Integrative Medizin: Ein Modell nachhaltiger Entwicklung?

Cha­ri­té – Uni­ver­si­täts­me­di­zin Berlin

Ber­lin (bb). Ist “Inte­gra­ti­ve Medi­zin” eher eine Art “Super­wis­sen­schaft”, die nach den Vor­stel­lun­gen zum Bei­spiel des Psy­cho­so­ma­ti­kers Thu­re von Uex­küll eine zen­tra­le Begren­zung der moder­nen Medi­zin – den feh­len­den theo­re­ti­schen Unter­bau – phi­lo­so­phisch zu über­win­den sucht [1]? Oder ist es eher ein, nach his­to­ri­schem US-ame­ri­ka­ni­schem Modell zum Bei­spiel eines John Mil­ton Scud­der auf­ge­bau­tes eklek­ti­sches Medi­zin­kon­strukt [2], das mehr als die aktu­el­le Main­stream-Medi­zin west­li­cher Prä­gung auch kom­ple­men­tär­me­di­zi­ni­sche Vor­stel­lun­gen und Ver­fah­ren inte­grie­ren möch­te? Ob nun tie­fes Anlie­gen suchen­der Medi­zi­ner, aktu­el­le Mode zur Ver­kaufs­för­de­rung jen­seits von IGeL oder Kolo­nia­li­sie­rung der Alter­na­tiv­me­di­zin durch die Schul­me­di­zin (Wal­lach [3]) – auch der drit­te Euro­päi­sche Kon­gress für Inte­gra­ti­ve Medi­zin (ECIM) in Ber­lin [4] hat vie­le Fra­ge­zei­chen hin­ter­las­sen – vor allem bei den klas­si­schen Dienst­leis­tern des ers­ten Gesundheitsmarktes.

Der häu­fi­gen, leicht solip­sis­ti­schen Auf­fas­sung, in Art eines wis­sen­schaft­li­chen Schmelz­tie­gels ent­stün­de aus kon­ven­tio­nel­ler Medi­zin und kom­ple­men­tä­ren Metho­den das Amal­gam der Inte­gra­ti­ven Medi­zin, stell­te Prof. Dr. Judith Mei­jer, Natio­naal Infor­ma­tie en Ken­nis­cen­trum Inte­gra­ti­ve Medi­ci­ne (NIKIM), Ams­ter­dam [5], eine Idee ent­ge­gen, die trotz ihrer stil­len Prä­sen­ta­ti­on ein Gren­zen spren­gen­des Poten­ti­al haben könn­te. Mei­jer setz­te näm­lich den in Umwelt­wis­sen­schaft, Öko­lo­gie, Sozio­lo­gie, Ethik, Kul­tur oder Poli­tik zuneh­mend eta­blier­ten Begriff der “Nach­hal­tig­keit” bzw. “nach­hal­ti­ger Ent­wick­lung” (NE) in Bezug zu dem Begriff der “Inte­gra­ti­ven Medi­zin” (IM).

Was bedeuten integrative Medizin, was nachhaltige Entwicklung?

