2008/​3: Wildkräuter statt Unkraut

Anja Con­rad

Die Stif­tung Natur­schutz Ber­lin ver­an­stal­tet ein­mal im Jahr den “Lan­gen Tag der StadtNatur.de” (sie­he Kas­ten). Initia­ti­ven, Pri­vat­leu­te und Behör­den bie­ten inter­es­san­te oder über­ra­schen­de Ein­bli­cke in die “Natur-Schau­plät­ze” der Stadt. Denn die grü­ne Metro­po­le bie­tet über­all Nischen oder unver­mu­te­te Plät­ze, wo Tie­re und Pflan­zen Raum zum Über­le­ben fin­den. Das Son­nen­haus, ein natur­päd­ago­gi­sches Kin­der- und Jugend­zen­trum in Ber­lin-Zehlen­dorf, hat auch ein­ge­la­den. Mot­to der Ver­an­stal­tung: “Wild­kräu­ter statt Unkraut. Ver­kann­te Wild­kräu­ter neu entdecken”.

Eine Grup­pe von zwan­zig Leu­ten hat sich ein­ge­fun­den. Die bei­den Ver­an­stal­te­rin­nen Anja Con­rad und Danie­la Gros­set sind von die­sem Ansturm über­rascht. “Mit so gro­ßem Inter­es­se haben wir nicht gerech­net”, sagt Con­rad zur Begrü­ßung und führt die Grup­pe in den Gar­ten. Der liegt im abge­grenz­ten Teil des Son­nen­haus-Gelän­des hin­ter hohen Blu­men­bee­ten. Die bei­den Päd­ago­gin­nen laden zu Erfri­schungs­ge­trän­ken und einer Begrü­ßungs­run­de ein. Wobei sie auch inter­es­siert, was ihre Besu­cher so zahl­reich her­ge­führt hat. Es stellt sich her­aus, dass die Moti­ve so bunt und viel­fäl­tig sind wie die Grup­pe selbst: Eine jun­ge Japa­ne­rin erklärt bei­spiels­wei­se, dass sie ger­ne etwas über deut­sche Wild­kräu­ter wis­sen möch­te. Eine Köchin ist gekom­men, weil sie ihre Kennt­nis­se über Wild­kräu­ter erwei­tern will und hofft, Neu­es zu ent­de­cken. Und ein Ehe­paar erzählt, dass ihnen die Nut­zung von Wild­kräu­tern zwar bekannt ist, gleich­zei­tig jedoch zuviel Unsi­cher­heit besteht, die­se tat­säch­lich zu nut­zen. Eini­ge der Grup­pe haben gar kei­ne Vor­kennt­nis­se und sind ein­fach nur aus Neu­gier­de gekom­men, ande­re hin­ge­gen ver­fü­gen über Hin­ter­grund­wis­sen über Heil- als auch Wildpflanzen.

Fundiertes Kräuterwissen

Bor­retsch (Bora­go Offi­ci­na­lis)

Das zeigt sich dann gleich beim anschlie­ßen­den Gar­ten­rund­gang. Als die Grup­pe vor einer schön ange­leg­ten Kräu­ter­spi­ra­le ste­hen bleibt und Con­rad nach den Pflan­zen fragt, bekommt sie prom­te Ant­wor­ten: Bor­retsch (Bora­go Offi­ci­na­lis), Thy­mi­an (Thy­mus vul­ga­ris), Ore­ga­no (Ori­ga­num vul­ga­re L.), Peter­si­lie (Petro­se­li­ni her­ba), Mal­ven (Mal­vae foli­um), Rin­gel­blu­men (Cal­en­du­lae), Wald­meis­ter (Galii odo­ra­ti her­ba), Fen­chel (Foe­ni­cu­lum vul­ga­re) und Frau­en­man­tel (Alche­mil­la). Nur beim Eisen­kraut (Ver­be­na offi­ci­na­lis) besteht eine kur­ze Unsi­cher­heit. Auch die Ver­wen­dung der Kräu­ter und Heil­pflan­zen ist vie­len bekannt, denn sofort wer­den leb­haft Rezep­te aus­ge­tauscht. Selbst unge­wöhn­li­che Ver­wen­dun­gen wer­den in die Run­de gege­ben – als eine jun­ge Frau bei­spiels­wei­se erklärt, dass Ore­ga­no gut bei Lie­bes­kum­mer sei, ern­tet sie wohl­wol­len­des Gelächter.

