… Die christliche Theologie (etwas sehr Seltenes, verglichen mit der Unzahl ihrer un- und antichristlichen, sich als christliche Theologie bezeichnenden Wechselbälger) setzt das Christliche vom Mosaischen, das Alttestamentarische vom Neutestamentarischen ab, obwohl sie weiß und betont, daß auf andere Weise beides wiederum zusammengehört. Für den Gegensatz mögen hier die Worte Gesetz und Gnade als Kennzeichnungen stehen, Grundbegriffe besonders der paulinischen Exegese. Vergegenwärtigen wir uns das, so zeigt sich, daß die Homöopathie (…) ins Neue Testament gehört, denn als Kunstheilung spendet sie Gnade, sie sagt mit ihrer Arznei gleichsam dem Kranken: „Deine Sünden sind dir vergeben!“ Paradoxerweise ist sie zu solcher Gnadenspendung befähigt, weil sie ein echtes Gesetz hat und handzuhaben weiß.
Im Gegensatz zu ihr gehört die Naturheilkunde ins Alte Testament. Sie kennt und wünscht keine Gnade, sondern Gesetzesbefolgung durch den Kranken. Hat die Homöopathie das Gesetz – ihr Simile-Gesetz –, und sie hat es wirklich, so glaubt die Naturheilkunde an einen Gesetzes-Plural, an die „Ordnungsgesetze des Lebens und der Gesundheit“, wie Bircher-Benner das in seinem extrem naturheilkundlichen Programmbuch schon von dessen Titel her formuliert. Krank wird, nach naturheilkundlicher Auffassung, wer gegen diese Gesetze „sündigt“. Gesund kann er nur werden, wenn er sich entsühnt und ihnen aufs neue gehorcht. Ein Dilemma ist dabei, daß die Zahl der 10 Gebote und der vielen Ritual- und Speisegesetze im Alten Testament noch eine bescheidene Zahl ist, gemessen an der, die die Naturheilkundler mit ihren Gesetzen vor den Kranken hinstellen. Ernährung nach Sonnenlichtwert der Stufe 1, 2 und 3, Einschlafen abends gegen 7 Uhr und Aufstehen gegen halb 2 Uhr, Gebiß-Sanierung, Kau- und Schluck-Rituale, intensive Bewegung, Dressur des Darms auf dreimal am Tage pünktlich erfolgende Entleerung –: das ist noch das Wenigste, obwohl man den halben Tag zu tun hat, um es gesetzestreu durchzuexerzieren, und obwohl man aus dem sozialen und kulturellen Leben fällt, wenn man es tut (man verschläft dann z. B. Theater, Vortragswesen und Gesprächsmöglichkeiten, was samt und sonders in die „Naturschlafzeit“ fällt). Aber damit nicht genug: Nach Bircher-Benner verstößt gegen die Naturgesetze, wer Pilze ißt, nach Steintel, wer sich von Brot ernährt, nach Waerland, wer Obst verzehrt, nach Ragnar-Berg, wer nicht einen Basenüberschuß des Mineralwertes der Nahrung errechnet und erzielt, nach Kollath, wer zu wenig Auxone abbekommt, nach von Kapff, wer den Säureüberschuß der Nahrung nicht errechnet und erzielt. In jedem Falle wird man krank, denn der Gott der Naturheilkunde ist ein eifriger Gott, der die Sünden der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied – auch wenn man die Sünden, da sich die Gesetze widersprechen, beim besten Willen nicht vermeiden kann. Man muß ihn durch strenge Befolgung der Gesetze, also durch Unmögliches, versöhnen, auf daß es einem wohlgehe und man lange lebe auf Erden.