Hier­zu ver­wies die Psy­cho­lo­gin Mei­jer zunächst auf die der­zeit (in den Nie­der­lan­den) aktu­el­len Grund­vor­stel­lun­gen zu bei­den Kon­zep­ten. Inte­gra­ti­ve Medi­zin ist dem­zu­fol­ge die “Visi­on eines neu­en Gesund­heits­sys­tems”, das sich neben der Gesund­heit auch auf das mensch­li­che Poten­ti­al und die Befind­lich­keit von Men­schen kon­zen­triert. Im Maße, wie Pati­en­ten hier­für zuneh­mend Ver­ant­wor­tung selbst über­neh­men, wan­delt sich die Rol­le der Ärz­te zu Bera­tern und Trai­nern mit dem beson­de­ren Auf­ga­ben­schwer­punkt Prä­ven­ti­on. Und spä­tes­tens hier kom­men Kon­zep­te von wis­sen­schaft­lich in ihrer Wirk­sam­keit beleg­ter Kom­ple­men­tär­me­di­zin ins Spiel. Die­ses Kon­zept von IM, so Mei­jer, ist bereits heu­te undenk­bar ohne eine glo­bal lebens­wer­te Welt, eine “gesun­de Umwelt”, was eine wirk­sa­me, nicht nur gefühl­te Ver­ant­wor­tung für die Welt als Ele­ment einer neu­en Medi­zin impli­ziert. Nach­hal­ti­ge Ent­wick­lung wie­der­um umfasst die Not­wen­dig­keit ethi­scher Stan­dards, die hin­sicht­lich der Anlie­gen und Hoff­nun­gen aller Betei­lig­ten aus­ge­wo­gen öko­no­mi­sche, Umwelt­an­lie­gen sowie sozia­le Not­wen­dig­kei­ten berück­sich­ti­gen. Dass beson­ders poli­ti­sche und Wirt­schafts­sys­te­me ange­sichts ver­hee­ren­der Ent­wick­lun­gen wie zum Bei­spiel der glo­ba­len Finanz- und Wirt­schaft­kri­se der letz­ten Jah­re eine sol­che nach­hal­ti­ge Ent­wick­lung drin­gend benö­ti­gen, ist erfreu­li­cher­wei­se schon jetzt in die Arbeit vie­ler natio­na­ler und inter­na­tio­na­ler Ent­schei­dungs­gre­mi­en ein­ge­flos­sen, beton­te Mei­jer. Die drei zen­tra­len Schlüs­sel­be­grif­fe von nach­hal­ti­ger Ent­wick­lung bezie­hen sich – so der NE-Vor­den­kers John Elking­ton – auf drei Gebie­te: Mensch, Erde und Gewinn (engl. PPP – peo­p­le, pla­net, pro­fit), was die Dimen­sio­nen sozia­ler, öko­lo­gi­scher und öko­no­mi­scher Ver­ant­wort­lich­keit umschreibt [6].

Ähnlichkeiten und …

Cha­ri­té – Uni­ver­si­täts­me­di­zin Berlin

Mei­jer schil­der­te im fol­gen­den Ana­ly­se­er­geb­nis­se ihrer Arbeits­grup­pe zu den Ähn­lich­kei­ten und Unter­schie­den zwi­schen bei­den Kon­zept­be­grif­fen. Vie­le Ähn­lich­kei­ten lie­gen auf der Hand: Nach­hal­ti­ge Ent­wick­lung und inte­gra­ti­ve Medi­zin haben bei­de weit­rei­chen­de mora­li­sche, ethi­sche und poli­ti­sche Dimen­sio­nen, in deren Rah­men nach fun­da­men­ta­len Para­dig­men-Wech­seln gesucht wird, weni­ger nach nur gra­du­el­ler Ver­bes­se­rung bestehen­der Ver­hält­nis­se. Trotz his­to­ri­scher Vor­bil­der ist die­ser Ansatz immer wie­der neu – nicht zuletzt, weil sich das mensch­li­che Leben bestän­dig ändert und wei­ter­ent­wi­ckelt. Wei­te­re wich­ti­ge Gemein­sam­kei­ten sind eine gesun­de Umwelt und eine stär­ke­re Rol­le der Mensch­lich­keit. Gro­ße Bedeu­tung erfah­ren auch zwi­schen­mensch­li­che Fähig­kei­ten wie Koope­ra­ti­on, Kom­mu­ni­ka­ti­on oder Dia­log, die – wie die Ach­tung der leben­di­gen Viel­falt der Wirk­lich­keit – letzt­lich Grund­la­ge der not­wen­di­gen Inter­dis­zi­pli­na­ri­tät sind. Womit beson­ders zen­tra­li­sier­te Büro­kra­tien beson­de­re Pro­ble­me haben, ist eine wei­te­re Gemein­sam­keit von IM und NE, so Mei­jer: Näm­lich die Ver­an­ke­rung im unmit­tel­ba­ren (kom­mu­na­len) Lebens­um­feld, dem Stadt­teil oder der Gemeinde.