Schulunterricht im Garten

Eisen­kraut (Ver­be­na offi­ci­na­lis)

Neben der Kräu­ter­spi­ra­le sind im Gar­ten grö­ße­re Bee­te mit ver­schie­de­nen Nutz­pflan­zen ange­legt: Her­vor­ra­gend ste­hen Kar­tof­feln, Mais, Kür­bis­se und auch Zuc­chi­nis. Es gibt ein klei­nes Erd­beer­beet, eben­so Stan­gen­boh­nen. Gros­set erklärt das Kon­zept des natur­päd­ago­gi­schen Zen­trums: “Bei uns kön­nen Groß­stadt­kin­der Jah­res­zei­ten mit­er­le­ben, indem sie die Zyklen vom Aus­sä­en bis zum Ern­ten beglei­ten”, sagt sie. “Und so ler­nen Kin­der, dass Mais nicht nur aus der Dose kommt”, ergänzt Con­rad. Gegen­wär­tig arbei­tet das Son­nen­haus mit vier Grund­schul­klas­sen zusam­men. Die Schul­kin­der kom­men regel­mäs­sig, um das Wach­sen der von ihnen gesä­ten Pflan­zen zu ver­fol­gen, und um sich zum Bei­spiel um das Wäs­sern oder Unkraut jäten zu kümmern.

“Bei uns wer­den Maul­wür­fe mit Holun­der­sud (Kas­ten) ver­trie­ben oder Schne­cken abge­sam­melt und auf einer Wie­se wie­der aus­ge­setzt”, erzählt Con­rad lachend. Am Ende des Jah­res wird dann das Ein­brin­gen der Früch­te gefei­ert. “Eini­ge Früch­te wer­den dann auch gleich ver­ar­bei­tet. Es ist jedes Mal etwas Beson­de­res, wenn Kin­der ihren eige­nen Mais oder Kar­tof­feln essen”, erzählt Con­rad. Mit die­ser Arbeit, so ist sie über­zeugt, kann Kin­dern eine Wert­schät­zung gegen­über Obst und Gemü­se bei­gebracht wer­den. Denn wer im über Mona­te hin­weg mit­er­lebt, wie lan­ge Pflan­zen zum Wach­sen, Anset­zen von Früch­ten und dem Aus­rei­fen brau­chen, lernt Nah­rungs­mit­tel anders schätzen.

Holundersud gegen Maulwürfe:

Meh­re­re Zwei­ge des Holun­der­bu­sches abschnei­den, von den Blät­tern ent­fer­nen. Die Zwei­ge in einen gro­ßen Topf “schnip­seln” und mit Was­ser auf­fül­len. Die Zwei­ge eine Stun­de lang aus­ko­chen las­sen. Je mehr Zwei­ge des­to kon­zen­trier­ter wird der Sud. Abküh­len las­sen und danach in die Maul­wurf­gän­ge gießen.

Wildkräuter am Wegesrand

Um ihrem tat­säch­li­chen Ange­bot, näm­lich das Sam­meln von Wild­kräu­tern gerecht zu wer­den, tei­len die Päd­ago­gin­nen die Grup­pe. Ein Teil berei­tet eine anti­al­ko­ho­li­sche Bow­le aus dem Wald­meis­ter (Rezept) des Gar­tens zu. Der ande­re Teil sucht auf der Wie­se nach Wild­kräu­tern, um dann dar­aus einen Wild­kräu­ter-Quark zu machen. Der grö­ße­re Teil der Grup­pe begibt sich mit Gros­set auf eine nahe­ge­le­ge­ne Wie­se. Schnell zeigt sich jedoch, dass das Wild­kräu­ter­sam­meln gar nicht so ein­fach ist. Denn durch die lan­ge und heis­se Tro­cken­pe­ri­ode des dies­jäh­ri­gen Früh­som­mers ist vie­les ver­trock­net oder sehr spär­lich vor­han­den. Nur die unver­wüst­li­chen Wild­kräu­ter wie Brenn­nes­seln (Urti­ca), Giersch (Aego­po­di­um podagra­ria), Löwen­zahn (Tar­a­xa­cum) oder Spitz­we­ge­rich (Tar­a­xa­cum Plant­ago lan­ceo­la­ta) sind auf Anhieb und zu fin­den. Von die­sen Pflan­zen sam­melt Gros­set jun­ge Blät­ter. Denn sonst wird es aus dem Wild­kräu­ter-Quark nichts, befürch­tet sie. Dann ent­deckt sie noch ein klei­nes Pflänz­chen, das vie­le noch nicht ken­nen: Gun­der­mann (Gle­cho­mae hederaceae her­ba). Ein Stän­gel­chen mit zart lila­n­er Blü­te wird der Wild­kräu­ter-Blatt­samm­lung noch hinzugefügt.

