die­ser Punkt gilt als “Vit­amin­sprit­ze” in der Aku­punk­tur und hat einen stär­ken­den und beru­hi­gen­den Effekt. Fast eben­so wich­tig ist der Punkt Dick­darm IV zwi­schen I. und II. Metacarpale.

Bis­her wur­de die Wir­kung der Aku­punk­tur durch das Auf­fül­len oder Ablas­sen von Qi erklärt. Inzwi­schen haben bio­che­mi­sche Unter­su­chun­gen gezeigt, das an den Aku­punk­tur­punk­ten durch den Nadel­reiz bestimm­te Sub­stan­zen — Endo­mor­phi­ne — frei­ge­setzt wer­den, die zu dem gewünsch­ten the­ra­peu­ti­schen Effekt füh­ren. Genaue­re Unter­su­chen dar­über ste­hen jedoch noch aus.

Wie sind nun die Chi­ne­sen zu den Aku­punk­tur­punk­ten und Meri­dia­nen gekom­men? Es ist anzu­neh­men, daß die Anfän­ge rein empi­risch waren. Man stellt durch Rei­zung der Haut eine Wir­kung auf den Orga­nis­mus fest. Die so durch prak­ti­sche Erfol­ge gewon­ne­nen Punk­te füg­te man zu einem Sys­tem zusam­men, ergänz­te und erwei­ter­te es und kam so zum heu­ti­gen Bild der Aku­punk­tur­punk­te und Meridiane.

Zum Teil kann man hier Über­ein­stim­mun­gen mit den sog. Head’schen Zonen fin­den: So wird z. B. bei einer Gal­len­ko­lik über dem rech­ten Schul­ter­blatt aku­punk­tiert, wo der uns bekann­te “Schul­ter­schmerz” auftritt.

Ein ganz neu­er in der VR Chi­na ent­wi­ckel­ter Aspekt ist die Aku­punk­tur-Anäs­the­sie. Es ist erprobt wor­den, daß eine tota­le Anäs­the­sie nur in sel­te­nen Fäl­len erreicht wer­den kann. Jedoch ist es mög­lich, durch Aku­punk­tur die Reiz­schwel­le her­auf­zu­set­zen, so daß gerin­ge­re Men­gen von Nar­ko­ti­ka erfor­der­lich sind.

Die tra­di­tio­nel­le Medi­zin hat für Chi­na auch heu­te noch eine gro­ße Bedeu­tung. Sie steht fast gleich­be­rech­tigt neben der west­li­chen Schul­me­di­zin. Die tra­di­tio­nel­len Heil­me­tho­den sind viel­fach mil­der, scho­nen­der und ganz­heit­lich, dazu noch weni­ger auf­wen­dig und daher bil­li­ger. Ein gro­ßer Teil der Pati­en­ten kann bereits auf tra­di­tio­nel­le Wei­se geheilt wer­den, wäh­rend selbst­ver­ständ­lich für ande­re Fäl­le die genaue­re Appa­ra­te­tech­nik und z. B. chir­ur­gi­sche Medi­zin erfor­der­lich wer­den kann.

Nach mei­ner Erfah­rung hat Aku­punk­tur eine durch­blu­tungs­för­dern­de, ner­ven­ent­rei­zen­de, krampf­lö­sen­de und nicht zuletzt psy­chisch ent­kramp­fen­de Wir­kung, so daß sie bei vie­len funk­tio­nel­len Wir­kun­gen erfolg­reich ein­ge­setzt wer­den kann, wäh­rend bei orga­ni­schen Stö­run­gen zunächst die schul­me­di­zi­ni­sche Behand­lung im Vor­der­grund ste­hen sollte.

Wich­tig ist es in jedem Fal­le, daß die chi­ne­si­sche Metho­de der Aku­punk­tur gründ­lich erlernt wird und daß dafür auch die not­wen­di­gen ana­to­mi­schen Grund­kennt­nis­se vor­han­den sind. Der Aku­punk­teur muss wis­sen, an wel­chen Stel­len er ober­fläch­lich und wo er tief ste­chen darf. Lei­der ist die Aku­punk­tur­be­hand­lung jedoch nicht gesetz­lich geschützt, so daß vie­le Uner­fah­re­ne, medi­zi­nisch nicht Aus­ge­bil­de­te, die die Aku­punk­tur im zwei­mo­na­ti­gen Schnell­kurs erlernt haben, mehr Scha­den als Nut­zen anrich­ten können.

Autorin
• Prof. Dr. Dr. Jut­ta Rall-Niu, Ham­burg (Sino­lo­gie und Medi­zin) (1998).

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