Gera­de letz­te­res stellt zudem – auch für man­che Ärz­te schwer umzu­set­zen – die Rol­le von “Spe­zia­lis­ten” zuguns­ten von “Gene­ra­lis­ten” bzw. des “gesun­den Men­schen­ver­stan­des” in Fra­ge. Auch Ver­ant­wor­tung an Bür­ger bzw. “Pati­en­ten” abzu­ge­ben, und zwar nicht nur, wenn etwas schief gegan­gen ist, fällt “den Exper­ten” eher schwer. Beson­ders dann, wenn ihre Exper­ti­se nur dem eige­nen Wunsch­den­ken ent­springt. Zum Bei­spiel jenem, dass Ärz­te beson­de­re Spe­zia­lis­ten für die Prä­ven­ti­on von Krank­hei­ten sei­en. Eine wei­te­re Gemein­sam­keit, so Mei­jer, ist schließ­lich die Aus­sicht auf eine Wirt­schaft­lich­keit, bei der Res­sour­cen öko­no­misch, gerecht und zum Bei­spiel ohne ver­steck­te Kos­ten­ab­wäl­zun­gen genutzt werden.

Haben Phytopharmaka eine Zukunft?

Prof. Dr. Vol­ker Schulz ging in sei­nem Vor­trag auf die Arzt-Pati­en­­ten-Bezie­hung im Ver­hält­nis zur Phy­to­the­ra­pie ein. Schulz, seit zwei Jah­ren Eme­ri­tus, enga­gier­te sich Jahr­zehn­te lang für die ratio­na­le Phy­to­the­ra­pie, z. B. in der Kom­mis­si­on E oder an der Ber­li­ner Cha­ri­té. Schulz stell­te her­aus, dass nicht nur die Heil­pflan­zen­the­ra­pie für Ärz­te, son­dern auch “Ärz­te für die Phy­to­the­ra­pie” eine beson­de­re Rol­le spie­len. Denn die “Pflan­ze braucht zum vol­len The­ra­pie­er­folg das Wort”, so Schulz. Selbst ein Pflan­zen­prä­pa­rat mit allei­ni­ger Pla­ce­bo­wir­kung (und davon scheint es ja eini­ge zu geben), kann aus die­ser Sicht noch behand­lungs­re­le­vant sein – weil es viel­leicht die ein­zi­ge oder letz­te Hoff­nung in einem Krank­heits­ge­sche­hen ist. Und die soll­te, so Schulz, Pati­en­ten nicht vor­ent­hal­ten wer­den. In sei­nem Rück­blick auf die letz­ten Jahr­zehn­te der Phy­to­the­ra­pie schlägt er ins­ge­samt sehr kri­ti­sche Töne an: Wäh­rend die Phy­to­the­ra­pie im 19. und 20. Jahr­hun­dert ihre höchs­te Bedeu­tung hat­te, wird sie gegen­wär­tig nur noch für leich­te Gesun­d­heits- und Befind­lich­keits­stö­run­gen ein­ge­setzt. “Die Phy­to­the­ra­pie hat sich beim Ver­such, die All­o­pa­thie links zu über­ho­len, wohl über­nom­men”, so ein Resü­mee. Das Pro­blem: Für die Wirk­sam­keits­nach­wei­se der Phy­to­the­ra­pie wur­den und wer­den pri­mär Pla­ce­­bo-Ver­­um-Dif­­fe­­ren­­zen her­an­ge­zo­gen. Ran­do­mi­sier­te kon­trol­lier­te Stu­di­en (RCT) gel­ten auch in der Phy­to­the­ra­pie als “Gold­stan­dard” bei der Bewer­tung der Effekt­stär­ke von Pflan­zen­wirk­stof­fen. Aber, so merk­te Schulz an: In der Phy­to­the­ra­pie gibt es zumeist The­ra­peu­ti­ka ohne domi­nan­te Wir­k­­stoff-Phar­­ma­­ko­­lo­­gie. Durch die häu­fi­ge “Pla­ce­­bo-Nähe” von Phy­to­the­ra­peu­ti­ka in RCTs kam es des­halb zu einer Abwer­tung von Heil­pflan­zen kom­men, sogar in Indi­ka­ti­ons­be­rei­chen, in denen Phy­to­the­ra­peu­ti­ka bevor­zugt ein­zu­set­zen sind. Völ­lig zu Unrecht, so Schulz: Denn für die Phy­to­the­ra­pie war der gestell­te “All­o­­pa­­thie-Anspruch” und der dar­aus ent­stan­de­ne “wis­sen­schaft­li­che” Wett­be­werb nie­mals zu erfül­len. Nicht zuletzt, weil die gewähl­ten Kon­zen­tra­tio­nen eher an Sicher­heits­aspek­ten (“Mite-The­ra­pie”) aus­ge­rich­tet waren/​​sind, und sich dadurch für Wir­k­­sam­keits-Nach­­wei­­se als oft zu schwach erwie­sen. Die Zukunft für pflanz­li­che Arz­nei­mit­tel sieht Schulz trotz­dem in Prä­pa­ra­ten, die von Pati­en­ten akzep­tiert, risi­ko­arm und im Ver­gleich zu all­o­pa­thi­schen Mit­teln kos­ten­güns­tig sind. Als Bei­spiel zog er einen Kos­ten­ver­gleich her­an, der auf der Grund­la­ge von Tages­­­do­­sis-Prei­­sen basier­te (Arz­nei­mit­tel­re­port 2010, Rote Lis­te). Schulz sah dem­zu­fol­ge den Ein­satz von Phy­to­phar­ma­ka bei spe­zi­fi­schen Indi­ka­ti­ons­grup­pen als wei­ter­hin gege­ben an: So sei­en phy­to­the­ra­peu­ti­sche Gynä­ko­lo­gi­ka (PMS – Mönchs­pfef­fer, Östrogen-“Mangel” – Trau­ben­sil­ber­ker­ze), Uro­lo­gi­ka (BPH – Brenn­nes­sel, Säge­pal­me, Kür­bis­sa­men), Herz-Kreis­lauf­­mi­t­­tel (Weiß­dorn, Gink­go bilo­ba, Knob­lauch) oder Anti­de­men­ti­va (Gink­go bilo­ba) wesent­lich bil­li­ger als all­o­pa­thi­sche Vergleichsmittel.