Der Einklang mit den Naturgesetzen – durch deren Befolgung – gewährt nicht Gesundheit, wie es das mosaische Dogma der Naturheilkunde behauptet, sondern gewährt die Garantie der Nichterlangbarkeit sowohl dieses Einklangs als auch seiner prophezeiten Folgen. Durch das dem Gesetz (im Plural als Insgesamt der Gesetze verstanden) Gehorsamseinwollen wird man erst richtig „sündig“. Das Alte Testament Naturheilkunde unterscheidet sich vom mosaischen überdies noch dadurch, daß es nie einen Messias zu erwarten gestattet, weil dieser notwendig ein Kunstheiler wäre. Will kausal-spekulierende Schulmedizin kunstheilerisch an die causa morbi herankommen, so ist Naturheilkunde naiv-kausal eingestellt. Die Ursache des Erkrankens sieht sie im Nichtbefolgen der Gesetze, die Heilung interpretiert sie kausal, indem sie sie dadurch geschehen läßt, daß der Kranke durch Gehorsamsein ebenjenen zunächst von ihm verletzten Gesetzen gegenüber die Ursache seines Erkrankens aus der Welt schafft. Man kann aber nichts aus der Welt schaffen, man soll es gar nicht erst versuchen. Könnte man es, würde Gott zu Tode erkranken.
Mit einem Heiland kommt etwas großartig die Kausalität links Liegenlassendes in die Welt. Sein Auftreten – seine „frei schenkende Gnade“ – hebt die Gesetze auf: er „tut Wunder“, hebt aber vor allem den Gesetzesgehorsam in seiner ganzen Unmöglichkeit auf. Ein Heiland macht frei.
Naturheilkundliches Heilen dauert sehr lange. Darauf ist die Naturheilkunde auch noch stolz. Krankheit, sagt sie, habe sich langsam in den Organismus des Kranken – dadurch, daß die Naturgesetze nicht beachtet wurden – eingefressen, nun muß er‘s wieder „ausfressen“. Das Symbol dafür heißt Müsli: mittels Müsli und allem Drumherum wird man chronisch gesund.
Kunstheilung geht schnell: Gnade, welche nicht wie der Blitz einschlägt, ist Gnadengegeize, ein wahrhaft unmögliches Phänomen. Das Symbol der Gnade heißt in der Heilkunst Arznei, in der Kunst, Heil zu spenden, Sakrament. Homöopathische Globuli und konsekrierte Hostien stellen Entsprechungen dar, sind auf verschiedenen Ebenen dasselbe.
Der chronisch gesund Werdende der Naturheilkunde gelangt dahin, ein wohlfunktionierendes Zoon zu werden – und soweit der Mensch ein solches werden kann, kommen derartige Resultate tatsächlich zustande: Besiedler von Kokos-Inseln, Zugluft-Schläfer, freiwillige Muschiks, die ins Untermenschliche genesen und zur Strafe hundert Jahre alt werden. Sie leben ihr Leben nicht, sondern werden vom Leben gelebt. Tödlicher kann man nicht gesund sein. Es ließe sich von Pharisäern des Bios reden, wären die Pharisäer – die immerhin in der Nomenklatur des Heilands als „übertünchte Gräber“ vorkommen – nicht viel zu gott- und damit geistgerichtet, als daß sie einen solchen Vergleich vertrügen. Dennoch hat die Naturheilkunde das eine abscheulich Pharisäische: sie muß den Kranken beschuldigen. Sie reicht ihm keine Arznei, sondern ein Sündenregister.