Marmeladen, Tees und Schnaps

Wal­nuss (Jaglans regia)

Wäh­rend die Grup­pen­mit­glie­der nach Wild­kräu­tern Aus­schau hal­ten, wird auch über die hei­len­de Wir­kung von eini­gen Wild­pflan­zen gefach­sim­pelt: Zum Bei­spiel die Brom­bee­ren (Rubus Fru­ti­co­sus), die am Weges­rand ste­hen: Ihre grü­nen Bee­ren eig­nen sich noch nicht zum Pflü­cken. Doch die dunk­len Blät­ter wür­den sich getrock­net zu einem lecke­ren Brom­beer­blät­ter­tee eig­nen (Rezept). Die meis­ten Frau­en der Grup­pe haben Erfah­run­gen mit dem Ein­ko­chen von Brom­beer- (Rezept) oder Schle­hen­ge­lee (Rezept). Sie scheu­en also nicht nur das Sam­meln, son­dern auch nicht die zeit- und arbeits­in­ten­si­ve Ver­ar­bei­tung. Man­che Frau­en berich­ten auch davon, dass ihre Arbeit nicht nur erfolgs­ge­krönt ist: Den Meis­ten sind Mar­me­la­de oder der Ansatz eines Likörs auch ein­mal miss­lun­gen. Als die Grup­pe vor eini­gen Wal­nuss-Bäu­men (Jaglans regia) ste­hen bleibt, erzählt das Ehe­paar von ihrem all­jähr­li­chen Anset­zen eines Wal­nuss-Ver­dau­ungs­schnap­ses (Rezept). Das über­lie­fer­te Rezept stammt aus ihrer Fami­lie und gelingt nicht jedes Jahr gleich gut. “Zum Weih­nachts­fest öff­nen wir die ers­te Fla­sche und wis­sen dann erst, ob der Likör brauch­bar ist oder nicht. Wenn der Wal­nuss-Likör gelun­gen ist, haben wir einen äußerst lecke­ren Ver­dau­ungs­schnaps für den Gän­se­bra­ten”, sagt die Frau. Und fügt hin­zu, dass der Schnaps auch ein gern gese­he­nes Geschenk bei den Ver­wand­ten ist.

Kostproben

Da sich trotz des Suchens kei­ne wei­te­re Wild­kräu­ter fin­den las­sen, kehrt die Grup­pe zurück. In der Küche eines geräu­mi­gen Block­hau­ses, das auf dem Son­nen­haus-Gelän­de steht, wird der Quark zube­rei­tet. Dazu wer­den alle Wild­kräu­ter gewa­schen, klein­ge­schnit­ten und mit Quark, Joghurt, Zwie­beln, Knob­lauch und den Wild­kräu­ter ver­rührt. Dann wer­den noch zwei Baguetts in klei­ne Schei­ben geschnit­ten und schon ist der Wild­kräu­ter-Quark fer­tig. Die ande­re Grup­pe hat die Wald­meis­ter­bow­le längst ange­setzt. Zuletzt wer­den drau­ßen im Gar­ten unter schat­ti­gen Bäu­men Stüh­le und Tische zusam­men­ge­tra­gen, um die Ver­an­stal­tung mit einer Kost­pro­be des Quarks und der Bow­le zu beschlies­sen. Der Quark ist frisch und lecker, befin­den alle. Die Wild­kräu­ter geben dem Gan­zen einen inter­es­sant kräf­ti­gen, wür­zi­gen Geschmack. Die Bow­le hat jedoch noch nicht genü­gend Zeit zum Durch­zie­hen bekom­men. Denn der Wald­meis­ter­ge­schmack kommt noch nicht zur Gel­tung, fin­den die meis­ten. Auch zwei Kin­der des Son­nen­hau­ses haben sich neu­gie­rig zur Grup­pe gesellt und pro­bie­ren die Resul­ta­te. Beim Quark lan­gen sie ordent­lich zu. Doch die Bow­le will ihnen nicht so zusa­gen. Höf­lich sagt der eine auf die Nach­fra­ge, wie es ihm denn schmeckt: “Es geht,” und greift dann doch lie­ber zum puren Apfelsaft.