… Unterschiede von integrativer Medizin und nachhaltiger Entwicklung

Unter­schie­de zwi­schen NE und IM betref­fen den jewei­li­gen (Entstehungs-)Hintergrund und die Ziel­grup­pen der Kon­zep­te. Zum einen Wis­sen­schaft und poli­tisch ori­en­tier­te Umwelt­be­we­gun­gen, die auf die Wirt­schaft oder poli­tisch akti­ve Men­schen zie­len. Zum ande­ren vor allem Medi­zin­pro­fis und aka­de­mi­sche Zen­tren, die auf medi­zi­ni­sche Ent­schei­der und Dienst­leis­ter sowie Pati­en­ten zie­len. NE setzt vor allem tech­ni­sche resp. tech­no­lo­gi­sche Lösun­gen ein, betont Mar­ke­ting- und Umwelt-Aspek­te, mit denen letzt­lich “grü­ne Pro­duk­te” ver­kauft wer­den sol­len, so Mei­jer. IM hin­ge­gen fokus­siert auf Hei­lungs-Tech­ni­ken unter Ein­schluss des klas­si­schen Mikro­me­di­zin-Ansat­zes (The­ra­pie mani­fes­ter Krank­hei­ten). Betriebs­wirt­schaft­li­che Aspek­te spie­len bei der NE eine wesent­li­che Rol­le, wäh­rend die IM in die­ser Hin­sicht (bis­lang) kaum betriebs­wirt­schaft­li­che Ambi­tio­nen zeigt. So erfolg­reich die Öko­sze­ne gezeigt hat, wie Nach­hal­tig­keit als Mar­ke­ting-Kon­zept erfolg­reich ist, so wenig bedeut­sam ist die­ser Ansatz im Gesund­heits­markt. Umge­kehrt ist die inte­gra­ti­ve Medi­zin schon seit vie­len Jah­ren auf dem Markt prä­sent, ohne aller­dings ihr Kon­zept beson­ders erfolg­reich ver­mark­ten zu können.

