Es wird ein Mensch gemacht

Der Vor­schlag, Goe­thes Faust als alche­mis­ti­sches Dra­ma zu lesen, stammt ursprüng­lich von dem Psy­cho­lo­gen C. G. Jung, der im ers­ten Teil die Ver­wand­lung von Faust durch den Hexen­trank – mit der für den Ver­lauf der Tra­gö­die nöti­gen Wie­der­her­stel­lung der gelehr­ten Man­nes­kraft – und im zwei­ten Teil die Ver­wand­lung von wert­lo­sem Papier in wert­vol­les Geld – mit der Wie­der­her­stel­lung der Kauf­kraft – als wesent­li­che Punk­te der Hand­lung aus­mach­te. Im zwei­ten Teil des “Faust” taucht aber noch ein wei­te­res alche­mis­ti­sches Meis­ter­stück auf, und zwar im zwei­ten Akt, wenn “ein Mensch gemacht” wird. So nennt ein Dr. Wag­ner das, was er in sei­nem Labo­ra­to­ri­um ver­sucht, als Mephis­to und Faust vor­bei­schau­en. Der Wis­sen­schaft­ler Wag­ner ver­wen­det die damals tra­di­tio­nel­len Metho­den der Alche­mie; auf Nach­fra­ge erläu­tert er, wie er kon­kret im tech­ni­schen Detail vorgeht:

“Den Men­schen­stoff gemäch­lich komponieren.
In sei­nen Kol­ben verlutieren,
Und ihn gehö­rig kohobieren,
So ist das Werk im Stil­len abgetan.”

Nie­mand braucht die über­hol­ten Ver­fah­ren der Alche­mis­ten im Ein­zel­nen zu ken­nen, die uns unter vie­len Selt­sam­kei­ten min­des­tens einen bis heu­te ergie­bi­gen und zum all­ge­mei­nen Wohl­ge­fal­len genutz­ten Pro­zess hin­ter­las­sen haben, und zwar den der Destil­la­ti­on. Was damals “ver­lu­tie­ren” und “koho­bie­ren” hieß und gewiss kom­pli­ziert zu hand­ha­ben war, nen­nen wir heu­te viel­leicht “chro­ma­to­gra­phie­ren” und “sequen­zie­ren”, und nie­mand kann sagen, wann wie­der­um die­se Wör­ter und die damit bezeich­ne­ten tech­ni­schen Vor­ge­hens­wei­sen in Ver­ges­sen­heit gera­ten wer­den. Sehr bekannt war zur Goe­the­zeit der Arbeits­gang der “Putre­fac­tio”, womit auf die Ver­we­sung bzw. die Fäul­nis von modern­den Kör­pern bzw. orga­ni­schen Stof­fen hin­ge­wie­sen wur­de. In die­sem Vor­gang sah man viel­fach die Tren­nung von Geist und Kör­per, wobei letz­te­rer als Rück­stand in der Retor­te verbleibt.

Die als Putre­f­ak­ti­on bezeich­ne­te Schei­dung bzw. Läu­te­rung steht im Zen­trum einer Anwei­sung zur Her­stel­lung von “chy­mi­schen Men­schen”, die auf Para­cel­sus zurück­geht und in einer Schrift von 1666 aus­ge­führt wird, die Goe­the vor­lag. Der Autor, ein gewis­ser J. Prae­to­ri­us, gibt ganz all­ge­mein für die Umwand­lung fol­gen­de Anwei­sung: “Ste­te feuch­te wer­me brin­get putre­fa­cio­nem und trans­mu­tiert alle natür­li­che ding”, unter ande­rem den Men­schen. Es ist nun auf­schluss­reich, daß Goe­the lan­ge den Gedan­ken in sich getra­gen hat, das alche­mis­ti­sche Expe­ri­ment gelin­gen und ein “che­misch Mensch­lein” auf die Büh­ne tre­ten zu las­sen. Es soll dies “als wohl­be­weg­li­ches Zwerg­lein” tun, nach­dem es den Glas­kol­ben zer­sprengt hat, in dem es erzeugt (und nicht gezeugt) wor­den ist. An die­sem Plan hat Goe­the min­des­tens bis 1826 fest­ge­hal­ten, und die Fra­ge stellt sich, war­um der Homun­cu­lus in der end­gül­ti­gen Text­fas­sung von 1829 in der Phio­le ste­cken­bleibt und erst noch erkun­den muss, “wie man ent­stehn und sich ver­wan­deln kann”.