Selbstverständlich ist der Kranke schuldig, aber während ein Heiland und auch ein Heiler die Schuld voraussetzen, woraufhin sie sie „vergeben“, muß die Naturheilkunde die Schuld detailliert aufzeigen gerade in der Situation, die Hilfe heischt. Daß es dabei außerdem noch zum Verlagern der wirklichen Schuld des Kranken kommt, zu ihrer verfehlten Projektion ins Biologische, macht das Malheur perfekt. Ein Bußprediger am Krankenbett ist ohnehin bereits ärgerlich, ein Bußprediger aber, der den Kranken nicht einmal in Richtung Sinai, sondern ins Sub-Sinaitische predigt, ahnt gar nicht, welch ein wohlmeinender Schädling er ist. Das Alte Testament soll man den Juden überlassen, bei ihnen hat es seinen „Ort“ und sie allein sind in der Lage, damit das Rechte anzufangen. Gerät es aber in Gesinnung und Handeln der Naturheilkundler – wobei Sakrales Surrogat wird –, dann entströmt ihm die Schwarze Magie, mit deren Hilfe Menschen auf Darwins Bäume geheilt werden können. Wer hier meinen mag, ich karikierte, der lese nur die stete Berufung der Naturheilkundler auf die Anthropoiden. Die Lösung des Heilproblems durch Nußknacken wird dem (vermeintlichen) Väterchen Schimpanse abgekauft, ein Linsengericht gegen das Erstgeburtsrecht. Man braucht nicht mehr krank zu werden, wenn besagtes Linsengericht – in welcher Form auch immer – die Stelle einnimmt, die dem geweihten Brot zukommt. Da das Erkranken zum Rang des Menschen gehört, ja ihn wesenhaft mitbestimmt, braucht man wirklich gar nicht mehr krank zu werden. Und infolgedessen braucht man auch nicht geheilt zu werden. Der Therapeut verschwindet aus der Eigenwelt des dem Gericht (dem Linsengericht) überantworteten. Von „Heilkunst als Weltmitte“ kann keine Rede mehr sein, statt Ecce homo! lautet der Wahlspruch: Ecce Dryopithecus!, auf Deutsch: „Welch prächtiger Affe!“
Da der Mensch – wie wir uns erinnern – gegen den Bios lebt, da die menschliche Spitzenform, der Genius, mit Recht als „bionegativ“ definiert wird, da die den Menschen wesensbestimmende Fähigkeit, dem Geist Verwirklichung zu ermöglichen, mit dem Abbau des Bios im Menschen einhergeht, muß der Therapeut erkennen: der Mensch wird bis ins Physiologische hinein krank, wenn er es unterläßt, sich diesem Abbau seines Bios auszusetzen um der Geistverpflichtungen willen. Derjenige Mensch allein ist hier gemeint, der sich im entelechalen Sog der Menschwerdung befindet, also der durch nichts anderes als eben dadurch bestimmbare wirkliche Mensch. Der in den Bios zurückgestopfte Mensch als das arme Stück Gesundheit, dem sich die Naturheilkunde – zielbewußt ihrem Unziel gewidmet – zuneigt, wird dieser Naturheilkunde dann unheimlich, wenn er z. B. an Krebs erkrankt. Krebs ist nämlich wuchernder Bios. Nichts erweist sich als so brutal gesund wie eine bösartige Geschwulst, welche überwältigend wuchert: wobei sie vor lauter urgesundem Bios-Wuchern den überwältigt, auf den es ankäme – den Menschen als Gestalt. Das Amorphe des blind wuchernden Bios, wie es sich in der gestaltvernichtenden bösartigen Geschwulst offenbart, wird immer tüchtiger bei seinem Zerstörungswerk, wenn man den Kranken im naturheilkundlichen Sinne biologisch-optimal ernährt. Deshalb haben sich als Krebs-Diät das Fasten und die Mangel-Kost – auch gerade im qualitativen Sinne – bewährt, während die Vollwert-Kost den erst einmal manifest gewordenen Krebs nährt statt den Kranken. …
Autor
• Herbert Fritsche.
Quelle
• Herbert Fritsche: Die Erhöhung der Schlange – Mysterium, Menschenbild und Mirakel der Homöopathie. Klett, Stuttgart, 1953 (S. 131–135) (bei Amazon kaufen, Wikipedia).
Bildnachweis
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weitere Infos
• Zur Homöopathizität des Fastens
• Aufgaben der Normalflora
• Wegwarte (Cichorium intybus): Monographie