Pro­jekt Son­nen­haus: Neben der Pro­jekt­ar­beit mit Schul­klas­sen bie­tet das Son­nen­haus viel­sei­ti­ge Frei­zeit­an­ge­bo­te für Kin­der, Jugend­li­che und Fami­li­en an. Denn das Gelän­de des Son­nen­hau­ses bie­tet mehr als nur den beschrie­be­nen Gar­ten: Es gibt viel Platz zum Spie­len – außer­dem noch ein Tier­ge­he­ge mit Kanin­chen und Hüh­nern, einen klei­nen Teich und ein Baum­haus. Eine ange­schlos­se­ne Werk­statt schafft zusätz­li­che Mög­lich­kei­ten – unter ande­rem das Aus­pro­bie­ren hand­werk­li­cher Fähig­kei­ten. Wer mag kann sich regel­mäs­si­gen Akti­vi­tä­ten an unter­schied­li­chen Nach­mit­ta­gen der Woche anschlie­ßen: Grup­pen­lei­te­rin­nen haben dazu Pro­jek­te mit öko­lo­gi­schen, künst­le­ri­schen oder hand­werk­li­chen Schwer­punk­ten ent­wi­ckelt – unter ande­rem geht es um Tier- und Gar­ten­pfle­ge, Kochen (gesun­de Küche), Tan­zen, Thea­ter oder Bau­en (Ent­wick­lung hand­werk­li­cher Fähig­kei­ten). Seit kur­zem wur­de zusätz­lich ein Semi­nar­haus eröff­net das Päd­ago­gen, Künst­lern und ande­ren Inter­es­sier­ten für Pro­jek­te oder Semi­na­re unter­schied­lichs­ter Art zur Ver­fü­gung steht.

Das Son­nen­haus ist ein Pro­jekt der Deut­schen Schre­ber­ju­gend Lan­des­ver­band Ber­lin e.V. Es fei­ert in die­sem Jahr sein 30jähriges Bestehen. Zur gro­ßen Jubi­lä­ums­par­ty am 26.9.2008 sind alle Inter­es­sier­ten herz­lich ein­ge­la­den (mehr Infos unter www.dassonnenhaus.de).

Die Stif­tung Natur­schutz Ber­lin orga­ni­siert all­jähr­lich unter dem Mot­to “Lan­ger TAG der StadtNatur.de” hun­der­te von Ver­an­stal­tun­gen in Ber­lin. Die Bür­ge­rIn­nen bekom­men dabei die Gele­gen­heit, die “Natur­räu­me” der Stadt ein­mal anders ken­nen zu ler­nen: In Parks, Fried­hö­fen, still­ge­leg­ten Bahn­ge­län­den oder auch im Wald bie­ten Fach­leu­te (Orni­tho­lo­gen, Bio­lo­gen, Ernäh­rungs­be­ra­ter), Stadt­in­itia­ti­ven oder Pri­vat­leu­te (Gärt­ner, Kräu­­ter- oder Pilz­kun­di­ge) Ver­an­stal­tun­gen an. So kön­nen zum Bei­spiel die Gär­ten einer Pri­vat­in­itia­ti­ve inmit­ten des Häu­ser­mee­res bestaunt wer­den, die sich zu einem klei­nen grü­nen Para­dies ent­wi­ckel­ten. Gemein­sam mit Orni­tho­lo­gen wer­den die Kaprio­len der Mau­er­seg­ler bewun­dert oder in nächt­li­cher Wan­de­rung die Wild­schwei­ne bei ihren Nacht­ak­ti­vi­tä­ten auf­ge­stö­bert. Für jeden Geschmack und für jede Alters­grup­pe ist etwas Inter­es­san­tes dabei. Infor­ma­tio­nen unter: www.langertagderstadtnatur.de

Autorin
• Mari­on Kaden, Heil­pflan­­zen-Welt (2008).

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