Kooperation-Potential “Nachhaltiges Gesundheitssystem”

Arni­ka (Arni­ka montana)

In Anbe­tracht der vie­len Über­ein­stim­mun­gen und Ähn­lich­kei­ten stell­te Mei­jer die bei einem Kon­gress für Inte­gra­ti­ve Medi­zin natür­lich ent­schei­den­de Fra­ge nach “Mög­lich­kei­ten und Sinn­haf­tig­keit einer Koope­ra­ti­on von NE und IM”. Nicht zuletzt, weil selbst die Unter­schie­de eher addi­ti­ver denn kom­pe­ti­ti­ver Natur sei­en. Aber wie kön­nen sich die Wel­ten von Medi­zin und Wirt­schafts- und Manage­ment-Wis­sen­schaf­ten ein­an­der tref­fen? Ist viel­leicht ein “nach­hal­ti­ges Gesund­heits­sys­tem” ein Schlüs­sel dazu? Tat­säch­lich, so Mei­jer, ist gera­de die medi­zi­ni­sche Grund­ver­sor­gung, die Basis­me­di­zin auf Ebe­ne von All­ge­mein­me­di­zi­nern oder prak­ti­schen Ärz­ten, durch eine gewis­se “Klein­tei­lig­keit”, die Not­wen­dig­keit von inter­dis­zi­pli­nä­rer Koope­ra­ti­on, eine oft enge Bezie­hung zum Quar­tier und den dort gege­be­nen ergän­zen­den Ver­sor­gungs­struk­tu­ren sowie einen eher gene­ra­lis­ti­sche, auf gesun­dem Men­schen­ver­stand auf­bau­en­den Ansatz cha­rak­te­ri­siert. Zudem ist es für vie­le Prak­ti­ker nor­mal, ihren Patienten/​Kunden Lebens­stil-Ände­run­gen vor­zu­schla­gen. Des­halb sei das medi­zi­ni­sche Grund­ver­sor­gungs­sys­tem im Kern sehr nahe an den Kon­zep­ten nach­hal­ti­ger Ent­wick­lung und inte­gra­ti­ver Medi­zin. Wobei inte­gra­ti­ve Medi­zin gera­de ange­sichts der täg­li­chen Her­aus­for­de­run­gen der Grund­ver­sor­gung hel­fen kann, die­se noch mehr in Rich­tung eines nach­hal­ti­gen Gesund­heits­sys­tems auszurichten.

Ein der­art arbei­ten­des Gesund­heits­sys­tem kann vie­le vor­teil­haf­te Effek­te ent­fal­ten, so Meijer.

  • Bei­spiels­wei­se eine nach­hal­ti­ge Lang­zeit­bin­dung im Sin­ne einer tat­säch­li­chen Part­ner­schaft zwi­schen Patienten/​Kunden und Pro­fis (wie sie zum Bei­spiel an der Schnitt­stel­le Selbst­hil­fe­grup­pen und Ärz­te­schaft gele­gent­lich vorkommt).
  • Als zuneh­mend bedeu­tend ist auch die, im Rah­men des ECIM häu­fig the­ma­ti­sier­te gesund­heits­för­dern­de Mög­lich­keit zu bewer­ten, indi­vi­du­ell und frei­heit­lich aus ver­schie­de­nen sinn­vol­len Ver­sor­gungs­op­tio­nen zu wählen.
  • Wobei mit Frei­heit sicher etwas ande­res gemeint ist, als die Frei­heit sich nach­hal­ti­ge Gesund­heits­an­ge­bo­te per­sön­lich leis­ten zu kön­nen. Hier­auf wies der zeit­gleich mit dem ECIM in Ber­lin statt­fin­den­de Kon­gress “Armut und Gesund­heit” hin [7]. Ver­schie­de­ne dort prä­sen­tier­te Stu­di­en beton­ten erneut den engen Zusam­men­hang von indi­vi­du­el­ler Gesund­heit und Lebens­er­war­tung mit der Zugangs­mög­lich­keit zu Gesund­heits­an­ge­bo­ten im unmit­tel­ba­ren Lebens­um­feld. Ein Aspekt, der beson­ders bei den nie­der­län­di­schen Über­le­gun­gen eine bedeu­ten­de Rol­le spielt.