Die Ant­wort hat mit einer berühm­ten und maß­geb­li­chen Ent­wick­lung in der Natur­wis­sen­schaft zu tun, über die Goe­the genau infor­miert war (Neben­bei gesagt ver­füg­te er über ein gro­ßes Netz von Kor­re­spon­den­ten, die ihm zuar­bei­te­ten; heu­te wür­de Goe­the das Inter­net nut­zen.). 1828 ist dem Che­mi­ker Fried­rich Wöh­ler ein Expe­ri­ment gelun­gen, wodurch er im Reagenz­glas einen Stoff her­stel­len konn­te, der sonst nur in leben­den Kör­pern bzw. in deren Orga­nen zu fin­den war und des­sen Ent­ste­hung eigent­lich auch nur da mög­lich sein soll­te. Gemeint ist die Syn­the­se von Harn­stoff, und zwar ohne Hil­fe einer Nie­re, nur mit ein wenig Wär­me und einem anor­ga­ni­schen Aus­gangs­ma­te­ri­al. Nach­dem er von die­ser wun­der­sa­me Her­stel­lung eines orga­ni­schen Stof­fes aus anor­ga­ni­schen Vor­stu­fen erfah­ren hat­te, wand­te Goe­the sei­nen Blick von der alten Alche­mie weg und zur neu­en Che­mie hin, die im 18. Jahr­hun­dert ers­te sou­ve­rä­ne Schrit­te unter­nahm. Die Schei­dung zwi­schen Che­mie und Alche­mie, die sich zunächst noch als die wür­di­ge­re und erha­be­ne­re Form der Stoff­ver­wand­lung betrach­te­te, lässt sich ziem­lich genau datie­ren. 1753 trägt Dide­rot in sei­ner Ency­klo­pé­die bei­de Stich­wor­te ein und unter­schei­det sie gründ­lich: “alchi­mie” [d] ist jetzt nur noch die Kunst, Metal­le zu schmel­zen und zu wan­deln, wäh­rend “chi­mie” die Leh­re von den Prin­zi­pi­en ist, nach denen sich Sub­stan­zen tren­nen und ver­bin­den (ver­ei­nen) lassen.

In die­se Zeit fällt auch die ers­te Groß­tat der Che­mi­ker, die stark zum Selbst­be­wusst­sein der neu­en Dis­zi­plin bei­trägt. Ihnen gelingt die Her­stel­lung eines belieb­ten und viel ver­wen­de­ten Stof­fes, der bis dahin von sehr weit her (etwa von Ägyp­ten) ein­ge­führt wer­den muss­te. Gemeint ist Soda, das Che­mi­ker als Natri­um­kar­bo­nat bzw. als koh­len­saures Natri­um ken­nen und das bis heu­te als Aus­gangs­sub­stanz für die Her­stel­lung von Wasch- und Rei­ni­gungs­mit­teln ver­wen­det wird. Die Syn­the­se von Soda gelingt erst im klei­nen Maß­stab – im Reagenz­glas – und bald in Rie­sen­men­gen, so daß der begehr­te Stoff plötz­lich in neu­er Form erscheint – näm­lich bil­li­ger, bes­ser und selbst gemacht. Mit Wöh­lers Harn­stoff­syn­the­se taucht gegen Ende von Goe­thes Leben der Gedan­ke auf, daß nicht nur die anor­ga­ni­schen, son­dern alle Stof­fe und auch die der Natur den Che­mi­ker zugäng­lich sind und von ihnen her­ge­stellt und dann auch ange­bo­ten und ver­kauft wer­den kön­nen. Tat­säch­lich nimmt im 19. Jahr­hun­derts die Zahl der künst­lich her­stell­ba­ren Sub­stan­zen der­art rasch zu, daß eine che­mi­sche Indus­trie ent­steht, die in den fol­gen­den Jahr­zehn­ten umfas­sen­de gesell­schaft­li­che und poli­ti­sche Fol­gen zei­tigt (wobei die­se von His­to­ri­kern meist nur am Ran­de zur Kennt­nis genom­men und so gut wie nie in den Schul­bü­chern erwähnt wer­den und damit unbe­kannt bleiben).

Die Ent­wick­lung der auf wis­sen­schaft­li­cher Grund­la­ge ste­hen­den Indus­trie beginnt nach Goe­the. Er spürt jedoch, daß die Ver­su­che der Alche­mie den Erfol­gen der Che­mie wei­chen. Goe­the ver­zich­tet also dar­auf, einen Men­schen aus der Retor­te stei­gen zu las­sen, auch des­halb, weil er sich ins­ge­samt den Vor­stel­lun­gen der dama­li­gen Natur­for­scher anschließt, die – noch bevor die Idee der Evo­lu­ti­on wei­te Ver­brei­tung fin­det – den Ursprung des Lebens ins Meer legen und anneh­men, daß die Rei­he der Orga­nis­men von den Anfän­ge bis zur Gegen­wart sehr lang ist und es lan­ge dau­ert, bevor sie beim Men­schen ankommt. “Bis zum Men­schen hast du Zeit”, heißt es im Faust, wobei man sich fragt, ob die­se Frist über­haupt schon abge­lau­fen ist und wir nicht eher die Zwi­schen­stu­fe auf dem Weg dort­hin sind.

Im Schat­ten­reich der Wissenschaft

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