Newton und andere Außenseiter

Der Wis­sen­schafts­his­to­ri­ker Feder­i­co di Troc­chio hat in sei­nem Buch New­tons Kof­fer aus­führ­lich geschil­dert, wie New­ton als Alche­mist gedacht hat [4]. Den Kof­fer hat es dabei tat­säch­lich gege­ben, er ist von dem gro­ßen Phy­si­ker bei sei­nem Tode hin­ter­las­sen wor­den. In dem Kof­fer befand sich, sehr zum Leid­we­sen von New­tons Enke­lin und Erbin Cathe­ri­ne Bar­ton, kein Geld, son­dern nur Papier, das nicht nur aus­führ­lich, son­dern selt­sam beschrie­ben war. New­ton hat­te in dem Kof­fer gro­ße Men­gen von Auf­zeich­nun­gen und Noti­zen hin­ter­las­sen, die ins­ge­samt 25 Mil­lio­nen Wör­ter umfassten.

Es dau­er­te zwar sehr lan­ge, bis sich jemand ernst­haft mit New­tons ver­pack­tem Ver­mächt­nis beschäf­tig­te, doch als dies soweit war, erkann­te man, daß nach dem Blick in den Kof­fer unser Bild von New­ton voll­stän­dig neu anzu­le­gen war. In den Manu­skrip­ten wim­mel­te es näm­lich von alche­mis­ti­schen Argu­men­ten und theo­lo­gi­schen Tex­ten, und im Grun­de muss man sagen, daß der wah­re New­ton weni­ger ein Mathe­ma­ti­ker und mehr ein Alche­mist und Theo­lo­ge war. Die For­mu­lie­rung der Phy­sik, die ihn für uns so berühmt macht, ist ihm qua­si als ein­fa­che Anwen­dung einer grund­le­gen­de­ren Idee gelun­gen. New­ton hat den Kern sei­ner wis­sen­schaft­li­chen Metho­de wahr­schein­lich vor allem des­halb aus­ge­ar­bei­tet, um die Spra­che der Hei­li­gen Schrift, beson­ders der Apo­ka­lyp­se, zu interpretieren:

“New­ton war über­zeugt, daß es nur eine Wahr­heit gibt und Gewiss­heit nur auf einem Weg zu erlan­gen ist: durch die Beherr­schung der Bild­spra­che der Pro­phe­zei­un­gen. Er fand den Schlüs­sel zu die­ser Spra­che in 70 Defi­ni­tio­nen und 16 Regeln, die er […] aus einem Logik­hand­buch von Robert San­der­son über­nahm, das er als Stu­dent gele­sen hat­te. Die wis­sen­schaft­li­che Metho­de, die in der Phy­sik ver­wen­det wird, ist nichts ande­res als eine Ver­ein­fa­chung und Reduk­ti­on die­ser Regeln, weil die Welt der Phy­sik für New­ton den am leich­tes­ten zu begrei­fen­den Aspekt der Rea­li­tät dar­stell­te. Kom­pli­zier­ter dage­gen war die Che­mie, wo sei­ner Mei­nung nach eine direk­te­re Ver­wen­dung der Bild- und Sym­bol­spra­che der Pro­phe­ten erfor­der­lich war.”

Für die­se Deu­tung di Troc­chi­os ist die Tat­sa­che nicht uner­heb­lich, daß New­ton sei­ne für die moder­ne Phy­sik grund­le­gen­den Prin­ci­pia mathe­ma­ti­ca erst geschrie­ben hat, nach­dem er Jah­re als Magi­er, Alche­mist und Theo­lo­ge ver­bracht hat­te. Und an die­ser Stel­le darf ein­mal spe­ku­liert wer­den, daß wir uns jeden Wis­sen­schaft­ler damit beschäf­tigt den­ken müs­sen, einen ent­spre­chen­den Kof­fer zu packen – und sei es nur im Kopf.

Sol­che Kof­fer spie­len solan­ge kei­ne Rol­le, solan­ge sie ver­schlos­sen blei­ben und ihr Inhalt nicht ver­öf­fent­licht wird. Schwie­rig wird es, wenn Wis­sen­schaft­ler es anders als New­ton hal­ten und ihre hin­ter­grün­di­gen Gedan­ken­spie­le­rei­en zur Dis­kus­si­on stel­len, mit denen sie die eta­blier­te For­schung in Schwie­rig­kei­ten brin­gen kön­nen. Was hät­te die Wis­sen­schaft des 18. und 19. Jahr­hun­derts denn zu New­tons alche­mis­ti­schen Ansich­ten sagen sol­len? Wie hät­ten sie mit ihren akzep­tier­ten Metho­den und ein­sich­ti­gen Gedan­ken etwas dafür oder dage­gen vor­brin­gen sollen?

Heu­te kön­nen wir uns aus wei­ter his­to­ri­scher Distanz rela­tiv risi­ko­los mit New­tons “unphy­si­ka­li­schen” Bemü­hun­gen beschäf­ti­gen. Wir kön­nen sei­ne alche­mis­ti­schen Ver­su­che als unver­ständ­li­che Spie­le­rei abtun, ohne ernst­haft zu über­le­gen, an wel­cher Stel­le das auf­hört, was wis­sen­schaft­lich ist, und das beginnt, was nicht mehr dazu gerech­net wer­den kann. Eine genaue Unter­schei­dung scheint in kei­ner Gegen­wart mög­lich zu sein, bes­ten­falls kann ein His­to­ri­ker nach­träg­lich bestim­men, ob ein Pro­blem in einem gege­be­nen Moment der Wis­sen­schafts­ge­schich­te wis­sen­schaft­lich behan­del­bar gewor­den war oder nicht: “In jeder Epo­che gibt es Pro­ble­me, die nicht wis­sen­schaft­lich behan­delt wer­den kön­nen und folg­lich unent­scheid­bar sind. In die­sen Fäl­len müs­sen sich die Wis­sen­schaft­ler vor jeder Art von Urteil hüten und sich dar­auf beschrän­ken, die Gren­zen ihrer eige­nen Kom­pe­tenz zu prä­zi­sie­ren.” [5]

Dies gilt natür­lich auch für unse­re Zeit, und was den ita­lie­ni­schen His­to­ri­ker de Troc­chio in die­sem Zusam­men­hang ärgert, ist die Tat­sa­che, daß heu­ti­ger Berühmt­hei­ten aus die­sem Rah­men aus­bre­chen und oft leicht­fer­tig all­zu star­ke Behaup­tun­gen auf­stel­len. Er ver­weist zum Bei­spiel auf Ste­phen Haw­king, der behaup­tet, die Phy­sik ste­he kurz davor, eine all­um­fas­sen­de Theo­rie des Kos­mos zu for­mu­lie­ren. Damit machen Haw­king und sei­ne Kol­le­gen aber nur deut­lich, daß sie noch nicht ver­stan­den haben, “daß ihre eige­ne immer nur die vor­letz­te Ver­si­on der Wahr­heit ist”, wie der Schrift­stel­ler Jor­ge Luis Bor­ges es aus­drü­cken wür­de. Tat­säch­lich nei­gen vie­le For­scher heu­te wie­der ger­ne dazu, sich “den Man­tel des Magi­ers und die Sto­la des Pries­ters” anzu­zie­hen, um den Wahr­hei­ten, die sie ver­kün­den, den Schein tota­ler und end­gül­ti­ger Sicher­heit zu geben. Wir soll­ten sie nicht zu ernst neh­men und statt des­sen fra­gen, was sie in ihrem Kof­fer haben.

Die Traum­sym­bo­le

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