Doch es gibt auch Rück­schlä­ge: Zum Bei­spiel zeigt das häu­fi­ge Ver­sa­gen vie­ler, fast immer sehr klu­ger, oft aka­de­misch gestütz­ter und zudem mit öffent­li­chen Mit­tel reich­lich aus­ge­stat­te­ter Prä­ven­ti­ons­pro­gram­me, dass – mög­li­cher­wei­se – mit einer ordent­li­chen Por­ti­on “gesun­dem Men­schen­ver­stand” weit­aus bes­se­re und vor allem nach­hal­ti­ge­re Ergeb­nis­se erziel­bar gewe­sen wären. Bis­lang jeden­falls, so resü­mier­te Mei­jer, ist die Zahl der Model­le, bei denen Pati­en­ten, Gesund­heits­dienst­leis­ter und Orga­ni­sa­tio­nen im Bereich der Basis­me­di­zin nach­hal­tig zusam­men­ar­bei­ten noch sehr über­schau­bar geblie­ben. Ein Resü­mee, das nicht zuletzt nach dem drei­fa­chen Schei­tern eines deut­schen Prä­ven­ti­ons­ge­set­zes, auch ohne Ein­schrän­kung für Deutsch­land gezo­gen wer­den kann.

Atomphysik & Medizin: Messbare Realität versus lebendige Wirklichkeit

Das äußerst unter­halt­sa­me Grund­satz­re­fe­rat des mit einem alter­na­ti­ven Nobel­preis aus­ge­zeich­ne­ten Phy­si­kers Prof. Dr. Hans-Peter Dürr, Mün­chen, lock­te erwar­tungs­ge­mäß zahl­rei­che, teil­wei­se schon im Vor­we­ge begeis­ter­te Zuhö­rer. Sei­ne Anmer­kun­gen zum Ver­hält­nis der sta­­tisch-mes­s­­ba­­ren “Rea­li­tät” nach New­ton­schem Vor­bild und einer aus der Quan­ten­me­cha­nik ableit­ba­ren “leben­di­gen Wirk­lich­keit”, also einem neue­ren Welt­bild der Atom­phy­sik, blie­ben jedoch eher vage (“es geht um das Gan­ze, das kei­ne Tei­le hat”). Sie betra­fen die für Ärz­te eigent­lich span­nen­den Fra­gen nach dem Wesen des Leben­di­gen in sei­nem Ver­hält­nis zu den wech­seln­den Welt­bil­dern der Phy­sik nicht. Auch wit­zi­ge Bon­mots wie “der auf­ge­räum­te Schreib­tisch sehnt sich eigent­lich nach Unord­nung” und ande­re konn­ten die­sen Man­gel nicht aus­glei­chen. Die Begren­zun­gen des Phy­si­kers, näm­lich fern­ab von der “leben­di­gen Wirk­lich­keit” zum Bei­spiel eines lei­den­den, chro­nisch kran­ken Men­schen nach dem zu suchen, “was die Welt im Inners­ten zusam­men­hält”, wur­den auch von Dürr nicht über­schrit­ten. Die Erkennt­nis des Hei­sen­berg­schü­lers, dass die Welt nicht aus Bau­stei­nen besteht, son­dern aus Pro­zes­sen, ist – vor allem für einen ganz­heit­lich den­ken­den und füh­len­den Medi­zi­ner – wirk­lich kei­ne Neu­ig­keit. Wer zum Bei­spiel die Schmerz-Wir­k­­lich­keit einer Tri­­ge­­mi­­nus-Neur­al­­gie kennt, weiß, dass die leben­di­ge Welt nur aus Pro­zes­sen besteht, in denen zum Bei­spiel der Schmerz als zen­tra­les und allei­ne auf Anal­ge­sie gerich­te­tes Abso­lu­tum “erlebt” wird, was nicht “gemes­sen” wer­den braucht (Dürr for­dert von sei­nen Kol­le­gen nach­drück­lich den Ersatz des “Mes­sens” durch das “Erle­ben” …). Der Dürr’sche Ver­such, Kon­zep­te der ato­ma­ren und sub­ato­ma­ren Quan­ten­me­cha­nik (“alles was geschieht, ist unvor­her­seh­bar – ent­spricht einer nicht-posi­­tiv-defi­­ni­­ten Wahr­­schein­­lich­keits-Ampli­­­tu­­de”) auf die Wirk­lich­keit des Leben­di­gen zu über­tra­gen, mag in Wal­dorf­schu­len Anklang fin­den. Er erscheint jedoch auch als spä­ter Recht­fer­ti­gungs­ver­such des 81-jäh­ri­­gen auch für den Über­va­ter Hei­sen­berg und sei­ne Ver­stri­ckung in das Nazi-Atom­­bom­­ben­­pro­­gramm. Viel­leicht soll­ten in Zukunft eher Ärz­te bei Phy­si­kern Grund­satz­re­fe­ra­te über “das Wesen der leben­di­gen Wirk­lich­keit” halten?

Integrierte Medizin & Nachhaltige Entwicklung (Beispiele, Handlungsbedarf)

  • Ener­gie­ver­brauch: Seit Jah­ren ist klar, dass der exzes­si­ve Ener­gie­ver­brauch des Gesund­heits­we­sens nur wenig mit nach­hal­ti­gem Wirt­schaf­ten zu tun hat. Wenn dann gera­de ein phy­to­the­ra­peu­tisch aus­ge­rich­te­tes Unter­neh­men – Biono­ri­ca SE, Neu­markt – bei einem Fir­men-Neu­bau moder­ne res­sour­cen­scho­nen­de Öko­bau-Prin­zi­pi­en umsetzt, betont dies die Gemein­sam­kei­ten und Chan­cen inte­gra­ti­ver Medi­zin und nach­hal­ti­gen Wirt­schaf­tens in beson­de­rer Weise.
  • Fair trade /​ Bio­pi­ra­te­rie: Kap­land-Pelar­go­nie, Uza­ra, Teu­fels­kral­le, Hoo­dia – alles Heil­pflan­zen aus dem süd­li­chen Afri­ka, die in den letz­ten Jah­ren eine Viel­zahl auch ethi­scher Fra­gen auf­ge­wor­fen haben, die seit­her das Bewusst­sein von Her­stel­lern oder Ver­ord­nern schär­fen. Doch ein lan­ger Weg steht noch bevor: Der­zeit gibt es noch kein ein­zi­ges natur­me­di­zi­ni­sches Pro­dukt zum Bei­spiel mit Fair Wild-Sie­gel [8].
  • Ein­kom­mens-Unter­schie­de: Kom­ple­men­tär­me­di­zin als Ele­ment der Inte­gra­ti­ven Medi­zin wird über­wie­gend von Men­schen mit hohem Ein­kom­men ver­wen­det [9]. Die­ses Zugangs­pro­blem wirft für eine wirk­lich nach­hal­ti­ge Ent­wick­lung kri­ti­sche Gerech­tig­keits­fra­gen auf.
  • Wild­samm­lung ver­sus Anbau: 80% aller Heil­pflan­zen bei uns stam­men aus Wild­samm­lung, was zuneh­mend zu einem gefähr­li­chen glo­ba­len Raub­bau führt (“Über­nut­zung”). Dies erhöht die Abhän­gig­keit der Erzeu­ger­län­der von che­misch-phar­ma­zeu­ti­schen Pro­duk­ten der Indus­trie­staa­ten wei­ter. Kaum ein Anbau-Pro­dukt wie­der­um ist ent­spre­chend gän­gi­ger Bio-Nor­men zertifiziert.
  • Miss­brauch: Ein Groß­teil der rund 50.000 Ton­nen jähr­lich nach Deutsch­land impor­tier­ten Heil­pflan­zen wer­den allein aus Mar­ke­ting­grün­den miss­bräuch­lich ver­wen­det. Sei es als Kamil­le-getränk­tes Toi­let­ten­pa­pier, als Johan­nis­kraut-hal­ti­ge Kar­tof­fel­chips für den Fern­seh­abend oder als Aloe vera-ver­setz­te Haus­halts­rei­ni­ger. Dies ist ver­gleich­bar mit den von renom­mier­ten Kri­ti­kern beklag­ten “Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit”, wenn die in Hun­ger­re­gio­nen drin­gend benö­tig­te Nah­rungs­mit­tel als Bio­treib­stoff miss­braucht wer­den [10].
    Quel­le: Rai­ner H. Buben­zer, Heilpflanzen-Welt.de, 2010.

Mit freund­li­cher Geneh­mi­gung der Zeit­schrift Natura­med

Autor
• Rai­ner H. Buben­zer, (02/​​2011 Naturamed).
Quel­len
[1] Otte R: Thu­re von Uex­küll – Von der Psy­cho­so­ma­tik zur Inte­grier­ten Medi­zin. Van­den­hoeck u. Ruprecht, Göt­tin­gen, 2001.
[2] Scud­der JM: Eclec­tic Prac­ti­ce of Medi­ci­ne. Moo­re, Wil­stach, Keys, Cin­cin­na­ti, 1864 (Link:Google Books).
[3] Wala­ch H: ‘Inte­gra­ti­ve Medi­zin’ – die Kolo­nia­li­sie­rung des Ande­ren und die Not­wen­dig­keit des ganz Ande­ren. For­schen­de Kom­ple­men­tär­me­di­zin. 2010;17(1):4–6.
[4] 3. Euro­päi­scher Kon­gress für Inte­gra­ti­ve Medi­zin (ECIM), Ber­lin, 3.–4.12.2010. Ver­an­stal­ter: Insti­tut für Sozi­al­me­di­zin, Epi­de­mio­lo­gie und Gesund­heits­öko­no­mie, Cha­ri­té Uni­ver­si­täts­me­di­zin Berlin.
[5] NIKIM – natio­naal infor­ma­tie en ken­nis­cen­trum inte­gra­ti­ve medi­ci­ne, Ams­ter­dam (www.nikim.nl).
[6] Elking­ton J: Can­ni­bals with Forks – The Tri­ple Bot­tom Line of 21st Cen­tu­ry Busi­ness. New Socie­ty Publishers, Gabrio­la Island, 1998.
[7] 16. Kon­gress Armut und Gesund­heit, Ber­lin 3.–4.12.2010. Ver­an­stal­ter: Gesund­heit Ber­­lin-Bran­­den­­burg, Arbeits­ge­mein­schaft für Gesundheitsförderung.
[8] Fair­wild Foun­da­ti­on: Revi­sed Fair­Wild Stan­dard laun­ched. Wein­fel­den, Schweiz, 8.9.2010 (www.fairwild.org).
[9] Pled­ger MJ, Cum­ming JN, Bur­net­te M: Health ser­vice use among­st users of com­ple­men­ta­ry and alter­na­ti­ve medi­ci­ne. N Z Med J. 2010 Apr 9;123(1312):26–35.
[10] Lede­rer E: Pro­duc­tion of bio­fuels ‘is a crime’. The Inde­pen­dent, Lon­don, 27.10.2007 (Arti­kel).

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